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Griechische Schulden und deutsche Verantwortung

Athen appelliert an die historische Verantwortung und den politischen Weitblick der Bundesregierung. Warum prallt das an Merkel und Schäuble ab?

Im dramatischen Ringen um neue Kredite und Konditionen für Griechenland ging eine Botschaft beinahe unter, die der griechische Finanzminister Giannis Varoufakis auf seiner Verhandlungstour speziell für die Deutschen mitgebracht hatte. Er glaube, sagte er in einem Interview [1], "dass die EU davon profitieren würde, wenn Deutschland sich als Hegemon verstünde. Aber ein Hegemon muss Verantwortung übernehmen für andere." Nach dem Vorbild des Marshallplans nach dem Zweiten Weltkrieg solle die Bundesrepublik als mächtigstes Land Europas heute einen "Merkelplan" auflegen.

Griechische Flagge am Akropolisfelsen. Foto: Wassilis Aswestopoulos

In seinem Blog hatte Varoufakis schon vor Jahren argumentiert, dass Deutschland sich wandeln müsse, damit Krisenländer wie Griechenland wieder auf die Beine kommen können. Die Zeit sei reif, schrieb [2] er 2013, "für einen Gestaltwandel von einem autoritären zu einem hegemonialen Deutschland".

Seit Beginn der Eurokrise taucht diese Forderung, die Bundesrepublik solle sich als europäischer Hegemon verstehen und dementsprechend handeln, in Europa und in den USA immer wieder auf - aus den unterschiedlichsten politischen Richtungen. In deutlich schrofferen Worten hat einmal der US-Milliardär und Hedgefonds-Inhaber George Soros die Deutschen an ihre historische Verantwortung erinnert. Berlin, schrieb [3] er, solle Europa endlich als "gütiger Hegemon" führen, oder aus dem Euro austreten ("lead or leave").

Der Schuldenerlass - ein Wendepunkt in der deutschen Geschichte

Das Modell des "gütigen Hegemons", das offenbar auch Varoufakis vorschwebt, bezieht sich auf die Rolle der USA nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit dem Marshallplan haben die Amerikaner damals den Wiederaufbau Westeuropas großzügig unterstützt. Zweifellos verfolgten sie dabei eigene Interessen. Im Zeichen des beginnenden Kalten Krieges wollten sie in Westeuropa stabile, westlich orientierte Staaten etablieren. Deren wirtschaftliche Erholung war auch im Sinne der "Wiederbelebung einer funktionierenden Weltwirtschaft", so der damalige US-Außenminister George Marshall. Die USA verfolgten also ihre eigenen strategischen Ziele, indem sie finanziell großzügig agierten und dadurch ihren Partnern halfen, wieder auf die Beine zu kommen.

In besonderem Maße konnte der damalige "Frontstaat" BRD von dieser Politik profitieren. Auf der Londoner Schuldenkonferenz von 1953 setzte sich die US-Regierung mit großem Engagement für einen Erlass der deutschen Schulden ein. Die Amerikaner stellten damals ihrerseits eine deutliche Herabsetzung der deutschen Nachkriegsschulden in Aussicht, vorausgesetzt wurde, dass die anderen Gläubiger mitziehen. Am Ende wurde nicht nur die Hälfte der deutschen Schulden gestrichen. Der zu leistende Schuldendienst wurde derart an die Exportüberschüsse gekoppelt, dass nicht mehr als drei Prozent der westdeutschen Ausfuhrerlöse an die Gläubiger gingen. Zudem öffneten die USA ihre Märkte für deutsche Produkte.

