Haifischbecken Internet: Wir Kinderfresser
Im Netz überantwortet unsere Gesellschaft ihren Nachwuchs dem Faustrecht des Stärkeren. Eltern stellen sich doof, Schule und Politik schauen schon zu lange weg. Schonungsloser Blick einer Pädagogin.
Der Kauf eines Mobiltelefons für Heranwachsende (…) ist das Eintrittsritual in die moderne Familie
The Mobile Life European Report 2007
Fünf Minuten sind oft ausreichend, dass Kinder bei TikTok oder auf Pornoseiten Dinge sehen, die sie in ihren Gedanken und Träumen mitnehmen.
Silke Müller: Wir verlieren unsere Kinder. Gewalt, Missbrauch, Rassismus, München 2023
Frau Müller, hier guck mal, wie eklig das Video ist.
Fallbeispiel aus der 5. Klasse
Es läuft etwas schief im Netz. Im Wunderland der tausend Möglichkeiten. Wobei "tausend" eine winzig kleine Untertreibung ist: Die Netzoptionen sind uferlos. Und ja klar, es sind unsere Kinder, die paddeln und daddeln in diesem Meer von Tools, Trends, Tweets, Chats, Challenges, Posts: Spätestens ab zwölf Jahren gehört das Internet mit all seinen Facetten, Tiefen und Untiefen zum Alltag der Kids.
"Wir verlieren unsere Kinder" ist das Motto eines Mahnrufs von Silke Müller, Schulleiterin an einer Oberschule in Niedersachsen. In diesem Bundesland ist sie auch Digitalbotschafterin. Müller hat Erfahrungen quer durch den Schulalltag unserer Zeit aufgeschrieben ("Wissen Sie, was Ihr Kind auf dem Smartphone sieht?"), so entstand ein besorgniserregendes Panoptikum, de facto gesehen durch die Augen der bedrohten Spezies.
Die Autorin versieht ihre Bestandsaufnahme mit krassen Fällen aus der digitalen Realität des kindlichen Hier und Jetzt, hat die geschilderten Fälle anonymisiert und ein Buch daraus gemacht.
Tor zum Haifischbecken
"Ungefiltert, kaum reguliert, 24/7 erreichbar": So sieht Müller das Netz und betont: Es handelt sich bei ihren Berichten nicht um Ausnahmen oder konstruierte Fälle, sondern um das echte, tagtägliche Leben unserer Kinder und Jugendlichen. Und Müller nennt das digitale Wunderland auch: Schlaraffenland für Menschen mit abartigen Vorstellungen, "eine unheimlich große Bühne", knallvoll mit Fake News, Hate, Dirty Talks und ungebremstem Zugang zu immer widerwärtigeren Fotos, Texten und Videos, und das rund um die Uhr. Es gehe darum, "endlich aufzuwachen", betont Müller in ihrem Buch.
Noch einmal: Alle gängigen Dienste im Internet werden von immer jüngeren Teilnehmern in Anspruch genommen. Der Zugang erfolgt dabei hauptsächlich über das Smartphone, wie Befragungen und Studienergebnisse zeigen - und der reale Alltag zeigt das sowieso einem jeden, der nur hinguckt.
Gucken wir hin: Die durchschnittliche Nutzung pro Tag klettert seit Jahren entsprechend kräftig; 77 Prozent der Altersklasse der 16-29-Jährigen (2021) etwa sagen: Morgens gilt mein erster Blick dem Smartphone und abends der letzte. Das gilt zunehmend aber auch für die Einsteiger-Klasse, die altersmäßig immer früher loslegt. Der Messenger-Dienst WhatsApp hat sich in allen Fällen als Eintrittstor ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten erwiesen. Oder, wie Silke Müller in einem Interview sagte: als Tor zum Haifischbecken.
Vollversorgung, fragwürdig!
Sieben von zehn Kindern und Jugendlichen zwischen zehn und 18 Jahren dürfen digitale Medien nach eigenen Angaben in ihrer Freizeit ohne zeitliche Beschränkung nutzen, stellte die Initiative "Schau hin!" unlängst mit Blick auf eine aktuelle Untersuchung des Digitalverbands Bitkom fest. In Zahlen: 66 Prozent der Sechs- bis Neunjährigen nutzen bereits ab und zu ein Smartphone, teils ist es da noch das elterliche Gerät.
Danach steigt der Smartphone-Besitz rasant an: Bei den Zehn- bis Zwölfjährigen sind es schon 86 Prozent, bei den 13- bis 15-Jährigen 95 Prozent, die ein eigenes Gerät benutzen. Im Langzeitvergleich der Bitkom-Studie kommen Kinder und Jugendliche also immer früher mit digitalen Endgeräten in Kontakt; ein Schwerpunkt der Kommunikation via WhatsApp ist der Austausch unter Gleichaltrigen.
