"Herr Assange hat niemals falsche Informationen veröffentlicht"
Dokumentiert: Brief des UN-Sonderberichterstatters Nils Melzer an US-Präsident Donald Trump
Zum Gerichtsverfahren gegen den Gründer der Enthüllungsplattform WikiLeaks, Julian Assange, dokumentiert Telepolis einen offenen Brief des UN-Sonderberichters zum Thema Folter, Nils Melzer, an den scheidenden US-Präsidenten Donald Trump. Melzer spricht sich darin zum wiederholten Male für eine Begnadigung des 49-jährigen australischen Journalisten aus, der seit Mitte April 2019 in Großbritannien inhaftiert ist.
Der UN-Funktionär hält den britischen Behörden seit der Inhaftierung Assanges vor, mit den Haftbedingungen und der Behandlung des Journalisten gegen das Folterverbot zu verstoßen. Weder die britische Regierung noch andere westliche Regierungen haben auf die Hinweise reagiert.
Nach einer von Unregelmäßigkeiten und Intransparenz überschatteten monatelangen Verhandlung wird Richterin Vanessa Baraitser am heutigen Montag um zehn Uhr (Ortszeit) das Urteil verkünden. Sie entscheidet dann, ob der Journalist in die USA ausgeliefert wird, wo er sich 17 Anklagepunkten nach dem Antispionagegesetz stellen müsste. Zudem ist Assange in einer erweiterten Anklage wegen Eindringens in Computer angeklagt. De facto droht ihm lebenslange Haft.
Mr. President,
ich bitte Sie respektvoll, Julian Assange zu begnadigen.
Herr Assange ist in den letzten zehn Jahren willkürlich seiner Freiheit beraubt worden. Das ist ein hoher Preis für den Mut, wahre Informationen über staatliches Fehlverhalten weltweit zu veröffentlichen.
Ich habe Herrn Assange im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London besucht, zusammen mit zwei unabhängigen Ärzten, und kann bestätigen, dass sich sein Gesundheitszustand derart verschlechtert hat, dass sein Leben in Gefahr ist. Kritisch ist auch, dass Herr Assange nachweislich an einer Atemwegserkrankung leidet, die ihn in der Covid-19-Pandemie extrem gefährdet, zumal sie seit Kurzem auch das Gefängnis betrifft, in dem er inhaftiert ist.
Ich bitte Sie, Herrn Assange zu begnadigen, denn er ist kein Feind des (US-)amerikanischen Volkes und war es auch nie. Seine Organisation, WikiLeaks, bekämpft Geheimhaltung und Korruption in der ganzen Welt und handelt daher im öffentlichen Interesse sowohl des (US-)amerikanischen Volkes als auch der Menschheit insgesamt.
Ich wende mich an Sie, weil Herr Assange niemals falsche Informationen veröffentlicht hat. Die Ursache für jegliche Rufschädigung, die durch seine Veröffentlichungen entstanden sein mag, ist nicht in seinem Fehlverhalten zu suchen, sondern in dem Fehlverhalten, das er aufgedeckt hat.
Ich wende mich auch an Sie, weil Herr Assange keine der Informationen, die er veröffentlicht hat, gehackt oder gestohlen hat. Er hat sie aus authentischen Dokumenten und Quellen auf die gleiche Weise erhalten, wie jeder andere seriöse und unabhängige investigative Journalist im Zuge seiner Arbeit. Während wir persönlich mit seinen Veröffentlichungen übereinstimmen oder nicht übereinstimmen mögen, können sie doch keinesfalls als Verbrechen angesehen werden.
Ich wende mich auch an Sie, weil die strafrechtliche Verfolgung von Herrn Assange für die Veröffentlichung wahrer Informationen über schwerwiegendes behördliches Fehlverhalten, sei es in (den Vereinigten Staaten von) Amerika oder andernorts, darauf hinauslaufen würde, "den Botschafter zu erschießen", anstatt das von ihm aufgedeckte Problem zu korrigieren. Dies wäre unvereinbar mit den Grundwerten der Gerechtigkeit, der Rechtsstaatlichkeit und der Pressefreiheit, wie sie in der (US-)amerikanischen Verfassung und in den von den Vereinigten Staaten ratifizierten internationalen Menschenrechtsinstrumenten festgeschrieben sind.
Ich wende mich an Sie, weil Sie, Herr Präsident, geschworen haben, Korruption und Fehlverhalten der Regierung zu bekämpfen; und weil eine fortgesetzte Strafverfolgung von Herrn Assange bedeuten würde, dass in Folge Ihrer Präsidentschaft die Bekanntgabe der Wahrheit über Korruption und Fehlverhalten zu einem Verbrechen geworden ist.
Indem Sie Herrn Assange begnadigen, Herr Präsident, würden Sie eine klare Botschaft der Gerechtigkeit, der Wahrheit und der Menschlichkeit an das (US-)amerikanische Volk und an die Welt senden.
Sie würden einen mutigen Mann rehabilitieren, der mehr als ein Jahrzehnt lang Ungerechtigkeit, Verfolgung und Demütigung erlitten hat, nur weil er die Wahrheit gesagt hat.
Nicht zuletzt würden Sie den beiden jungen Söhnen von Herrn Assange den liebevollen Vater zurückgeben, den sie brauchen und zu dem sie aufschauen. Sie würden diesen Kindern, und durch sie allen Kindern der Welt, vermitteln, dass es nichts Falsches ist, die Wahrheit zu sagen, sondern dass es das Richtige ist; dass es ehrenhaft ist, für Gerechtigkeit zu kämpfen und dass dies in der Tat die Werte sind, für die (die Vereinigten Staaten von) Amerika und die Welt stehen.
Aus diesen Gründen appelliere ich respektvoll an Sie, Julian Assange zu begnadigen. Was auch immer unsere persönlichen Ansichten und Sympathien sein mögen, ich glaube, dass das ungerechte Leiden dieses Mannes nach einem Jahrzehnt der Verfolgung jetzt ein Ende haben muss.
Bitte nutzen Sie Ihre Befugnisse zur Begnadigung, um das Julian Assange zugefügte Unrecht wiedergutzumachen, um seine ungerechte Tortur zu beenden und ihn wieder mit seiner Familie zusammenzuführen.
Ich danke Ihnen respektvoll, dass Sie diesen Appell mit Weitsicht, Großzügigkeit und Mitgefühl zur Kenntnis nehmen.
Seien Sie, Herr Präsident, meiner Hochachtung versichert.
Nils Melzer
UN-Sonderberichterstatter zu Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe