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Gute Zeiten für Wehrwillige

Massive Aufrüstung gut und schön – aber wer soll denn die vielen Waffen abfeuern? Da kommen die Soldatenwerbung und die Wehrpflicht wieder ins Spiel. Offenbar gibt es zu wenige Freiwillige, die im staatlichen Auftrag töten wollen.

Seltsam, warum eine solche Stellenbeschreibung keine Bewerbungswelle auslöst:

"Wir sind ein Konzern mit rund 250.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Weltweit aktiv, in ganz Europa wie auch in Afrika und Asien. Wir erforschen und entwickeln in enger Zusammenarbeit mit führenden nationalen Herstellern modernste Technik. Ihre Anwendung erfordert ausgewiesene Spezialisten, die außerdem extrem stressresistent sind. Wir betreiben eine eigene Hochschule, bilden dort mit exklusiven Lehrkräften unseren akademischen Nachwuchs aus.

Unsere Sozialleistungen sind vorbildlich, und unser Zusammenhalt auch. Wollen nicht auch Sie Verantwortung übernehmen und weiterkommen? Dann bewerben Sie sich und stoßen zu einem der größten Arbeitgeber Deutschlands."

Vielleicht liegt das daran, dass in der Beschreibung manches etwas ungenau ausgedrückt wird:

"Wir sind ein Konzern, der im Staatsauftrag Gewalt androht und anwendet. Und zwar überall dort, wo unser Auftraggeber seine Interessen bedroht sieht. Das kann auf anderen Kontinenten und Meeren sein, oder, wie in den 1990er-Jahren und gerade jetzt, auch in Europa.

Mit unseren Partnern aus der Rüstungsindustrie feilen wir an den todbringendsten Waffen der Welt. Wer sie gebraucht, muss natürlich über viele Fähigkeiten verfügen. Die Fachkraft muss wissen, wo die richtigen Knöpfe sind, kaltblütig handeln und auf Menschen schießen. Wenn sie ihren Job gut erledigt, bekommt sie einen Orden und rutscht einen Rang höher. Diskutiert wird nicht, sondern es werden Befehle befolgt.

Den nötigen ideologischen Rückhalt für eine Tat, die im normalen Leben Mord heißt, liefern unsere Führungskräfte, unterstützt von vielen Politikern, Geistesgrößen und Qualitätsmedien. Sollten Mitarbeiter bei der Arbeit selbst zu Tode kommen, was nicht ganz auszuschließen ist, sorgt der Arbeitgeber für die Hinterbliebenen und eine ehrenvolle Bestattung."

Irgendwo zwischen diesen Beschreibungen pendelt wohl die Zielgruppe hin und her. Also junge Männer und vermehrt auch Frauen, die eine sichere und solide berufliche Perspektive suchen. Und die den Arbeitgeber Bundeswehr in dieser Hinsicht attraktiv finden könnten, jedoch nicht so die Sache mit Befehl und Gehorsam und den lebensgefährlichen Begleitumständen.

Zweifel am Auftrag dürften indes die wenigsten haben. Dass unser Deutschland eine konkurrenzfähige Streitmacht braucht, weil wir sonst wehrlos und damit erpressbar wären, ausgeliefert allen Despoten und sonstigen bösen Staaten, gilt als ausgemacht. Das hat der Nachwuchs schließlich ausgiebig in der Schule gelernt und wird ihm in den Medien tagtäglich mitgeteilt.

Die Bundeswehr: ein Hort von Selbstfindung und Selbstlosigkeit

An dem wenig Lifestyle-mäßigem Befehl und Gehorsam und der Lebensgefahr ändert das aber nichts. Die Werbekampagnen der Bundeswehr drücken sich deshalb um diese unangenehmen und nicht so schicken Seiten des Jobs herum. Mit dem Slogan "Mach, was wirklich zählt" warb zum Beispiel 2015 die Bundeswehr in elf deutschen Städten um neue, nun ja, Mitarbeiter.

Die Idee erläuterte Regierungsdirektor Dirk Feldhaus im Bundeswehr-Journal (Dezember 2015):

Junge Menschen fragen heute immer mehr nach dem Sinn ihrer Arbeit und was ihnen diese neben einem Einkommen eigentlich bringt. Darauf haben wir in der Bundeswehr starke Antworten. Die Bundeswehr bietet als Arbeitgeber vielfältige und attraktive Möglichkeiten.