Ihre Heimat ist nicht mehr nur das Klassenzimmer, der Freundeskreis und die Familie, sondern schon längst die Welt der sozialen Netzwerke.
Silke Müller
"Vollversorgung" nennt das der "Gefährdungsatlas Digitales Aufwachsen" (2022) der Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz, der auf 322 Seiten breit gefächert in den Themendschungel einführt: "Als Werkzeug zur zwischenmenschlichen Kommunikation erreicht WhatsApp im Jugendalter (...) hinsichtlich seiner Verbreitung einen Status, der einer Vollversorgung nahekommt."
Der Begriffsindex des umfänglichen Papiers allein lässt nichts Gutes ahnen. Von Cybersex ist da die Rede, von Grooming, Empathieminderung, exzessiver Selbstdarstellung, Feindbildern, Hate Speech, Hypersexualisierung, Meinungsmanipulation, Online-Pranger, Pädophilieforen, Propaganda, Populismus, Suizidforen, sexueller Ausbeutung, Sucht (=Auswahl!).
"Wofür ich blowen würde"
Was konkret bedeutet: Schon die Grundschüler sind Texten und Bildern von Gewalt, Missbrauch, Tierquälerei, Rassismus, Perversion, Hass und Mord ausgesetzt. Hier setzt Silke Müllers Bestandsaufnahme an. Einige Beispiele (Fallschilderungen aus dem Buch):
Im Frühjahr 2022 flammt ein TikTok-Trend auf: "Wofür ich blowen würde", es geht da vorrangig um Kohle, Lifestyle, Luxus, angesagtes Outfit etc., alles unterm Hashtag #dingefürdieichblownwürde. Ein Mädchen, etwa 13 Jahre alt, will Gras für die Wochenendparty besorgen, sie fragt einen kaum älteren Jungen. Der verspricht Hilfe, ein Gramm soll zehn Euro kosten, man verabredet sich für den Nachmittag auf dem Spielplatz der örtlichen Grundschule.
Es wird ein Joint geraucht, zunächst mit anderen, dann sondern sich die beiden ab, um ihren Handel zu tätigen. Nach kurzem Geplänkel einigt man sich auf Bezahlung ohne Geld, "wie im Trend": Das Mädchen bekommt den Stoff, die Euros bleiben in ihrer Tasche, man hat sich anders geeinigt. Müller schreibt:
Das 13-jährige Mädchen und der 14-jährige Junge gehen nach Hause. Der nächste Tag wird sein wie jeder andere. Und gleichzeitig hat sich an diesem Tag alles verändert.
Silke Müller
Dieser eben geschilderte Fall ist ein Beispiel dafür, wie stark die "echte" und die "virtuelle" Realität verschränkt sind, d.h. welche Wechselseitigkeiten herrschen. Müller spricht wieder und wieder von der "Strahlkraft auf das reale Leben", sie plädiert dafür, endlich aufzuhören, die analoge und die digitale Welt voneinander zu trennen. Wir müssen begreifen, sagt sie, dass wir in einer Gesellschaft und in einer Welt leben, die sich gleichzeitig im physischen Hier und Jetzt wie auf den virtuellen Datenautobahnen abspielt. Es ist eine Art Co-Präsenz.
Virtuelle Intimitäten
Häufig werden Spielräume im Netz zum Ausgangspunkt für Manipulation, wobei Vertrauen schmählich ausgenutzt wird. Ein zwölf Jahre alter Junge tappt beim Spielen von Fortnite in die Falle. Er wird während des Spiels von einem vermeintlich Gleichaltrigen angeschrieben; der Austausch wechselt nach einer Weile zum Messenger Snapchat. Der Unbekannte pocht auf eine "Mutprobe", bei der der Zwölfjährige Bilder von seinem Penis "im normalen und im erigierten Zustand" machen soll.
Der Gefragte schickt sie dem "neuen Freund", später sogar noch ein Video, auf dem er masturbiert. Zu seinem Schrecken landen die Bilder, das Masturbations-Video und ein Trommelfeuer erniedrigender Kommentare ("Schwule Nulpe", "Simons ekliges Coming-out") umgehend in einer WhatsApp-Gruppe mit "unzählige(n) Nummern", darunter Mitschülerinnen und Mitschüler.
Schulleitung und Polizei werden nach einigem Gekaspere eingeschaltet, der eigentliche Täter kann nicht dingfest gemacht werden. Mitmacher der WhatsApp-Gruppe, die sich durch Kommentare am Spießrutenlauf beteiligt haben, werden im konkreten Fall "schulisch sanktioniert", was immer das heißen mag. Der Geschädigte, um eine Erfahrung reicher, musste in psychologische Behandlung und wechselte am Ende die Schule. Er war "bis dato ein völlig normales Kind (…), integriert in die Klasse und im Sportverein".
