Mensch in Körper und Gesellschaft: Was heißt Freiheit?

Eine Untersuchung darüber, wie man am besten im Einklang mit seinen Wünschen und Vorstellungen lebt

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Eines Winterabends lief ich gedankenversunken zum Supermarkt bei mir um die Ecke. Ich dachte über meinen Artikel für die "Cologne Futures" (eine Tagung des Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik in Köln) nach, bis mich etwas Unerwartetes aus den Gedanken riss: Wegen einer Baustelle waren die Gehwege auf beiden Seiten aufgerissen. Jetzt musste ich aufpassen, wohin ich trat.

Den Supermarkt erreichte ich zwar ohne zündende Idee, doch auch ohne in eine Grube zu fallen. Dort lief ich an leergeräumten Regalen vorbei. Darauf standen der Name einer beliebten Schokoladenmilch und das Angebot: "Drei kaufen, eines bezahlen. Gültig nur am Mittwoch." Daneben hatte ein Mitarbeiter etwas fantasielos einen DIN A4-Zettel aus dem Laserdrucker mit großer Arial-Schrift aufgehängt: "Maximal sechs Packungen pro Person!!!"

Dass keine einzige Packung mehr übrig war, zeigte deutlich, was die Kunden von dieser Art Angebot hielten, die sich die Marketingleute inzwischen schon im Tagestakt ausdachten. Ich kam selbst eigentlich nur für Bananen, Saft und Taschentücher im Wert von € 8,91. Der Kassenzettel bezeugte, dass ich den Supermarkt schließlich mit acht verschiedenen Produkten im Wert von € 36,13 verließ.

Der Kassencomputer tröstete mich: "Sie haben € 14,91 gespart." Dabei hatte ich insgesamt € 21,22 bezahlt, also rund zwölf Euro mehr als geplant. Um die Angebote nutzen zu können, musste ich meine Identität als Kunde Nummer xx6534 an das Unternehmen preisgeben. Dafür gab es aber auch noch drei Sparsiegel für ein Servis - am Ende der Aktion würde ich vier volle Karten haben - und zwölf Fußballbildchen, für die Kinder oft am Eingang in der Schlange standen.

Einführung

Was ich hier etwas salopp aufgeschrieben habe, ist von mir als Einstieg in das Thema "Was heißt Freiheit?" durchaus ernst gemeint. Das hat zugegebenermaßen mit dem Problem der Willensfreiheit, das einige Hirnforscher und Philosophen jahrelang öffentlichkeitswirksam diskutierten, nur sehr wenig zu tun. Zum Glück! Dafür hat es meiner Meinung nach aber sehr viel damit zu tun, wie die Umgebung unser Fühlen, Denken und Handeln beeinflusst, insbesondere unsere Entscheidungsfindung. Um diesen Aspekt geht es mir in diesem Artikel mit der etwas unhandlichen Überschrift.

Dafür will ich zuerst etwas über die Erkenntnis- und Erklärungsmöglichkeiten der heutigen Hirnforschung schreiben. So werde ich in den ersten beiden Abschnitten "Beispiel: 'Gedankenlesen' in den Medien" und "Fallstudie: 'Gedankenlesen/-schreiben'" erst als Wissenschaftssoziologe und -Historiker, dann als Wissenschaftsphilosoph schreiben. In dieser Rolle werde ich danach den "Beitrag der Hirnforschung zur Freiheitsdiskussion" zusammenfassen. Den zentralen Abschnitt, "Freiheit in der Praxis", schreibe ich aber als Verhaltens- beziehungsweise Sozialwissenschaftler, bevor ich den Artikel mit meinen "Schlussfolgerungen" beende.

Die vorangegangenen Sätze könnte man auch als meinen "Plan" bezeichnen. Wir werden sehen, ob mir dessen Umsetzung besser gelingt als die Sache mit den Bananen eines dunklen Winterabends…

Beispiel: "Gedankenlesen" in den Medien

Aus den Medien sind wir inzwischen einiges an sensationeller Berichterstattung über die Hirnforschung gewöhnt. Daher dürfte das folgende Zitat aus einer Tageszeitung nur wenige überraschen:

Heute sind es noch Geheimzeichen, morgen wird man vielleicht Geistes- und Hirnerkrankungen aus ihnen erkennen und übermorgen sich gar schon Briefe in Hirnschrift schreiben.