Antworten wie "Wer gibt dir eigentlich den Glauben an dich selbst?" (im Bild ein junger Soldat umarmt von zwei Kameraden), "Hier kämpfst du für deine Patienten, nicht für den Profit" (Soldatin im Sanitätsdienst) oder "Hier lernst du den Unterschied zwischen Führen und Vorführen" (Karriere als Offizier).

Die Bundeswehr als Hort der Selbstfindung, karitativer Selbstlosigkeit und gerechter Hierarchie? Eine Steilvorlage für so manchen Spott, beispielsweise vom Aktionskünstler-Kollektiv "Peng". Es karikierte die Sprüche im zum Verwechseln ähnlichen Plakat-Design unter einer zum Verwechseln ähnlichen Web-Adresse "Mach, was zählt".

Die taz interviewte [1] dazu einen Sprecher von Peng:

Wir haben zur Kenntnis genommen, dass die Bundeswehr in Ihrer gesamten Kampagne nie Wörter wie "Tod", "Töten", "Sterben" oder "Krieg"‘ verwendet, Das wollen wir mit unserer Kampagne ausgleichen.

Zum Titel "Du glaubst es ist cool, Soldat/in zu sein?" gab das Plakat von Peng im Camouflage-Layout die Antwort:

Die Bundeswehr braucht dich besonders im Ausland. Dort sollst du mit deinem Leben für die Interessen der Regierung geradestehen und ihre Befehle ausführen. Dabei handelt es sich um außenpolitische oder wirtschaftliche Interessen. Mit der Verteidigung Deutschlands hat das nichts zu tun.

Das wiederum animierte Nachahmer im Netz mit Sprüchen wie "Willst Du auch mal Zivilisten töten?" oder "Wir schießen die Bösen einfach ab".

Dennoch vermeldete die Bundeswehr als Folge der Kampagnen eine deutlich vermehrte Anzahl von Interessenten und Bewerbungen. Aber einen massiven Zulauf schaffte sie nicht. Wie auch weitere Werbekampagnen nicht, zum Beispiel die Video-Serie "Die Rekruten". Dort wurden im Stil einer Reality-Soap Soldaten-Anfänger während ihrer ersten Ausbildungstage vermeintlich authentisch gezeigt. Teilweise wohl auch zu authentisch...

Aussetzung der Wehrpflicht: Keine Amateure für Auslandseinsätze

Bis zum Ukraine-Krieg hat das allerdings keine großen politischen Wellen erzeugt. Das Unbehagen bei einschlägigen Militarexperten über zu wenig Nachwuchs blieb zwar. Jedoch wurde daraus kein Politikum. Es galt bis vor kurzem als ausgemacht, was zur Aussetzung der Wehrpflicht 2011 führte:

Wir brauchen nicht mehr die schnelle Präsenzarmee wie noch zu Zeiten des Kalten Krieges an den Grenzen, sondern wir sind heute Teil eines Bündnisses mit Einsatzgebieten außerhalb unserer Landesgrenzen.

Henning Otte, CDU [2]

Damit vollzog der Bundestag eine Entwicklung seit Beginn der 1990er-Jahre nach – die Bundeswehr beteiligte sich an zahlreichen Auslands-Missionen, im UN-Auftrag oder mit der Nato. Der Kalte Krieg war mit der Auflösung von Sowjetunion und Warschauer Pakt für den Westen gewonnen worden. So gingen die USA daran, als verbliebene und nun konkurrenzlose Macht die Welt zu ordnen, sprich sie nach ihren politischen und wirtschaftlichen Interessen auch dort einzurichten, wo sie bis dato zu wenig oder gar keinen Einfluss besessen hatten.

Mit Deutschland im Schlepptau. Die hiesige Außenpolitik nennt das "Verantwortung übernehmen", noch dazu, weil es von Deutschland erwartet würde. Diese Erwartung haben zwar vornehmlich die deutschen Herrschaften an sich selbst. Als vorgestellter Antrag der ganzen Welt klingt das aber natürlich besser und unwidersprechlich.