Der Londoner Schuldenerlass sollte sich als entscheidender Wendepunkt in der deutschen Geschichte erweisen. Ohne ihn hätte die BRD ihr legendäres "Wirtschaftswunder" in den 1950er und 1960er Jahren mit Sicherheit nicht erlebt. Er war eine Grundlage für den wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands zum reichsten Land Europas. Seit den internationalen Schuldenkrisen der 1980er und 1990er Jahre ist immer wieder an diesen historischen Schuldenerlass erinnert worden. Dennoch konnte er sich im kollektiven Gedächtnis der Deutschen keinen Platz erobern. Dass es nicht in erster Linie die "deutsche" Tüchtigkeit gewesen ist, die den wirtschaftlichen Aufstieg der BRD ermöglicht hat, sondern - absolut unverdiente - Großzügigkeit und Hilfe anderer Länder, das scheint eine schmerzhafte Korrektur am Selbstbild vieler Deutscher zu sein.

Heute erinnert der Athener Wirtschaftsprofessor und Syriza-Chefökonom Giannis Milios an diese Geschichte, und er appelliert an eine daraus erwachsende Verpflichtung der Deutschen, wenn er fordert [4], "dass die Eurozone für Griechenland eine ähnliche Lösung finden sollte". Statt an die Exporte möchte Syriza den Schuldendienst an das Wirtschaftswachstum koppeln. Um aus dem wirtschaftlichen Tief zu kommen, braucht Griechenland, ähnlich wie damals Westeuropa, ein Investitionsprogramm.

Wie auch immer die Modelle der Schuldenreduzierung und der wirtschaftlichen Wiederbelebung im Einzelnen aussehen - Deutschland müsste in jedem Fall auf einen Teil seiner Schuldenansprüche verzichten und zusätzliche finanzielle Risiken übernehmen. Doch das ist noch nicht der entscheidende Punkt. Wichtiger ist die Frage, wie sich die Bundesregierung im Konflikt zwischen der neuen griechischen Regierung und den etablierten Formen des europäischen Krisenmanagements verhält.

Ein gütiger Hegemon würde sich aktiv engagieren, um eine Lösung für die Schuldenprobleme zu finden, die es dem griechischen Staat erlaubt, dafür zu sorgen, dass seine Bürger medizinisch versorgt werden können, dass Kinder in der Schule nicht mehr vor Hunger ohnmächtig werden und dass sich Rentner nicht mehr verzweifelt aus dem Fenster stürzen. Er würde nach einer Lösung für überschuldete Staaten suchen, die für alle Euroländer akzeptabel ist. Wolfgang Schäuble macht genau das Gegenteil. Er pocht auf bestehende Verträge, bildet eine Ablehnungsfront und schiebt Länder wie Portugal oder Slowenien vor, um seine Blockadehaltung zu legitimieren.

Deutsche Krisengewinne und Schäubles schwarze Null

Gesine Schwan hat kürzlich daran erinnert [5], dass sich Experten des IWF bereits im Frühjahr 2010 gegen neue Kredite für das faktisch insolvente Griechenland ausgesprochen haben. Sie plädierten für einen Schuldenschnitt. Um jedoch deutsche und französische Banken vor Verlusten zu bewahren, setzten sich Merkel, Schäuble und der damalige IWF-Chef Strauss-Kahn vehement dafür ein, neue Kredite in das überschuldete Land zu pumpen.

Das war in der damaligen Situation, in der kritischen Phase der Finanzkrise mit hohen Crash-Gefahren im Bankensektor, eine nachvollziehbare Entscheidung. Aber die Bundesregierung dachte gar nicht daran, diese fatale Weichenstellung so schnell wie möglich zu korrigieren. Sie machte das griechische Hilfsprogramm zum Modell für das europäische Krisenmanagement und verstärkte so die bereits bestehende Polarisierung in der Eurozone. So konnten sich die Gläubigerstaaten wirtschaftlich stabilisieren, während die Empfänger der Hilfskredite in einen Teufelskreis aus wachsenden Schulden und einer zusammenbrechenden Wirtschaft geführt wurden.

Vor allem Deutschland profitierte dann auch von den eskalierenden Krisen in Südeuropa. Die schwarze Null, auf die sich Wolfgang Schäuble so viel zugute hält, ist vor allem ein Resultat dieser Krisengewinne. Im Zuge der Eurokrise sanken die Zinsen für deutsche Staatsanleihen auf historische Tiefs. Bis zu einer Laufzeit von sechs Jahren liegen sie mittlerweile im negativen Bereich [6]. Der deutsche Staat kann also mit Schulden Geld verdienen.