Falls an diesem Zitat doch etwas überrascht, dann ist es nicht sein Inhalt, sondern sein Alter: Es stammt nämlich aus dem Stadt-Anzeiger Düsseldorf vom 6. August 1930, ist also bald neunzig Jahre alt. Der Artikel erschien anlässlich der Entwicklung der Elektroenzephalographie (EEG) durch den Jenenser Professor Hans Berger (zitiert nach Borck, 2005, S. 7). Das Zitat hätte aber genauso gut aus einem aktuellen Artikel stammen können.

Das zeigt zweierlei: Erstens ist die Vorstellung, mit neuen Methoden der Hirnforschung Gedanken "lesen" oder sogar "schreiben" zu können, gar nicht so neu; zweitens sind solche Vorstellungen auch nach bald hundert Jahren immer noch Phantasie. Sind sie das wirklich? Damit nehme ich freilich bereits eine Schlussfolgerung vorweg, auf die ich gleich noch kommen werde.

Eine aktuelle Sensationsmeldung von vergleichbarer Art, jedoch mit kommerziellen Hintergedanken, erschien am 14. Januar 2019 im New Scientist: Laut dem Titel ist ein Gerät zum Gedankenlesen an 10.000 Schulkindern in China getestet worden. Es geht um das "Focus 1" genannte Gerät der Firma BrainCo, das als Bügel über den Ohren aufliegt und über die Stirn verläuft.

Angeblich werden damit Gehirnströme gemessen, die etwas über die Aufmerksamkeit von Schülerinnen und Schülern beziehungsweise Studierenden verraten sollen. Laut dem Werbevideo kann das Lehrpersonal in Echtzeit sehen, wer aufpasst und wer nicht - und dann entsprechend reagieren. Das könnten gleichermaßen motivierende wie strafende Maßnahmen sein.

In der Werbung wird mit bekannten Namen wie Harvard oder NASA suggeriert, dass es sich um ein wissenschaftlich erprobtes Verfahren handelt. In einer Fachzeitschrift publiziert und damit nachprüfbar scheint das Gerät aber nicht zu sein. Jedenfalls werden keine entsprechenden Quellen angegeben.

Bedenklich stimmt mich aber auch der Aufmacher des New Scientist: Direkt unter der Überschrift mit den 10.000 Schulkindern prunkt nämlich ein Foto, das "Focus 1" im Einsatz zeigen soll: Ein junger Lehrer in hellblauem Hemd und dunkler Krawatte beugt sich über einen Tisch, an dem vier junge Frauen sitzen, vielleicht im Alter von 16 bis 18 Jahren. Die Schülerinnen schenken dem Mann ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Über ihre Stirnen wölbt sich das angebliche Gedankenlesegerät.

Die Bildunterschrift lautet, ins Deutsche übersetzt: "Schülerinnen trugen das Focus-Headset und Lehrer konnten mit einer App ihr mittleres Aufmerksamkeitsniveau überwachen." Es scheint also zu funktionieren.

Zwei Haken hat die Sache allerdings: Erstens handelt es sich um eine Abbildung aus dem genannten Werbevideo, was wohl nur denjenigen auffallen dürfte, die es bereits gesehen haben. Die Szene ist also gestellt. Zweitens stammt das Foto deutlich aus einem westlichen, wahrscheinlich nordamerikanischen Kontext und nicht aus China. Es passt also gar nicht zur Überschrift.

Wir sehen, wie die Vorstellung vom Gedankenlesen Menschen fasziniert, von 1930 bis 2019, in der heutigen Zeit mit klarer Gewinnabsicht. Nun muss man fairerweise zwischen wissenschaftlicher Forschung und kommerzieller Anwendung unterscheiden.

