Fußball-EM: Der Tod sitzt auf den Rängen
Die Organisatoren des europaweiten Turniers offenbaren neben Unverstand auch ihre kranke Moral, wenn sie mit Massenevents die Infektionszahlen in die Höhe treiben
Die Bilder von Wembley machen sprachlos. Wildgewordene Fanhorden drängeln fähnchenschwenkend die Stadiontreppen hoch, auf den Zugängen tanzen Fußball-Furien, zum Teil zusammen mit ihren Kindern, und schneiden Grimassen in die Kameras. Volksfeststimmung, mehr als das: Wehe, wenn sie losgelassen.
Die Momentaufnahme: England 2021, das Festival heißt EM 2020, wir befinden uns realiter im zweiten Sommer der Pandemie, die Uefa, Ausrichterin des Spektakels, orakelt: "Wir bringen Menschen zusammen".
Wir hocken vor dem Fernseher, viele nach eineinhalb Jahren gefühlter Käfighaltung, reiben uns die Augen - und schauen unsrer eigenen Ohnmacht und Verblödung zu. Abstand und Masken: Fehlanzeige. Fußballfieber als Infektionstreiber: Das Uefa-Fatum hat die Regie übernommen.
Hier enthüllt sich eine erschreckende Unterbewertung des Menschenlebens. Britische Regierung und europäische Fußballfunktionäre lassen bei den Halbfinals und dem Finale 65.000 Zuschauer zu. Alles klar? Die europäische Fußballindustrie ignoriert 20.000 tägliche Neuinfektionen in Großbritannien. Wir sehen Abendnachrichten, was sehen und hören wir da sonst, zum Beispiel über Corona?
Abgesehen davon, dass das Märchen für die Deutschen vorbei ist, bleibt das ganze EM-Märchen eine Lüge. Ein grotesker Schwindel.
Regierungen auf Zickzackkurs
Blenden wir eine Woche zurück. Ganz England auf dem Weg zur Feierzone. 45.000 Fans verwandeln Wembley in eine Partymeile. Von Spiel zu Spiel steigt die Zahl der zulässigen Zuschauer, im ganzen Land steigen die Neuinfektionen, vorneweg die hochansteckende Delta-Variante, gefährlich vor allem für Jüngere.
Riskante Wegmarken: Am 18. Juni traten die Schotten in London gegen England an. Ein Spiel um Leben und Gesundheit. Knapp 400 Infizierte aus Schottland sollen Berichten zufolge im Stadion gewesen sein, in der Innenstadt Tausende weitere Fans auf Straßen und Plätzen. Drei Viertel der Infizierten waren nach behördlichen Angaben zwischen 20 und 39 Jahre alt, neun von zehn waren Männer.
An die 2.000 Corona-Fälle allein in Schottland lassen sich in Verbindung mit Spielen dieser Fußball-EM bringen. Zwei Drittel von 1.991 positiv Getesteten sind Fans, die entgegen aller Ratschläge aus dem Norden zu den Spielen gereist seien, teilte die Gesundheitsbehörde Public Health Scotland mit.
Und es geht weiter im EM-Tollhaus: Mit fast 45.000 Zuschauern fand das Achtelfinale Deutschland gegen England am Dienstag vergangener Woche vor dem bisher größten Publikum statt: Abstand und Masken im Wembley-Stadion eine Seltenheit. Wie viele Fans und Beobachter sich dort angesteckt haben, wird sich erst in den kommenden Wochen zeigen.
In St. Petersburg, das als klarer Corona-Hotspot gilt, spitzte sich die Lage beim EM-Viertelfinale zu. Staatlicherseits keine Einwände. "Was die Fußball-Europameisterschaft angeht, so mussten wir hier natürlich zunächst die Verpflichtungen erfüllen, die der Staat zur Organisation dieser sportlichen Großereignisse übernommen hatte", wird Präsident Wladimir Putin zitiert. Was bitte ist daran "natürlich"?
Die UEFA spielt den Ball zielsicher ins politische Feld, es seien keinerlei Änderungen oder gar eine Verlegung des Spiels geplant, erklärt die Europäische Fußball-Union auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur. "Die finale Entscheidung bezüglich der Zuschauerzahl liegt immer bei den jeweiligen lokalen Behörden."