Die neue Verantwortung manifestierte sich in der Entsendung des nationalen Gewaltmittels, der Bundeswehr, überall dorthin, wo Konflikte geregelt werden mussten. Dies ebenfalls eine bewusst verharmlosende Beschreibung für Einmischung und Disziplinierung unbotmäßiger oder in die aktuelle westliche Kalkulation nicht passender eigenmächtiger Staaten – beispielsweise im Kosovo oder in Afghanistan (siehe alle Auslandseinsätze der Bundeswehr [3])

Für diese Jobs war die Bundeswehr zunächst wenig geeignet. Eine Reform musste her. Die bisherige Landstreitmacht, die einen Krieg in Europa bestehen sollte, wurde zu einer schnellen Präsenzarmee für Einsätze überall auf dem Globus.

Man baute also um – weniger Soldaten, dafür aber professioneller, flexibler und mit entsprechend mobilem Gewaltgerät ausgestattet. Also war es nicht mehr sinnvoll, den Bundeswehr-Profis einen Haufen Amateure als potenzielles Kanonenfutter an die Seite zu stellen.

Man vollzog damit einen Schritt nach, den fast alle Nato-Partner, allen voran die USA und Großbritannien, schon längst getan hatten: eine Streitmacht nur noch mit Berufsoldaten zu unterhalten. Angesichts der immer anspruchsvolleren Kriegstechnik und der damit verbundenen nötigen Fachkompetenz und entsprechend längeren Ausbildung sehr sachgerecht.

Der Sinn der Wehrpflicht: ein stets kampfbereites Volk

Und doch wird die Wehrpflicht nun wieder in Deutschland diskutiert. Sie ist schließlich nur ausgesetzt. Der Artikel 12a des Grundgesetzes gilt weiterhin:

Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden.

Der Staat behält sich damit grundsätzlich vor, seine Bürger zum Dienst zu zwingen. In Friedenszeiten, um für den sogenannten "Spannungsfall" gerüstet zu sein. Wenn gegen eine andere Nation ein Krieg unmittelbar bevorsteht, sind dann genügend Bürger ausgebildet und kampfbereit. In der Mobilmachung werden sie anschließend zu den Waffen gerufen.

Da will sich kein Staat der Welt von individuellen Kalkulationen seiner Untertanen abhängig machen. Zum Beispiel dass Mütter ihre Söhne im Keller verstecken, weil sie ihren Tod an der Front befürchten. Oder dass die Söhne selbst es für die bessere Idee halten, das Weite zu suchen, als auf Befehl fremde Menschen zu töten.

Sehr konsequent daher die Zwangsrekrutierung in der Ukraine: Alle Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren sind verpflichtet, sich in Rekrutierungsbüros zu melden. Kriegsdienstverweigerung ist strafbar [4], eine Ausreise verboten.

Mit zunehmender Dauer des Krieges wird die Daumenschraube noch härter angezogen. Die Verluste müssen kompensiert werden. Wenn das nicht auf dem normalem Wege funktioniert, dann eben auch mit unsauberen Methoden [5].

Das angreifende Russland ist da ebenfalls nicht zimperlich, um genügend Mannstärke herzustellen. Immerhin können noch Kriegsunwillige ausreisen. Was aber in den hiesigen Leitmedien auch wieder gegen Moskau spricht [6].

Dienstpflicht statt Wehrpflicht: Deutschland braucht nicht nur mehr Soldaten

Den Spannungsfall gibt es in Deutschland zwar nicht, noch nicht. Dennoch denken der neue Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius und die Wehrbeauftragte Eva Högl (beide SPD) laut darüber nach, eine Art Dienstpflicht einzuführen. Diese soll zwar auch Arbeiten im Zivilschutz oder in Rettungsdiensten umfassen. Es darf aber gleichfalls gern ein Dienst in der Bundeswehr sein. Pistorius möchte allerdings keine Rückkehr zur alten Wehrpflicht. Denn er beklagt allgemein [7] eine "Distanz vieler Menschen zu gesamtstaatlichen Aufgaben":

In den vergangenen Monaten ist der Eindruck entstanden, dass manche nicht die nötige Wertschätzung für Feuerwehr und Rotes Kreuz, Polizei und Bundeswehr aufbringen. Die allgemeine Dienstpflicht könnte helfen, die Menschen und die staatlichen Organisationen wieder ein Stück näher zusammenzubringen. Sie könnte vor Augen führen, wie wichtig diese Einrichtungen für das Funktionieren unserer Gesellschaft sind.

Sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe: Das Militär aufstocken und gleichzeitig die nötige zivile Reserve für alle Katastrophen, ob im Alltag oder im Krieg. Und damit dem jungen Volk beibiegen, dass es sich nicht ausschließlich nur um die private Karriere im Kapitalismus kümmern soll, sondern auch an das große Ganze zu denken hat.

Andererseits wird das doch von der Jugend ständig gefordert: Sich so schnell wie möglich und so passend wie nötig für den Bedarf der Wirtschaft herzurichten. Dem kommt dabei aber ein staatlicher Zwangsdient gehörig in die Quere.

Das weiß selbstverständlich auch der verantwortungsvolle Politiker. Beispielsweise Roderich Kiesewetter, Verteidigungsexperte der CDU. Die Frage sei, welches Wehrdienstmodell der aktuellen Situation am besten Rechnung trage, "und zwar im Spannungsfeld der Wirtschaft mit eklatantem Fachkräftemangel, den Kosten für den Wiederaufbau von Strukturen und Investitionen in Kasernen, Ausbilder und Material sowie dem gesetzlichen Änderungsbedarf, der Mehrheiten in Parlament und Gesellschaft erfordert".1 [8]

Kiesewetter hält daher viel vom norwegischen Modell. Dort gibt es seit 2015 eine allgemeine Wehrpflicht für Frauen und Männer ab 17 Jahren. Tatsächlich Dienst leistet aber nur ein Bruchteil der insgesamt 60.000 Jugendlichen. Denn nach einem einjährigen Musterungs- und Auswahlprozess bleiben nur die am besten geeigneten und motivierten übrig, rund 13.500. Die erhalten sieben Wochen Grundausbildung, dann neun bis zehn Monate Ausbildung in der Heimateinheit plus einige Spezialtrainings. Danach stehen sie bis zum Alter von 44 Jahren auf Abruf für "Krisenlagen" bereit.2 [9]

Eine solche größere Personalreserve könnte die Bundeswehr gut gebrauchren, denn: "20 Prozent der Dienstposten sind nicht besetzt und dazu noch in vielen Bereichen auch wenig personelle Reserve. Wenn etwa durch Krankheit jemand ausfällt oder Erziehungszeit, dann müssen immer dieselben ran, und das belastet unsere Soldatinnen und Soldaten ganz enorm", sagt die Wehrbeauftragte Eva Högl [10].

Auf einen weiteren Grund für den Wehrdienst weist Marineinspekteur Christian Kaack hin3 [11]:

Es ist nun mal Fakt, dass wir früher 70 Prozent unserer Längerdiener aus der Wehrpflicht gezogen haben.

Neue "Bedrohungslage": Woher sollen 20.000 zusätzliche Soldaten kommen?

Es steht also nicht gut um die deutsche Streitmacht. Schon länger zwar, indes nun, "angesichts der Bedrohungslage" (Kiesewetter), fällt das Problem umso mehr ins Gewicht. Denn wer soll die vielen neuen Waffen beherrschen und wenn nötig effektiv anwenden, sprich den erklärten Feind töten? Bis 2027 soll die Bundeswehr um circa 20.000 Soldaten anwachsen [12], auf dann 203.000.

Auf freiwilliger Basis funktioniert das wohl nicht allein. Dafür sei die Bundeswehr derzeit nicht attraktiv genug, sagt Högl. Ausrüstung schlecht, Kasernen in miesem Zustand, und auch der gesellschaftliche Leumund falle für den Soldaten mäßig aus. Da müsse vieles verbessert werden. Und auch die Werbung, siehe "Mach, was wirklich zählt": Es würde suggeriert, "dass es Spaß macht, dass man dort Ausbildungen machen kann". Dabei könne es nun wirklich ernst werden, was manchen Soldaten erst am 24. Februar deutlich geworden sei.

Die Zahl der Kriegsdienstverweiger bei der Bundeswehr ist daher deutlich angestiegen [13] – von 176 im Jahr 2021 auf 235 vergangenes Jahr, eine Steigerung um rund 30 Prozent. Bei den Reservisten fällt der Anstieg noch größer aus: von nur 10 in 2021 auf 271 in 2022.

