Hamas-Angriff: Wie wird Israel reagieren?
Hunderte Tote auf israelischer Seite. Die Menschen in Gaza wurden aufgefordert, ihre Häuser zu verlassen. Was das im Normalfall bedeutet, ist klar.
War es Zufall, oder Plan? Am Freitag vor genau 50 Jahren begann am höchsten jüdischen Feiertag der Jom-Kippur-Krieg. Und genauso überraschend kehrte der Krieg am Samstag ein halbes Jahrhundert und einen Tag später in die Region zurück. In den Morgenstunden überwanden Dutzende, möglicherweise Hunderte Kämpfer der Essedin-al-Kassam-Brigaden, dem bewaffneten Flügel der Hamas, die Sperranlagen zwischen dem Gazastreifen und Israel.
Kämpfer? Oder Terroristen? Bewaffneter, militanter Flügel, gar paramilitärische Organisation oder Terrorgruppe? Im Angesicht dessen, was seit Samstagmorgen in Israel geschieht, sind auch viele westliche Medien dazu übergegangen, ihre verbale Zurückhaltung aufzugeben und die Hamas und ihre Brigaden wieder den Terrorgruppen zuzuordnen, die sie in den 1990er-Jahren eindeutig waren.
Nachdem die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) und Israels damalige Regierung vor ziemlich genau 30 Jahren die ersten der Osloer Verträge unterzeichnet hatten, schickte die Hamas Selbstmordattentäter nach Israel, die auch Busse voller Schulkinder sprengten. Begründung damals: Sie seien ja alle künftige Soldaten.
Angst und Schrecken in neuer Form zurück
Und am Samstag kehrten nun Angst und Schrecken zurück, völlig überraschend, am Schabbat, in einer völlig neuen Form. Tausende Raketen wurden abgeschossen; ungefähr so viele, wie während des gesamten Gaza-Kriegs 2014 insgesamt. Und gleichzeitig streiften die Terroristen durch die israelischen Ortschaften in der Nähe zum Gazastreifen, klingelten an Türen, feuerten auf Passanten.
Selbst in der Nacht zum Sonntag war es Militär und Polizei noch nicht gelungen, alle Kommunen wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Eine unbekannte Zahl von Israelis wurde auch in den Gazastreifen verschleppt, soll dort wohl als Schutzschild gegen israelische Militärangriffe und Druckmittel für die Freilassung von palästinensischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen dienen.
Bis zum Sonntagmorgen kamen auf der israelischen Seite 350 Menschen ums Leben, Tausende wurden verletzt; so viele, wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Auf der palästinensischen Seite kamen nach Angaben der Hamas im gleichen Zeitraum mehr als 200 Menschen ums Leben: Israels Militär griff zunächst mit Luftangriffen Einrichtungen an, die der Hamas und der kleineren Terrorgruppe Islamischer Dschihad zugerechnet werden, darunter auch Moscheen und Hochhäuser.
Mit einer größeren Militäroperation, möglicherweise auch einem Einmarsch wird gerechnet. Zugleich stehen Regierung und Sicherheitsapparat unter Druck. Wie konnte es passieren, dass man das trotz aller Technik, der legendären Geheimdienste nicht vorhergesehen hatte? Theorien dazu gibt es viele.
Kompetenzgerangel und stockender Informationsfluss
Die wahrscheinlichste davon: Um überhaupt eine Regierung bilden zu können, hatte Regierungschef Benjamin Netanjahu dem ultrarechten Parteienbündnis "Religiöser Zionismus" eine Vielzahl von Zugeständnissen gemacht, die dazu geführt haben, dass die Entscheidungsprozesse regelrecht durch den Fleischwolf gedreht wurden.
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Neben Verteidigungsminister Joav Galant ist auch der ultrarechte Bezalel Smotrich als Minister dem Verteidigungsressort zugeordnet; beide streiten ständig über die Zuständigkeiten. Die zivile Kontrolle über das israelisch besetzte Westjordanland wurde ebenfalls ausgegliedert.
Am Schwersten könnte aber dies wiegen: Weil die Minister der Religiösen Zionisten immer wieder Informationen nach außen geben, Kontakte zu gewaltbereiten israelischen Gruppen pflegen, geben die Chefs von Geheimdiensten und Militär Informationen nur noch mit großer Vorsicht weiter. Mit zu großer Vorsicht möglicherweise?