Das ist zum einen dadurch zu erklären, dass Bundesanleihen zum sicheren Hafen der Geldanleger geworden sind. Zum anderen war die EZB wegen der wirtschaftlichen Depression in Südeuropa zu einer expansiven Geldpolitik gezwungen und verstärkte damit diesen Trend. In einer Studie [7] aus dem Kieler Institut für Weltwirtschaft von 2012 wurden diese deutschen Zinsersparnisse auf 68,4 Milliarden Euro berechnet. Inzwischen schätzt [8] der Autor der Studie, Jens Boysen-Hogrefe, die Gesamtsumme auf 100 Milliarden Euro.

Auch der deutsche Steuerzahler ist einer der großen Krisenprofiteure der Eurozone

Aber nicht nur der Bundeshaushalt profitierte. Aus ähnlichen Gründen bekommen auch deutsche Unternehmen ihr Fremdkapital zu sehr günstigen Konditionen. Sie konnten sich zudem über die Einwanderung qualifizierter junger Leute aus Spanien und Griechenland freuen. Der niedrige Eurokurs begünstigt die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exporteure zusätzlich. Und schließlich bescherten die guten Geschäfte der Wirtschaft auch dem deutschen Fiskus reichliche Steuereinnahmen. So sanierte sich der Bundeshaushalt quasi von selbst, während die Krisenländer des Südens gezwungen wurden, soziale Leistungen zu kürzen, Angestellte zu entlassen, Mindestlöhne zu senken, Tarifverträge aufzulösen und so in eine wirtschaftliche Todesspirale abzustürzen.

Der vielzitierte deutsche Steuerzahler ist einer der großen Krisenprofiteure der Eurozone. Auch diese Erkenntnis kratzt am Selbstbild vieler Bundesbürger, die davon überzeugt sind, dass die Krisenländer auf ihre Kosten lebten und deshalb auch die Sparvorgaben widerspruchslos zu schlucken hätten, frei nach dem Motto: "Wer zahlt, bestimmt."

Ein räuberischer Hegemon

Welche Gründe könnte es für Deutschland nun geben, seine Politik zu verändern und in führender Rolle dabei mitzuwirken, das Krisenkarussel zu stoppen? Varoufakis setzt hier weder auf die historisch begründete Verantwortlichkeit der Deutschen noch auf ihre Einsicht in die Ungerechtigkeiten der Eurozone. Er appelliert an das "aufgeklärte Eigeninteresse".

Der gütige Hegemon orientiert sich ja durchaus, dem historischen Beispiel folgend, an seinen eigenen strategischen Interessen. Im Zuge einer wirtschaftlichen Erholung in der europäischen Peripherie, argumentiert Varoufakis in seinem Blog, würden Arbeitsplätze und Einkommen entstehen. Und dadurch könnte auch die deutsche Exportwirtschaft ihre Absatzmärkte sichern und ausbauen. Am Ende würden alle profitieren.

Diese keynesianisch inspirierte Argumentation trifft jedoch die wirtschaftliche Realität Deutschlands nicht ganz. Denn das deutsche Geschäftsmodell läuft nach wie vor auf Hochtouren. Mit ihren Exportüberschüssen [9] erreichte die Bundesrepublik im vergangenen Jahr erneut die weltweite Spitzenposition. Laut Ifo-Institut stieg der deutsche Leistungsbilanzüberschuss auf einen neuen Rekordstand von 220 Milliarden Euro, trotz der darniederliegenden Wirtschaft und den sozialen Notlagen in den Krisenländern.

