Hirnforschung in den Medien

Seite 3: Es ist doch alles anders

Doch ein paar Jahre nach der "Epiphanie" sah die Welt schon wieder ganz anders aus. In einem Folge-Experiment ließen Haynes und seine Kollegen die Versuchspersonen gegen eine Gehirn-Computer-Schnittstelle antreten (Schultze-Kraft et al., 2016). Die Teilnehmer sollten einen Schalter betätigen, bevor der Computer die Bewegung vorhersagte. Das Ergebnis des "Gehirn-Duells" war ein Unentschieden.

Siehe da: Wenn man anders testet, scheint der Mensch auf einmal nicht mehr unbewusst determiniert, sondern die Kontrolle über seine Entscheidungen zu haben (was Benjamin Libet schon Anfang der 1980-er berichtete). In der Studie selbst gehen die Forscher nicht näher auf das Willensfreiheitsproblem ein:

Die Möglichkeit eines Vetos hat in der Diskussion über den freien Willen eine wichtige Rolle gespielt, was hier nicht weiter diskutiert wird.

Schultze-Kraft et al., 2016, S. 1084; Übers. d. A.

Doch wie würde dann die Berliner Charité, an der Haynes Professor ist, die Ergebnisse präsentieren? Natürlich unter dem Aufmacher der Willensfreiheit: "Wie frei ist der Wille wirklich?". Nachdem er jahrelang vom unbewusst determinierten Menschen sprach, hieß es nun: "Dies bedeutet, dass die Freiheit menschlicher Willensentscheidungen wesentlich weniger eingeschränkt ist, als bisher gedacht", erklärt darin der Hirnforscher.

Schließen wir damit das Thema Willensfreiheit ab: Selbst in Situationen, in denen man Versuchspersonen alles verbietet, was wichtige Entscheidungen sonst ausmacht, können diese bewusst kontrolliert entscheiden. Einige Philosophen, Psychologen und Hirnforscher haben das Bild vom unbewusst determinierten Menschen nur konstruiert. Mitunter wechselt ein renommierter Forscher innerhalb weniger Jahre seine Ansichten radikal.

Aufgrund solch unsicherer Erkenntnisse sollte man besser nicht die ganze Gesellschaft umkrempeln. Insbesondere das Strafrecht tut hier gut daran, nicht gleich jedem Hype hinterherzulaufen. Es ist immerhin das schärfste Schwert im demokratischen Rechtsstaat.

Freiheit - in Grenzen

Heißt das, dass wir völlig frei von unbewussten Einflüssen sind? Natürlich nicht. Schon ein Besuch im Supermarkt setzt uns Reizen aus, die unser Kaufverhalten beeinflussen, ohne dass wir es merken (Mensch in Körper und Gesellschaft: Was heißt Freiheit?). Diese Einflüsse sind aber eher stochastisch und nicht strikt determinierend; und was macht es eigentlich aus, ob man ein Produkt der Marke A oder B kauft; oder etwas mehr hiervon und etwas weniger davon?

Problematisch wäre es, könnte man beispielsweise überzeugte Vegetarier zum Kauf von Fleischprodukten bringen; oder strikte Antialkoholiker zum Griff nach Schnapsflaschen. Das ist aber gerade nicht der Fall. Bei solchen Konstellationen würden wir zudem schnell von Zwang oder Bewusstseinsstörungen sprechen. Das zeigt, dass wir sinnvoll zwischen Zuständen mit mehr oder weniger Freiheit unterscheiden können. Und so handhabt es auch das Recht.

Der Mensch ist also - im Großen und Ganzen - ein bewusster und rationaler (will sagen: im Einklang mit seinen Absichten und Vorlieben) Entscheider. Das schließt nicht aus, dass wir unter bestimmten Bedingungen manipulierbar sind: etwa durch geschickte Werbung, Propaganda, Substanzkonsum oder Drohungen.

Doch selbst in einem Terrorregime wie dem NS-Staat widersetzen sich immer wieder Menschen den äußeren Zwängen. Und so schrieb beispielsweise Sophie Scholl (1921-1943) kurz vor der Hinrichtung auf die Rückseite der Anklageschrift: Freiheit (hier in einer Großaufnahme). Diese ließ sie sich auch von einer Marionette wie dem NS-Richter Roland Freisler (1893-1945) nicht nehmen.

Solche Schicksalsentscheidungen wie die der Mitglieder der Weißen Rose gehören eben auch zur menschlichen Natur. Man vergleiche deren Bedeutung und Tragweite mit den Knopfdrücken, die manch Hirnforscher seinen Versuchspersonen aufzwängt.