Högl sagt [14], sie erwarte nun von der Personalberatung und den Karrierecentern, dass sie den Fokus stärker auf dieses Thema legen und die jungen Leute gut beraten.

Klarstellung der Wehrbeauftragten: Wehrdienst ist Kriegsdienst

Wie wohl eine solche an die aktuelle Lage angepasste Beratung aussieht? Klar muss sein: "Wehrdienst zu verweigern und in der Bundeswehr zu bleiben, sei (...) nicht möglich", erklärt die Wehrbeauftragte.

Eine wichtige Information: Als Angestellter der Bundeswehr, an welcher Stelle auch immer, leistet man Kriegsdienst. Wer meint, die Streitmacht sei nur ein verschworener Haufen mit spannender Technik, viel frischer Luft und guten Karrierechancen, hat das Wesentliche verpasst. Eine Spaßbremse waren zwar schon die Ereignisse beim Afghanistan-Einsatz gewesen.

Aber spätestens mit der 1.000 Mann starken Battle Group in Litauen, den 15.000 Soldaten für die aufgestockte Nato-Eingreiftruppe im Osten Europas und dem Vorhaben, mit 100 Milliarden Euro Sondervermögen und noch mehr Geld Deutschland zur wehrhaftesten Nation auf dem Kontinent zu machen, dürfte bekannt sein: Deutsche Soldaten werden in Zukunft nicht nur bei fernen Auslandseinsätzen deutsche Interessen verteidigen, sondern auch in Europa, gegen den neuen alten Feind im Osten. Es wird ernst, und das bedeutet Elend und Tod. Nicht gerade die beste Berufsperspektive.

An diesem Imageproblem wird auch die beste Beratung nichts ändern. Wenigstens kann dann niemand sagen, er hätte nichts gewusst. Sondern all die, die sich für den Wehrdienst entscheiden, gehen so sehenden Auges in die Kasernen und lassen sich für den Krieg ausbilden.

Wenn es darauf ankommt, werden sie auf wildfremde Menschen ihre Waffen richten. Beim ersten Mal werden sich die meisten damit schwer tun. Das Töten gehört nun einmal nicht zum Alltag. Aber es muss sein, und nach einigen Schusswechseln sinken die Hemmungen. Denn die Politik hat einen Feind ausgemacht, der unbedingt bis aufs Messer bekämpft gehört.

Der Bösewicht vereint alle schlechten Charaktereigenschaften auf sich und will Hof, Haus, Mietwohnung, Fernseher und Sofa zerstören, alle Angehörigen und Freunde massakrieren. Das eigene Volk wird angegriffen, da muss man sich verteidigen!

Diese Sorte Propaganda, um die Bürger für die Durchsetzung von politischen Zielen aufzuhetzen, betreiben alle Seiten. Und so schießen Soldaten hüben wir drüben mit bestem Gewissen aufeinander, weil für eine gute Sache.

Ukrainische Soldaten, russische Soldaten: Beide töten für eine "gute Sache"

Aktuell die Russen, weil ihr Staat vom Westen eingekreist wird und er sich dagegen doch wehren muss. Sie empören sich darüber, dass die USA und Europa mit Hilfe eines Landes vorgehen, das irgendwie mal zu uns gehört hat, und nun Neonazis in wichtigen Positionen und in der Armee hat! Die Geschichte, hier der Zweite Weltkrieg und speziell Stalingrad, gibt dann einen weiteren guten Grund dafür ab, mit Gewalt gegen diese Ukraine vorzugehen.

Die Wahrheit ist schlichter: Der Staat Russland will nicht länger hinnehmen, dass der Westen weitere Raketen in seiner unmittelbaren Nähe gegen ihn aufstellt. Das macht ihn angreifbarer. Sein Status als Weltmacht auf gleicher Stufe wie die USA wird damit in Frage gestellt.

Der russische Soldat muss das nicht wissen. Für ihn reicht es, dass er sein Leben mit der Existenz seiner Herrschaft, sprich Nation, gleichsetzt. Und es für sie dann auch lässt.

Und die Ukrainer? Die im westlichen Teil des Landes greifen zu den Waffen, weil sie seit einem Jahr angegriffen werden. Die im östlichen Abschnitt machen das schon seit 2014, verteidigen sich aber gegen ihre Landsleute im Westen.

