Hässlicher "Antiautoritarismus"
Seite 3: Das bürgerliche Subjekt
- Hässlicher "Antiautoritarismus"
- Die Willkürfreiheit
- Das bürgerliche Subjekt
- Literatur
- Auf einer Seite lesen
Kritiker des vermeintlichen Obrigkeitsstaats in der Corona-Pandemie tun gern so, als ob der gegenwärtig vorherrschende Sozialcharakter der gehorsame Untertan sei. Gewiss gibt es auch diesen Typus. Aber selbst eine Partei wie die AfD tritt in der Corona-Pandemie nicht mit einem Votum für preußische Orientierungen hervor, als da sind: "Gehorsam, Disziplin, Unterordnung, Treue, Hingabefähigkeit, Dienstwilligkeit" (Niekisch 1929, 292).
Ein Kernmoment des modernen bürgerlichen Leitbildes besteht in der Mündigkeit als Fähigkeit des vereinzelten Einzelnen, eigenverantwortlich für sein Wohlergehen, seine äußere und innere Selbstbehauptung und freie Persönlichkeitsentfaltung sorgen zu können. Selbstbestimmung und Selbstverantwortung haben ihr reales Fundament in der Warenzirkulation.
Hier tritt das Individuum als Anbieter seiner Arbeitskraft und als Käufer von Waren auf. Das Individuum, das in einem kapitalistischen Betrieb arbeitet, ist im Unterschied zu Leibeigenen und Zwangsarbeitern rechtlich frei darin, den Arbeitsvertrag einzugehen und zu kündigen. Mehr ist nicht verlangt, damit Freiheit im bürgerlichen Sinne existiert. Ambitioniertere Erwartungen erweisen sich als sachfremd.
Freiheit hat in der bürgerlichen Gesellschaft ihren Preis. Das bürgerliche Individuum fragt sich in seiner Selbstverantwortung sorgenvoll, ob es seine Kräfte oder sein Budget falsch einteilt, Gelegenheiten versäumt, über seine Verhältnisse lebt usw. Verena Kast schreibt in der für sie charakteristischen Mischung aus Indikativ und Imperativ:
Urheber und Urheberin des eigenen Tuns sein heißt, sich nicht ständig zu verstecken hinter "dem Schicksal", der Gesellschaft, die einem keine Chancen ließ, den Eltern, die einen schlechten Einfluss auf einen hatten. Wir haben nicht nur ein eigenes Selbst, sondern wir müssen auch die Verantwortung für dieses eigene Selbst übernehmen.
Verena Kast, Trotz allem Ich. S. 192f.
Die Kollision zwischen dem imaginären Größenselbst und gesellschaftlichen Regeln
Unter der Herrschaft der Kapitalverwertung sind dem Vorhaben enge Grenzen gesetzt, das Arbeiten, die Produkte und die Sozialbeziehungen im Sinne des guten Lebens zu gestalten (vgl. Creydt 2017). Die Menschen beziehen sich auf Märkten mit ihren Privatinteressen aufeinander und stehen in Konkurrenz zueinander.
Die Entfaltung anderer Menschen durch Güter und Dienstleistungen ist in einer am Profit orientierten Wirtschaft oft nicht der objektiv maßgebliche Zweck des Arbeitens oder der Tätigkeiten. Häufig nimmt das Individuum in der modernen bürgerlichen Gesellschaft nicht an dieser Problematik Anstoß, sondern an der Nichtbeachtung seiner wirklichen oder vermeintlichen Besonderheit.
Gegen die festgestellte "Nivellierungserfahrung" wenden sich solche Persönlichkeiten mit einem "exaggerierten Subjektivismus" (Simmel 18, 382). Hier macht sich die Kehrseite der Arbeitsteilung geltend, die zwar die Individuen allein mit einem zur Austauschbarkeit objektivierten Segment beansprucht. Zugleich aber "saugt" das verobjektivierte Ganze "seine Elemente nicht so vollständig in sich ein, dass nicht ein jedes noch ein Sonderleben mit Sonderinteressen führte" (Simmel 6, 629f.).
Darauf kaprizieren sich nun die Individuen. Daraus entsteht ein Vorbehalt gegen jede Anforderung, die das gesellschaftliche Zusammenleben an das Individuum stellt. Zwar stellen solche Mitmenschen die Zwänge, auf die es wirklich ankommt – z. B. ihre Lohnabhängigkeit – nicht infrage. Aber bei der Corona-Epidemie können sie ihr ebenso anspruchsvolles wie schmeichelhaftes Selbstbild der reich entfalteten Persönlichkeit und ihres Individualismus einmal praktisch werden lassen – im passiven Widerstand und in vielerlei abenteuerlichen Verdächtigungen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Seuche.
Sonst fügsame und "verständige" Bürger wollen auf einmal sich und anderen beweisen, dass sie "mit sich nicht alles machen lassen". Auf der Demo am 29.8.2020 in Berlin sind einige ältere Männer zu sehen mit weißen T-Shirts und dem Slogan: "Ich habe meine Eier wiedergefunden." Vielen geht es offenbar mehr um Symbolpolitik und Souveränitätssimulation als um eine sachgerechte Einschätzung der Lage.
"Die medizinisch-soziale Maßnahme wird in eine symbolisch-politische umgedeutet" (Georg Seeßlen, Neues Deutschland 22.8.2020). Covid bildet den Anlass für Leute, die es sich schuldig sind, sich selbst und anderen einmal zu demonstrieren, wie eigenständig sie seien. Wer daran Gefallen findet, meint, seine oder ihre Autonomie bestehe darin, … eine Mund-Nasen-Maske nicht aufzuziehen oder sich nicht impfen zu lassen.
Als antiautoritär dünken sich auch Personen, die bereits die Existenz anderer Mitmenschen als Einschränkung ihrer eigenen Willkür erachten. "Meine persönliche Freiheit – eigentlich nur: meine Nicht-Beeinträchtigung – wiegt schwerer als Ideen von Mitmenschlichkeit oder, altmodisch gesagt: Gesellschaft" (Georg Seeßlen, Neues Deutschland 22.8.2020). Auf das Selbstbild vieler Mitglieder der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft trifft folgende Beschreibung zu:
Die Welt konstituiert sich durch das tägliche "Nein" aller Weltbürger, der Konsens aller ist der Dissens der Individuen, der Mitläufer hat sich totgelaufen, es gibt nur noch das Weltkönigreich des inneren Exils und der äußeren Partisanentätigkeit
Matthias Beltz, Homo irregularis, der Massenpartisan, S. 56
Als Sozialcharakter dürfte gegenwärtig der pseudoindividualistische Subjektivitätstyp ("homo irregularis") weiter verbreitet sein als der autoritäre. Hier ist "Autonomie in bloßen Trotz umgeschlagen" und zu einem "asozialen Anschein von Freiheit geworden" (Anders 2001, 93). Bei vielen Kritiken des vermeintlichen Obrigkeitsstaats in der Corona-Pandemie fragt sich: Wie unterscheiden sie sich substanziell von neoliberalen Plädoyers und von anarcholiberalen US-Bürgern? Letztere sehen den Grund allen Übels in "zu viel Staat".