Die deutsche Exportwirtschaft, die in den Jahren nach der Euro-Einführung die Märkte der weniger wettbewerbsfähigen Länder abräumte und so die fundamentalen Ungleichgewichte produzierte, findet heute ihre wachsenden Absatzmärkte außerhalb der Eurozone. Auch dabei hilft die Krise der anderen Euroländer: Sie bringt die EZB dazu, den Eurokurs niedrig zu halten und dadurch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exporteure auf den Weltmärkten zu steigern.

Anscheinend hat Deutschland seine Rolle als Hegemon längst gefunden, aber nicht als gütiger, sondern als räuberischer, ausbeuterischer Hegemon, der seinen wirtschaftlichen Vorteil mitnimmt, ohne das Wohl des Ganzen zu berücksichtigen. Aber vielleicht gibt es ja doch noch ein handfestes Motiv für die Bundesregierung, mehr Verantwortung für das Wohl der gesamten Eurozone zu zeigen. Hat sie nicht wenigstens ein Interesse daran, die Schuldenkrise durch Wachstum zu lösen, damit die Kredite zurückgezahlt werden können?

Auch hier ist Skepsis angebracht. Denn solange der Schuldendienst irgendwie sichergestellt wird und das Finanzkarussel nicht ins Stocken gerät, sind Schulden kein Problem. Im Gegenteil. Sie bieten Anlagemöglichkeiten für Geldkapital. Und der Bundesregierung bieten sie die Chance, zusammen mit EU-Kommission und IWF anderen Ländern das gewünschte neoliberale Politikmodell aufzuzwingen, von dem Deutschland in vielfältiger Weise profitiert.

Nur der Widerstand in den betroffenen Ländern kann dieses fatale Interessengeflecht durchbrechen. Die griechischen Wähler haben es gewagt, in einen Widerstandsmodus zu wechseln. Das ist eine echte Chance für eine politische Neuorientierung in Europa. Gelingen kann sie aber nur, wenn sich auch Deutschland verändert.

Ein erster Schritt dahin wäre eine ehrliche Debatte über die Rolle Deutschlands in Europa, einschließlich einer realistischen Bilanz der Gewinne und Verluste. Bis jetzt weicht die Bundesregierung dieser Debatte konsequent aus. Jahrelang predigte Angela Merkel, die Deutschen hätten "ihre Hausaufgaben erledigt". Ihre gleichbleibende Botschaft ist, in Deutschland sei alles richtig gemacht worden. Andere Länder können an ihren Problemen folglich nur selbst schuld sein.

Tief in dieser Botschaft lauert die alte Ideologie der Ungleichheit, der deutsche Dünkel, besser zu sein als andere, besser als "Südländer" und andere Krisengeschädigte. Schon allein deshalb ist die Erinnerung an die historische Verantwortung, und auch an die historischen Schandtaten der Deutschen, die uns in diesen Tagen aus Athen erreicht, eine wertvolle Medizin.


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https://www.heise.de/-3370223

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.zeit.de/wirtschaft/2015-02/yanis-varoufakis-griechenland-finanzminister-inhalt-interview/komplettansicht
[2] http://yanisvaroufakis.eu/2013/02/22/europe-needs-a-hegemonic-germany/
[3] http://www.nybooks.com/articles/archives/2012/sep/27/tragedy-european-union-and-how-resolve-it/
[4] http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/griechische-staatsschulden-syriza-fordert-von-deutschland-revanche-a-1011371.html
[5] http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-02/griechenland-gesine-schwan-schaeuble-schuldenschnitt/komplettansicht
[6] http://www.welt.de/finanzen/article137407308/Das-sind-die-bitteren-Wahrheiten-des-Zins-Desasters.html
[7] http://www.ifw-members.ifw-kiel.de/publications/die-zinslast-des-bundes-in-der-schuldenkrise-wie-lukrativ-ist-der-201esichere-hafen201c-1/kwp_gesamt.pdf
[8] http://www.zeit.de/wirtschaft/2015-02/schwarzenull-bundeshaushalt-eurokrise/komplettansicht
[9] http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/exportueberschuss-deutschland-spitzenreiter-bei-leistungsbilanz-saldo-a-1016265.html