Hässlicher "Antiautoritarismus"
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Missverständnisse über Freiheit in einer bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Marktwirtschaft
Es kann gute Gründe dafür geben, staatliche Politik und staatliches Handeln zu kritisieren. Auf den Umkehrschluss ist aber kein Verlass: Keineswegs jede Person, die staatliche Maßnahmen beanstandet, tut dies aus Gründen, deren Inhalt Anerkennung verdient. In der Corona-Pandemie konzentrieren sich manche auf allerlei Kritik am "Obrigkeitsstaat". Auffälligerweise fragen sie selten, welcher normative Standpunkt dieser Zeitdiagnose zugrunde liegt. Er besteht – so die These dieses Artikels – häufig in Missverständnissen über Freiheit in einer bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Marktwirtschaft.
Im Unterschied zu segmentären Gesellschaften mit sich selbst versorgenden Gemeinschaften finden wir gegenwärtig in Deutschland ein Gemeinwesen mit hoher Vernetzung von Produzenten und Konsumenten vor. Wir haben es mit einer vorher nicht erreichten "sozialen Dichte" (Durkheim) zu tun und zugleich mit "marktlich induzierten Gleichgültigkeitsbarrieren" (Novy 1986, 196; Anm. d. Red: Die Literaturangaben sind am Ende des Artikels zu finden) zwischen Produzenten, Konsumenten sowie von Produktion und Konsum indirekt Betroffenen.
Es "wächst mit der Entwicklung der Geldverhältnisse [...] der allgemeine Zusammenhang und die allseitige Abhängigkeit in Produktion und Konsumtion zugleich mit der Unabhängigkeit und Gleichgültigkeit der Konsumierenden und Produzierenden zueinander" (Marx 1974, 78f., vgl. a. 74).
Innerhalb der Marktwirtschaft haben die Individuen wohl oder übel ein ambivalentes Verhältnis zueinander. Der Vertrag bildet die Normalform der Geschäftsbeziehungen. Inhaltlich sind die Interessen der "Partner" eines Vertrags oft einander entgegengesetzt. Im marktwirtschaftlichen Tausch (Geld gegen Ware bzw. Dienstleistung) verfolgen die Teilnehmer ihren Sondervorteil oder ihr Privatinteresse.
Zugleich müssen sich die Teilnehmer an Waren-, Konsum- und Arbeitsmärkten an die rechtlichen Regeln der marktwirtschaftlichen Ordnung halten. Diese überwinden allerdings nicht die Ursachen, die aus Kooperation eine antagonistische Kooperation machen. Die Motive dafür, Transaktionen mit anderen Marktteilnehmern einzugehen, und die für sie notwendige allgemeine Verkehrsordnung stehen in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander.
Damit ist ein Übergang als Möglichkeit angelegt: Die an ihrem eigenen Privatinteresse Interessierten pflegen häufig einen instrumentellen Umgang mit den Regeln, die für die vertraglichen Interaktionen zwischen Marktteilnehmern vorgesehen sind. Sie nehmen diese Regeln nicht so genau, legen sie einseitig zu ihrem Vorteil aus, dehnen und übertreten sie und wissen Schlupflöcher auszunutzen. Manche gehen gar zu Betrug oder Gewalt über.
Den meisten leuchtet hingegen ein, dass die Überwindung der Willkür – d.h. der Durchsetzung des eigenen Zwecks ohne die Berücksichtigung des anderen Subjekts mit seinen Zwecken – und der Verzicht auf kurzfristige Vorteilsnahme, Übervorteilungen, Vertragsverletzungen oder offene Gewalt letztlich auch im eigenen Interesse liegen: Im Unterschied zu einer Raub- und Abenteuerwirtschaft lassen sich die Geschäfte in dauerhaften und gesicherten Bahnen langfristig ertragreicher realisieren.
Unabhängig von den in der Marktwirtschaft angelegten Motiven dazu, ihre Regeln zu übertreten, ist in ihr sowohl das Instrumentalisieren anderer für eigene Vorteile weit verbreitet als auch die "Mir sind die anderen praktisch egal"-Variante. Letztere muss sich gar nicht offensiv artikulieren. Die Maxime "Rücksicht nehmen ist mir zu anstrengend" reicht schon.
