Haben wir unter Corona vergessen, dass es ein Leben vor dem Tod gibt?
Oder sollen wir jetzt bei jeden größeren Event nur noch an Tod und Verderben denken? Ein Zwischenruf
"Fußball-EM: Der Tod sitzt auf den Rängen", überschrieb Arno Kleinebeckel kürzlich einen Telepolis-Beitrag. Die Metapher lässt sofort an das Bild vom Sensenmann aufkommen, das für eine Zeit charakteristisch war, in der die Erde im Grunde ein Jammertal war. Selbst bei kurzfristigen Vergnügungen lauerte am Ende der Tod. Eine zutiefst traurige Gesellschaft also und die Pfaffen der verschiedenen Konfessionen predigten entweder Erlösung oder ewige Verdammnis im Jenseits.
Überall nur Gefahr, Krankheit und Tod
Es war ein nicht zu unterschätzendes Verdienst von Aufklärern, die Menschen daran zu erinnern, dass es ein Leben vor dem Tod gibt. Manchmal scheint es, als hätten das viele Menschen wieder vergessen.
Die Bilder von Wembley machen sprachlos. Wildgewordene Fanhorden drängeln fähnchenschwenkend die Stadiontreppen hoch, auf den Zugängen tanzen Fußball-Furien, zum Teil zusammen mit ihren Kindern, und schneiden Grimassen in die Kameras. Volksfeststimmung, mehr als das: Wehe, wenn sie losgelassen.
(Arno Kleinebeckel, Telepolis)
Kleinebeckel beschreibt in seinen Artikel ziemlich gewöhnliche Szenen von Fußballbegeisterung und mag dahinter nur Gefahr, Krankheit und am Ende sogar den Tod sehen. Nun muss niemand diese Fußballbegeisterung mitmachen und man kann sich aus sehr verschiedenen Gründen entscheiden, damit nichts zu tun haben zu wollen. Doch es ist etwas Anderes, mit diesen Szenen die Gefahr von schwerer Krankheit und Tod zu assoziieren und die Zahl der angeblich während der EM mit Corona Infizierten Menschen akribisch aufzulisten. Dabei wird nirgends angedeutet, wie viele Menschen tatsächlich erkrankt sind. Schließlich läuft seit mehreren Monaten eine Impfkampagne, die zumindest vor schweren Verläufen schützen soll.
Man muss sich schon fragen, was es mit den Menschen macht, wenn jedes größere Event mit möglicher Krankheit und Tod in Verbindung gebracht wird. Wenn immer gleich die Frage aufkommt, wie viele Menschen sich dort mit einer Krankheit infiziert haben. Dass es bei der Kritik nicht nur um mögliche Corona-Ansteckungen geht, zeigt der Untertitel unter dem Foto eines n-tv-Berichts. Dort wird auf die großen Müllberge verwiesen, die die Feiernden zurückgelassen haben.
Die Botschaft ist klar. Hätte man die EM abgesagt, hätte es vielleicht weniger Corona-Ansteckungen gegeben und sicherlich wäre viel Müll erst gar nicht angefallen und weniger Energie hätte man auch verbraucht. In einer Zeit, in der der ökologische Fußabdruck der Menschen möglichst klein ausfallen soll, kann bei jeder größeren Veranstaltung, jedem Festival oder Konzert der Vorwurf erhoben werden, hier werde unnötig Energie verbraucht und man riskiere Menschenleben, weil sich nun mal in Menschenmengen Viren verbreiten können. Heute ist es Corona und morgens kann es eine andere ansteckende Krankheit sein.
Texte gegen die Sterilisierung des Lebens
Eine Konsequenz könnte darin bestehen, dass sich alle nur noch in einer isolierten Raumkapsel bewegen. Ein Bild, auf dem sich Einzelpersonen in keimsicheren Kleinstfahrzeugen bewegen, malte Walter Molino 1962. Das Bild verbreitete sich im August 2020 mit dem Untertitel "Leben im Jahr 2022 und sorgte für Diskussionen. Dies Motiv hat nun eine Gruppe von Ideologiekritikern zum Titelblatt ihrer Broschüre gewählt, die den schlichten Namen "Der Erreger" trägt. Tatsächlich dürften die 30 Texte manche erregen. Denn die Stimmen gegen die Moralisierung der Sprache fallen in eine Zeit, in der selbst schlaue Menschen der Meinung sind, dass spätestens in Zeiten der Pandemie für Satire kein Platz mehr ist und jetzt auch für die Sprache strenge Hygieneregeln gelten sollten.
Die Autorinnen und Autoren des Erreger schlagen einen Bogen vom Corona-Notstand über die Klimakrise bis zu den verschiedensten Moraldebatten, die in regelmäßigen Abständen durch die Medien geistern. In den besseren Texten werden Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen der Digitalisierung des Alltags und vermehrt auftretenden Moralkampagnen herausgearbeitet. Beispielsweise im Aufsatz "Im Würgegriff des sanften Zwangs", in dem Leo Kravic schreibt: "In Zeiten des pandemischen Ausnahmezustands ist der Körper tatsächlich zu dem menschheitsgefährdenden Ding geworden, zu dem ihn die Klimaschützer schon lange erklären".
Damit geht er auf die Debatten über den ökologischen Fußabdruck des Menschen ein, den zumindest ein Teil der Klimaschützer am liebsten auf Null reduzieren möchte, was aber nur gelänge, wenn der Mensch und damit die Zivilisation von der Erde verschwunden wären.
Moralkampagnen statt Gesellschaftskritik
Gut wird auch erklärt, dass die regelmäßigen Moraldebatten, die durch das linksliberale Feuilleton laufen, auch mit dem Verschwinden einer Gesellschaftsanalyse in Verbindung stehen. Dass kann man an der Fixierung auf Konsumenten statt auf Konzerne sehen, wenn in bürgerlichen Kreisen über die Klimakrise diskutiert wird, aber auch sehr gut an der Regenbogenkampagne im Zusammenhang mit der Fußball-EM, die für einige Tage die Medien in Deutschland erregte, um auch ganz schnell vergessen werden. Dabei wird schnell ausgeblendet, dass die Veränderungen im Kapitalismus und in der Arbeitswelt unterschiedliche Subjektivitäten herausbilden, was sich auch in der Geschlechterdebatte niederschlägt.
Während mit viel moralischer Verve der "alte weiße Mann" verabschiedet wird, wird oft nicht registriert, dass der digitale Kapitalismus andere Subjektivitäten braucht. Das ist auch ein Grund, warum die Kämpfe von Frauen sowie sexuellen Minderheiten heute in vielen Ländern mehr Beachtung finden, als noch vor einigen Jahrzehnten. Das Erkennen dieser Zusammenhänge darf aber nun kein Grund sein, in konservative Kulturkritik zu verfallen, wovon manche der Texte im Erreger nicht frei sind.
Da hat man schon manchmal den Eindruck, dass manche Autoren Feminismus und die Klimabewegung insgesamt ablehnen. Die Texte sind in einem Sound verfasst, den Leser von ideologiekritischen Publikationen der letzten Jahrzehnte kennen. Auch wenn man mit vielen politischen Implikationen, die eher zwischen den Zeilen der Texte zu erkennen sind, nicht übereinstimmt, kann man den Erreger als Gegenstimme lesen, in einer Zeit, in der manche bei einem Fußball-Event gleich den Tod im Stadtion sitzen sehen.