Was immer es auch war: Erste Reaktionen deuten darauf hin, dass Netanjahu und seine Partei Likud nun auch bei vielen ihrer überzeugtesten Unterstützer verloren haben. Denn 1973 wurde der Likud mit dem Versprechen gegründet, die Sicherheit des Staates zu garantieren. Schon seit den Neunzigerjahren ist Netanjahu der größte und vehementeste Mahner vor der Bedrohung durch den Iran; nur er könne die Sicherheit Israels garantieren, hieß es immer wieder vor den vielen Neuwahlen der vergangenen Jahre. Nun hat er es nicht einmal geschafft, die Bevölkerung vor den Ereignissen am Samstag zu beschützen.
Was nun passieren wird? Das lässt sich überhaupt nicht vorhersagen. Die beiden größten Oppositionsparteien haben Netanjahu die Bildung einer Notregierung angeboten, wenn der die Religiösen Zionisten entlässt.
Doch das wäre nur eine kurzfristige Lösung; alle Parteien, die nicht in der aktuellen Regierung sind, haben wegen Netanjahus Korruptionsanklage eine Beteiligung an einer Regierung mit ihm ausgeschlossen. Oder anders gesagt: Einen Plan B gibt es für den Langzeit-Premier, der mit kurzer Unterbrechung seit 2009 im Amt ist, nicht mehr. Korruption, die extrem umstrittene Justizreform und jetzt der Hamas-Angriff auf Israel. Das dürfte zu viel sein.
Anzeichen für israelische Militäroperation in Gaza-Stadt
Seit 2009 gab es eine Vielzahl von Konfrontationen mit der Hamas, ein streng gesicherter Grenzzaun wurde ausgebaut mit der allerbesten Technik; eine Blockade sollte sicherstellen, dass nur Güter eingeführt werden, die nicht für den Waffenbau genutzt werden können. All das hat Samstag nicht verhindern können: Die Kassam-Brigaden haben ihre Fähigkeiten gar ausbauen können.
Nun deutet sich an, dass eine Militäroperation bevorsteht. Kurz vor Mitternacht Ortszeit wurden die Menschen in Gaza-Stadt vom israelischen Militär dazu aufgefordert, sich an bestimmte Orte zu begeben. Eine Ausweitung der Luftangriffe, möglicherweise auch ein Einmarsch dürfte also bevorstehen. Und gleichzeitig steht die Frage im Raum, ob man dann versuchen wird, die Herrschaft der Hamas über den Gazastreifen zu beenden.
Denn wie gesagt:Die Blockade hat ihr Ziel nicht erreicht; es deutet sich auch schon seit Monaten an, dass sie auch nicht mehr sehr viel länger durchsetzbar sein würde: Gaza geht das Trinkwasser aus, der Mangel an Baumaterial hat viele Gebäude zur Gesundheitsgefahr gemacht.
Palästinensische Führung um Abbas stellt sich hinter Hamas
Die offizielle, international anerkannte palästinensische Führung rund um Präsident Mahmud Abbas in Ramallah hat sich am Samstag hinter die Hamas gestellt. Gleichzeitig äußern PLO-Funktionäre die Sorge, dass die Hamas auch im Westjordanland mobil machen und Siedlungen im großen Stil angreifen könnte.
Mit ihrem Angriff hat sich die Hamas auch als Alternative zur völlig überalterten, extrem unbeliebten Abbas-Regierung angeboten – die wiederum, darauf deuten Hintergrundgespräche mit Personen aus Abbas’ Umfeld hin, dafür wirbt, den Gazastreifen wieder unter die Kontrolle Ramallahs zu stellen. Das Konzept: die palästinensische Polizei würde in den Städten für Ordnung sorgen. Das Problem: Mit Freiheit hätte das nichts mehr zu tun; Israelis wie Palästinenser könnten Gaza wohl nur mit Repression kontrollieren.
Wie es dazu gekommen ist, dass die Kassam-Brigaden, die Hamas in den Köpfen den Weg von Terroristen zu Kämpfern und Politikern und zurück hingelegt haben, hat viel mit den Dynamiken zu tun: Als die Hamas 2006 zunächst die palästinensische Parlamentswahl gewonnen, dann 2007 die Kontrolle über Gaza übernommen, dort staatsähnliche Strukturen geschaffen hatte, erschien erstmals ein neuer Typ Hamas-Funktionär in der Weltöffentlichkeit: Leute, die argumentierten, die darüber sprachen, ob die komplette Ablehnung der Existenz Israels noch zeitgemäß sei.
Währenddessen wurde Abbas im Laufe der Jahre immer älter, immer unbeliebter, immer autokratischer und hielt daran fest, Gaza trotzdem wieder regieren zu wollen. Irgendwann sah man ihn in Israel nicht mehr als Verhandlungspartner – und begann, mit ägyptischer Vermittlung, mit der Hamas zu sprechen. Vergeblich, wie sich nun gezeigt hat.