Im unmittelbaren Egoismus hat die Person einen egozentrischen Horizont. Sie sieht nur, dass eine andere Person ihr nutzen soll, nicht, dass im Tausch ein Verhältnis gegenseitigen Nutzens vorliegen muss, sich also zwei verschiedene Personen mit anderen ausschließenden Privatinteressen miteinander einigen müssen.
Egozentriker sehen allein ihre spezielle höchstpersönliche Freiheit und nicht die Erfordernisse, die daraus entstehen, dass eine Vielzahl von Personen im eigennützigen Gebrauch ihrer individuellen Freiheitsrechte nicht die Rechte anderer Personen (z. B. auf Schutz vor vermeidbarer Ansteckung) gefährden.
Das bürgerliche Recht hegt den unmittelbaren oder einseitigen "Egoismus" mit einer Verkehrsordnung unter den "Egoisten" ein, nicht aber die Orientierung der Beteiligten an ihrem Sondervorteil und Privatinteresse. Auf Märkten gelten die "verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Zusammenhangs" dem Individuum "als bloßes Mittel für seine Privatzwecke, als äußere Notwendigkeit" (Marx 1974, 6).
Unter diesen Bedingungen ist es immer möglich, dass beim Individuum seine Erste-Person-Perspektive verwildert. Die individuelle Vorstellung vom Privatinteresse ("Unterm Strich zähl ich" – Postbank) kann sich leicht gegenüber dem System des Privatinteresses und dessen Erfordernissen verselbständigen.
Wer andere in Bus oder U-Bahn fragt, ob sie vielleicht gerade das Tragen ihrer Maske vergessen haben, bekommt häufig zu hören: "Kümmern Sie sich doch um ihre eigenen Angelegenheiten!" Bei dieser Antwort fehlt der Gedanke, dass die Angelegenheit des einen (der Wunsch nach Schutz seiner Gesundheit vor Ansteckung) die Willkürfreiheit des anderen ("Ich kann selber entscheiden, was ich mache") legitimerweise einschränkt.
Die Privateigentümer "sind niemandem etwas schuldig, sie erwarten sozusagen von niemandem etwas; sie gewöhnen sich daran, stets von den anderen gesondert zu bleiben, sie bilden sich gern ein, ihr ganzes Schicksal liege in ihren Händen" (Alexis de Tocqueville 1987, 149). Kooperation und Solidarität sind in diesem Horizont nicht oder nur randständig vorgesehen. Wäre das nicht so, bedürfte es keines staatlichen Gebots bspw. zum Tragen einer Schutzmaske. In modernen Gesellschaften treffen viele Menschen zusammen.
Ohne Staat müssten sich die Einzelpersonen untereinander verabreden. Ein solches Vorgehen dürfte in größeren Orten recht aufwendig und zeitintensiv sein. Insoweit die hohe Anzahl von Individuen die Chancen für ihre selbstorganisierte Kooperation verringert, wird staatliches Handeln erforderlich. Der Staat "muss jene Verdünnung des Vertrauens ausgleichen, die dadurch entsteht, dass sich die Menschen in großen Gruppen nicht mehr unmittelbar beobachten und korrigieren können und dass sie nicht mehr so ganz voneinander abhängig sind" (Esser 2000, 160).
Der Staat handelt, wenn er denn so handelt, als exogener Förderer der Kooperation (Baurmann 1998, 254f).
Gerade in der regelmäßigen Ausführung von Verhaltensweisen, die ohne eine gezielte Einflussnahme auf den Handelnden nicht oder jedenfalls nicht häufig genug "von selbst" seinen Absichten entsprechen, ist mithin ein entscheidender Aspekt der sozialen Ordnung lokalisiert. Eine Hauptsäule dieser Ordnung bilden soziale Handlungen, die nicht allein durch natürliche oder "spontan" entstehende, sondern nur durch "künstliche" Verhaltensdeterminanten herbeigeführt werden können.
Michael Baurmann, Universalisierung und Partikularisierung der Moral, S. 254f.
Den in ihren Privatinteressen und ihrem Egozentrismus befangenen Bürgern erscheint die Beachtung der Maßnahmen, mit denen sie sich gegenseitig vor Ansteckung schützen können, als illegitime Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber dem Staat, nicht als ein Akt der Solidarität mit den Mitmenschen.