Aber auch Forscher sprechen seit den 2000ern mit Blick auf neue Möglichkeiten der funktionalen Magnetresonanztomographie (fMRT) ausdrücklich vom Gedankenlesen, was auch zu meinem gleichnamigen Buch anlass gab (Schleim, 2008). Das lässt sich nicht nur in technik- und wissenschaftsnahen Medien wie Technology Review, Nature oder Science belegen, sondern auch in wissenschaftlichen Fachartikeln etwa über mögliche Anwendungen zur Lügendetektion (Gamer, 2014) oder in der forensischen Psychiatrie (Meynen, 2017).

Bevor ich im folgenden Abschnitt ein wissenschaftlich überprüfbares Verfahren genauer unter die Lupe nehmen will, möchte ich aber der Vollständigkeit halber eine historisch wichtige, heute aber vielen nicht mehr bekannte Forscherpersönlichkeit erwähnen, nämlich José Delgado (1915-2011). Dieser implantierte nicht nur verschiedenen Tierarten - dokumentiert sind Katzen, Stiere und Affen -, sondern in Einzelfällen auch Menschen von ihm "Stimoceiver" getaufte Apparate ins Gehirn, mit denen Hirnströme gemessen aber auch erzeugt werden konnten. Man könnte hier also vom "Gedankenschreiben" sprechen, wenn auch anders verstanden als in dem Zeitungsartikel von 1930.

Delgados Idee, mit einem ins Gehirn implantierten Gerät Gehirnströme sowohl zu messen als auch zu beeinflussen, erlebt gerade eine Renaissance. Erst am 11. Februar 2020 berichtete das Universitätsklinikum Regensburg von dem Versuch, einer Patientin mit einer Zwangsstörung mit Tiefenhirnstimulation zu helfen. "Zwanghaft muss die 36-Jährige alles hinterfragen, besonders sich selbst." Das Gerät übermittelt Signale an das Smartphone der Frau, von wo aus sich die elektrische Stimulation steuern lässt. Nebenbei: In der Mitteilung heißt es, die Problematik bestehe seit dem 18. Lebensjahr und weder Medikamente noch Verhaltenstherapie hätten geholfen. Bei so einer tiefgreifenden Problematik wäre aber doch auch eine tiefenpsychologische Psychotherapie einen Versuch wert gewesen, bevor man gleich das Gehirn operiert! Bild: Universitätsklinikum Regensburg

Delgado baute darauf in seinem 1969 erschienenen Buch "Physical Control of the Mind: Toward a Psychocilivized Society" eine ganze Utopie für eine "psychozivilisierte Gesellschaft". Dabei überrascht - manche würden vielleicht eher sagen: schockiert -, mit welcher Offenheit der Hirnforscher seine chirurgisch-elektrischen Eingriffe ins Menschengehirn zur Lösung gesellschaftlicher Probleme propagiert (Delgado, 1969).

Delgado war wohlgemerkt kein Außenseiter, sondern arbeitete an einer führenden Universität, publizierte in tonangebenden Fachzeitschriften und wurde so einer der Pioniere auf dem Gebiet der Tiefenhirnstimulation. Dieses Verfahren wird heute in bestimmten Fällen zur Behandlung von Parkinson eingesetzt, jedoch auch in psychiatrischen Kliniken erprobt, etwa zur Behandlung von Depressionen (Coenen et al., 2019). Nähere Details habe ich hierzu bereits in meinem Buch "Die Neurogesellschaft" diskutiert (Schleim, 2011).

Fallstudie: "Gedankenlesen/-schreiben"

Die Studie, die ich genauer analysieren will, ist "Conscious Brain-to-Brain Communication in Humans Using Non-Invasive Technologies" (Grau et al., 2014). Bewusste Kommunikation zwischen Menschengehirnen also, die in Medien etwa als "erstmalige Hirn-zu-Hirn 'Telepathie'" oder "Telepathie und Gedankenkontrolle" dargestellt wurde. Vielleicht könnte man auch von "Neurotelepathie" sprechen.