Entsprechend gespalten ist die Nation. Die gute Sache im Kiewer Herrschaftsbereich heißt "David gegen Goliath", der russische Riese überfällt die kleine Ukraine. So hat bei der Münchner Sicherheitskonferenz [15] Ukraines Präsident Selenskyj das Kräfteverhältnis zwischen den Kriegsparteien beschrieben und unwiderlegbar klargestellt, dass "klein'" gleich "gut" ist. Steht ja so in der Bibel. Das alles natürlich, um für noch mehr Rüstungshilfe zu werben – die Steinschleuder von David reicht dann doch nicht…

Wie das so ein russischer Riese macht, will er jedem aufrechten Ukrainer seine Existenz zerstören, also Hof, Haus, Mietwohnung, Fernseher, Sofa, und vor allem ihn umbringen. Tatsächlich passiert das – wie in jedem Krieg: Die kriegführenden Staaten zielen darauf, dem jeweiligen Gegner alle Mittel aus der Hand zu schlagen.

Dazu gehören nun einmal die willfährigen Untertanen, nicht nur die Soldaten, sondern auch die unterstützende Zivilgesellschaft samt Infrastruktur. Die Abwürfe von US-amerikanischen Atombomben über Hiroshima und Nagasaki im Zweiten Weltkrieg dienten zum Beispiel dazu. Wie auch der jahrelange Beschuss der abtrünnigen östlichen Regionen durch die ukrainische Armee, mit tausenden Toten und zerstörten Orten.

Das politische Ziel ist aber mit der brutalen militärischen Strategie nicht benannt: Russland geht es darum, die Ukraine dazu zu zwingen, von der Nato-Mitgliedschaft inklusive der damit verbundenen Aufrüstung gegen Russland zu lassen. Kiew will aber partout genau diese Mitgliedschaft, und lässt dafür sein Volk bluten.

Der ukrainische Soldat muss diese Zusammenhänge nicht kennen. Auch ihm genügt es wie seinem russischen Kontrahenten, sein Wohl mit dem seiner Herrschaft in eins zu setzen. Eine sehr einseitige Angelegenheit: Vom Wohl des Soldaten machen sich Selenskyj und Co. nicht abhängig. Dann müssten sie sofort einen Waffenstillstand ausrufen und mit Russland verhandeln. Das kommt aber augenscheinlich nicht in Frage.

Das deutsche Volk: noch zu "weich" für den Krieg?

Derzeit stehen Waffenstillstand und Verhandlungen auch hierzulande nicht zur Diskussion, jedenfalls nicht für die politische und geistige Elite. Vielmehr arbeitet sie am nötigen Mentalitätswandel. Also wie es zu einer breiten Bereitschaft kommt, im Spannungsfall in den Krieg zu ziehen. Nur geht das nicht so schnell, gibt die Wissenschaft zu bedenken.

Der Historiker Frank Biess glaubt nicht an eine "mentale Zeitwende auf Knopfdruck". Nötig sei sie, indes4 [16]:

Die älteren Jahrgänge in Deutschland haben immer noch die Erinnerung an die Wehrpflicht und den Zivildienst, die Atomangst, die in Bücher und Filmen immer wieder beschworen wurde. Die Jüngeren, die seit den Neunzigerjahren aufgewachsen sind, haben sogenannte humanitäre Interventionen erlebt, aber nicht mehr die drohende Konfrontation der Großmächte.

Vereinfacht gesagt: Das deutsche Volk war einfach zu lange nicht direkt in einen Krieg verwickelt, jedenfalls nicht mental. Jugoslawien in den 1990er-Jahren, Afghanistan und diverse weitere Aufenthalte der Bundeswehr fanden halt fern der Heimat statt. Deutschland reihte sich zwar ein in die US-amerikanische regelbasierte Weltordnung mit den entsprechenden militärischen Ordnungsaufgaben; hielt sich aber vornehm zurück, wenn die Unterordnung allzu wenig politischen Vorteil versprach, zum Beispiel im dritten Golfkrieg 2003.

Wenn dann doch mal geschossen werden musste, weil Einheimische die Einmischung in innere Angelegenheiten nicht hinnahmen, war das natürlich nur zur Selbstverteidigung. Auch die Zahl der getöteten Soldaten hielt sich in beruhigenden Grenzen.