Das sind nur zwei Beispiele von vielen aus dem "großen Haifischbecken". Das Netz übt eine bedenkliche Faszination auf die Gemüter Heranwachsender aus, und es macht Nicht-Mitspieler zu Außenseitern, Losern und Verdächtigen. Dabei kennt es weder Ländergrenzen noch Grenzen des geltenden Rechts, worauf Müller in ihrem Buch hinweist, die auch diese einfache Feststellung trifft:
Es ist nicht das Netz, das grausam ist. Es sind wir Menschen.
Silke Müller
Nur ein Klick zur Folterszene
Gefakte Instagram-Profile, "Tasteless Videos" mit anstößigen Inhalten, hämische Kommentare (O-Ton: "Du billige Bitch, wärst du doch nur schon im Bauch deiner Mutter verreckt"), notorisch wiederkehrende Hitler-Memes (gerne Bilder mit darübergelegtem Text), dutzend-, hundert-, tausendfach gelikte Trends und Challenges appellieren an den Nachahmungstrieb junger Leute und animieren Kinder zu unglaublichen Aktionen.
Die Grenzen zwischen harmlos, lustig, geschmacklos, grausam, eklig und menschenverachtend sind fließend; die Überfülle kompromittierender Szenen und Dialoge überfordert die kindliche Selbsteinschätzung, torpediert die psychischen, emotionalen und sozialen Kompetenzen der Heranwachsenden, stürzt normale Kinder in ein seelisches Chaos.
Dabei scheinen der Verrohung keine Grenzen gesetzt. Im Interview mit DAS! (NDR) schildert Müller Anfang Mai, wie gerade ein widerwärtiges Video die Runde macht, nämlich wie eine Babykatze in einen Mixer geworfen und zerstückelt wird. Schnell wird der Clip geteilt; erste Screenshots landen bei Twitter, weiter geht’s bei TikTok. Außer vom Video selber zeigt sich Müller vom Grad der Abstumpfung geschockt, den viele Kids ihrem Eindruck nach beim Ansehen solcher Inhalte an den Tag legen.
Szenenwechsel: Kids sitzen im Bus auf der Fahrt zur Schule. Durch den Bus geht ein blutrünstiges Video von der Kastration eines Mannes, über drei Minuten lang. Per Filesharing (Bluetooth/AirDrop) wird die Datei in Sekundenschnelle unter den Geräten übertragen, die Folterszene landet in Windeseile in den Geräte-Galerien und spielt sich auf Knopfdruck ab. "XY möchte dir ein Foto schicken", das reicht auf dem Display, um die Neugier zu wecken.
Man sieht den Korpus eines Mannes und die Arbeit des Skalpells. Die Kinder aus dem Schulbus klopfen morgens um 8:00 bei der Lehrerin an und fragen rücksichtsvoll: Frau Müller, haben Sie schon gefrühstückt? Vom Grauen gefesselt.
Geschäftsmodell Menschenverachtung
Für die Online-Imperien zählt das Gesetz der Aufmerksamkeitsökonomie; dahinter verbirgt sich eine milliardenschwere Geldmaschine, für die das Heer der Social-Media-Profile eine nicht abreißende Einnahmequelle sind.
Elf Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene besuchten im Schuljahr 2021/22 allgemeinbildende und berufliche Schulen in Deutschland (Müller, 187). Vom Aufbau einer digitalen Ethik im Netz sieht Silke Müller das Land weit entfernt, Empathie, Toleranz, Rücksicht und Respekt im Schwundzustand. Das System Schule eine "Blase" - hoffnungslos veraltet und überfordert.
Letztendlich greifen die sozialen Netzwerke vor diesem Hintergrund weitgehend ungehindert nach den kindlichen Seelen, kommerzialisieren deren Beziehungen und ramponieren die meist noch ungerichtete Identitätssuche, in dem Fall besonders rücksichtslos, weil es sich um Kinder und Jugendliche handelt, deren Charaktere noch ungefestigt sind. Sozialisation und Charakterbildung finden im Netz statt, sagt Müller.
Die Eltern geben sich oft ahnungslos; hinter den Fassaden kindlicher Selbstinszenierung endet daher so manche kindliche "Netz-Karriere" nicht nur im Schockzustand, sondern - hoffentlich – auch mit dem allmählichen Erwachen der elterlichen Einsicht in Kalamitäten, die auch 2023 noch allzu gern verdrängt werden.
Das Netz kann auf bitterböse Weise real sein. Hier liegt auch eine überfällige Hausaufgabe für die Politik.
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