Ein verschärftes Hygienekonzept für das Spiel im Stadion der Ostseemetropole wird als nicht nötig angesehen, also blieb es dabei: Die Hälfte der mehr als 60.000 Plätze in der Gazprom-Arena standen beim Spiel Spanien gegen die Schweiz der jubelnden Zuschauermenge zu Verfügung.
"Vermehrungsfest für das Virus"
Das ZDF-Auslandsjournal vom 30. Juni 2021 nahm sich des Themas an ("Volle Stadien trotz Delta") und diagnostiziert einen gefährlichen Fußballrausch, ein "Vermehrungsfest für das Virus".
Das trifft den Nagel auf den Kopf. "Erst in Großbritannien. Und dann in ganz Europa?" Berechtigte Frage, wenn Fußballfieber und Delta-Variante in London aufeinandertreffen.
Lawrence Young, Virologe an der US-Universität Warwick, wird im ZDF-Beitrag interviewt und, man staune, spricht eine simple Wahrheit vornehm aus: "Das ist ein Grund zur Sorge", konstatiert der Befragte, und appelliert dann an den Verstand von Fans und Verantwortlichen: "Es geht nicht darum, Menschen den Spaß zu verderben, sondern (…) zu sagen: Denkt mal darüber nach und seid vorsichtig."
Das Votum wird im Siegestaumel, gleich welchem, mit tödlicher Sicherheit untergehen.
Die Uefa hat das Monopol bei den Europameisterschaften, sie hält die Fäden der EM fest in der Hand. Städte, die nicht mitziehen, verlieren die Zuteilung. Es geht um die Zahl der zugelassenen Fans, um die Facetten dessen, was man Hygienekonzept nennt. Der Verband hat auch die Ausnahmen bei den Quarantäneregelungen für Offizielle durchgesetzt, alles keine Frage.
Dass britische Regierung und Uefa 60.000 Fans bei den Halbfinals und dem Finale zulassen, wer will dem Unverstand wehren: Ein Rückschlag für Vernunft und Moral, in der Außendarstellung eine Gaukelei, bei der es um Menschenleben geht.
Possenreißer und Gaukler
Die Possenreißer und Gaukler der modernen Sportszene weisen eine verblüffende Nähe zu antiken Mustern auf. Die römischen Spektakel ("Ludi") strotzten nur so von Lokalchauvinismus und Machtgehabe. Tertullian handelte darüber in seiner Schrift De Spectaculis, in der er dem Leser das römische Spielewesen anschaulich vor Augen führt: Wagenrennen, Gladiatorenkämpfe, Tierhetzen, Wettstreit der Athleten. Es winkte (und winkt) die Siegeskrone. Im Circus Maximus gab es die maximale Tollheit zu bestaunen.
Eine Besonderheit spiegelt sich in den EM-Spielen 2020 deutlich wider: Auch diese Ludi verbinden (wie es bei den antiken Vorbildern üblich war) die Lebenden mit den Toten. So war es im antiken Rom, so war es bei den tödlichen Spektakeln der Provinzen, so sitzt der Tod dieser Tage mit auf den Rängen. Mitten unter den jubelnden Zuschauern in den Spielstätten der modernen Events, die sich als die uralten erweisen. Ammianus Marcellinus schreibt im vierten Jahrhundert über die verzehrende Leidenschaft:
Ihr Tempel, ihr Erholungsort, ihr Versammlungsplatz, letztes Ziel ihrer Wünsche ist der Circus Maximus. (…) Und da das Geschwür der Sorglosigkeit so tief eingewurzelt ist, überstürzen sich alle, wenn der so sehr herbeigesehnte Tag (der Wagenrennen) zu dämmern beginnt …
Ammianus Marcellinus, zitiert nach: Jean-Paul Thuillier, Sport im antiken Rom. Darmstadt (WBG) 1999, S. 188f.
Eine Mutter, so liest man betroffen, verfasste zu jener Zeit die Grabinschrift für ihren 18-jährigen Sohn. Sie lautete in Stein gemeißelt: "Er war ein Anhänger der Blauen", ein beliebter Club in der Welt der antiken Spiele.
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