Und die USA mitsamt der Nato standen zwar weiterhin mit ihren Atomwaffen den Atomwaffen Russlands gegenüber. Aber für die hiesige öffentliche Diskussion war diese weiter bestehende, weltbedrohende Feindschaft kein großes Thema. Man fühlte sich im Westen "sicher", konnte sich eine ernsthafte Gegenwehr Moskaus nicht vorstellen. Das hat sich nun massiv verändert.

Aktuell steht für die maßgebliche deutsche Politik die weitere Bewaffnung und Finanzierung der Ukraine außer Frage. Die Stimmen von Friedensbewegten und Pazifisten werden von Politik und Medien diskreditiert [17].

Einen Bewerbungsschub für die Bundeswehr löst dies jedoch nicht aus. Die Mentalität der Deutschen ist noch nicht so weit. Einstweilen sorgt man sich sogar, in den Krieg zu sehr hineingezogen zu werden.

Doch das will ja Bundeskanzler Olaf Scholz unbedingt verhindern: Man werde nicht zur Kriegspartei [18], auch nicht durch die Lieferung der Leopard-Panzer. Gewiss, wenn man jemand die Waffe in die Hand drückt, damit er schießt, ist man an der Tat in keiner Weise beteiligt…

Es könnte also vielleicht noch eine Weile dauern, bis sich genügend Freiwillige melden und die Wehr- oder Dienstpflicht auf große Zustimmung stößt. Es könnte aber auch ganz schnell gehen: Wenn Deutschland ernst macht und selbst zu den Waffen greift, um Russland ein für allemal zu ruinieren [19].


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Links in diesem Artikel:
[1] https://taz.de/Netzkampagne-gegen-die-Bundeswehr/%215254884/
[2] https://www.deutschlandfunkkultur.de/zehn-jahre-aussetzung-der-wehrpflicht-einmal-weg-immer-weg-100.html
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Auslandseins%C3%A4tze_der_Bundeswehr
[4] https://taz.de/Kriegsdienstverweigerer-in-der-Ukraine/%215881494/9
[5] https://www.telepolis.de/features/Krieg-in-der-Ukraine-Neue-Soldaten-nur-noch-schwer-zu-finden-7531059.html?seite=2
[6] https://www.fr.de/politik/ukraine-krieg-rekrutierung-russland-soldaten-gefallen-mobilmachung-flucht-widerstand-91855313.html
[7] https://www.sueddeutsche.de/politik/dienstpflicht-wehrpflicht-pistorius-bundeswehr-wertvoll-1.5751648
[8] https://www.heise.de/tp/features/Gute-Zeiten-fuer-Wehrwillige-7534589.html?view=fussnoten#f_1
[9] https://www.heise.de/tp/features/Gute-Zeiten-fuer-Wehrwillige-7534589.html?view=fussnoten#f_2
[10] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-08/wehrbeauftragte-hoegl-gegen-wiedereinsetzung-wehrpflicht
[11] https://www.heise.de/tp/features/Gute-Zeiten-fuer-Wehrwillige-7534589.html?view=fussnoten#f_3
[12] https://www.bundeswehr.de/de/landes-buendnisverteidigung-kernauftrag/personal-schluessel-zur-verteidigungsfaehigkeit
[13] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundeswehr-zahl-der-kriegsdienstverweigerer-in-uniform-gestiegen-a-56bf01cd-ae03-4fec-921f-03cfa1b9ac3c
[14] https://www.deutschlandfunkkultur.de/wehrdienstverweigerer-bundeswehr-hoegl-102.html
[15] https://www.tagesschau.de/inland/sicherheitskonferenz-selenskyj-muenchen-101.html
[16] https://www.heise.de/tp/features/Gute-Zeiten-fuer-Wehrwillige-7534589.html?view=fussnoten#f_4
[17] https://www.telepolis.de/features/Keine-Zeit-fuer-Pazifisten-7488866.html?seite=all
[18] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/scholz-deutschland-wird-keine-kriegspartei-18630170.html
[19] https://www.merkur.de/politik/ukraine-krieg-russland-baerbock-putin-sanktionen-wladimir-aussenminister-sergej-lawrow-eu-nato-zr-91374034.html