Der Versuchsaufbau war wie folgt: Versuchspersonen sollten sich nach Vorgabe vom Versuchsleiter die Bewegung ihrer Füße oder Hände vorstellen. Ersteres stand für den binären Code "0" und Letzteres für "1". Ein EEG-Gerät beziehungsweise die Gehirn-Computer-Schnittstelle maß Gehirnströme im motorischen Kortex, der mit Bewegungen zusammenhängt. Ein Computer erkannte die gemessene Aktivität dann als "0" oder "1" und sendete schließlich eine gesamte Botschaft der Form "00101110…" an einen zweiten Computer, den Empfänger.

Dieser erzeugte mit einer Magnetspule (Transkranielle Magnetstimulation, TMS) am Kopf einer zweiten Person einen Impuls, der entweder zur Wahrnehmung eines Lichtblitzes, genannt Phosphen, führte oder nicht. Diese Versuchsperson berichtete dann, ob sie etwas gesehen hatte, was schließlich als "1" oder "0" interpretiert wurde. Die so übermittelten Botschaften waren übrigens binäre Übersetzungen der Wörter "hola" und "ciao" (Grau et al., 2014).

Dem geneigten Leser fällt hoffentlich von selbst auf, dass es unter diesen Versuchsbedingungen ziemlich weit hergeholt ist, von "bewusster Gehirn-zu-Gehirn-Kommunikation" oder gar "der Verwirklichung der ersten menschlichen Gehirn-zu-Gehirn-Schnittstelle" (Grau et al., 2014) zu sprechen, geschweige denn von Gedankenübertragung (Telepathie).

Das liegt daran, dass der Übertragung zahlreiche Akte kommunikativer Verständigung und Interpretation vorangingen: Verabreden wir, dass "Fuß-Aktivierung" im Gehirn "null" bedeutet und "Hand-Aktivierung" "eins". Und vereinbaren wir, dass kein Phosphen "null" bedeutet und ein Phosphen "eins". Die angeblich so direkte Gehirn-zu-Gehirn-Kommunikation setzt auffallend viele zwischenmenschliche Absprachen voraus.

Es wäre wohl eine viel direktere Form der Kommunikation gewesen, hätte die erste Versuchsperson die zweite schlicht angerufen - eine Technologie aus dem 19. Jahrhundert - und "hola" und "ciao" gesagt. Auch diesem Kommunikationsvorgang kann man so beschreiben, dass ihm Gehirnprozesse zugrunde liegen, nämlich in den Sprech- und Hör-Arealen des Gehirns.

Manche Forscher, die sich intensiver mit neurowissenschaftlichem Gehirn- oder Gedankenlesen auseinandergesetzt haben als Grau und Kollegen (z.B. Haynes & Rees, 2006; Kay et al., 2008), mögen vielleicht einwenden, dass die hier besprochene Studie von schlechter Qualität ist. Ich vertrete aber den Standpunkt, dass auch anspruchsvollere Versuche, mit denen man etwa gesehene Bilder anhand von Gehirnaktivierung rekonstruieren wollte, letztlich auf statistische Interpretationsvorgänge hinauslaufen, die auf bestimmten Vereinbarungen beruhen.

Es ist also keinesfalls so, als würde man einen konkreten Gedanken oder auch nur einen bestimmten psychischen Prozess im Gehirn identifizieren beziehungsweise lesen (Schleim, 2008; 2011). Das vollständige Argument hierfür muss ich aus Platzgründen aber auf eine andere Gelegenheit verschieben.

Nur so viel sei noch gesagt: Zur vorläufigen Beurteilung, wie "echt" ein Versuch des Gedankenlesens ist, sollte man die folgenden beiden Kriterien berücksichtigen: Erstens, wie viel Mitarbeit und Interpretationsarbeit durch Menschen ist notwendig? Zweitens, würde das Verfahren auch bei Personen funktionieren, die nicht kooperieren - oder sich sogar aktiv widersetzen? Wie wir bereits gesehen haben, werden entsprechende Versuche bereits im Kontext von Lügendetektion und kriminellem Verhalten diskutiert.

Nach dieser Diskussion der Geschichte und einiger neuerer Versuche des neurowissenschaftlichen Gedankenlesens möchte ich in der Mitte des Artikels aber noch auf den Beitrag der Hirnforschung zur Freiheitsdiskussion eingehen.

Beitrag der Hirnforschung zur Freiheitsdiskussion