Hybris der Konfrontation: Warum Deutschlands Anti-China-Politik eine Sackgasse ist

Wolfram Adolphi

Bundeskanzler Scholz trifft in Beijing (Peking) Chinas Staatspräsidenten Xi Jinping, 4. November 2022. Bild: Bundesregierung / Imo

Die deutsche Regierung setzt auf Blockbildung. Das ist nicht nur falsch, sondern gefährlich. Warum man auf das schauen sollte, was China will. Gastbeitrag.

Mit seiner enormen weltwirtschaftlichen Bedeutung verbindet die Volksrepublik China den Anspruch, weltpolitische Großmacht zu sein. Angesichts einer internationalen Ordnung im Umbruch beobachten das die Staaten des Globalen Westens mit Sorge.

Dr. Wolfram Adolphi ist Dipl.-Staatswissenschaftler und Publizist. Er arbeitet insbesondere zu China.

Doch statt China auf Augenhöhe zu begegnen und gemeinsam Weltpolitik zu betreiben, um globale Krisen zu bewältigen, hält der Westen an altem Dünkel fest. Das ist eine Sackgasse.

Am 30. September 2022 hielt der chinesische Botschafter in Deutschland, Wu Ken, aus Anlass des 73. Jahrestages der Gründung der Volksrepublik China und des 50. Jahrestages der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen China und der Bundesrepublik Deutschland in Berlin eine Rede. Auch er sprach dabei über eine "Zeitenwende".

Er bezog sich jedoch nicht auf den russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022, sondern auf "die Zeitenwende von der Blockkonfrontation während des Kalten Krieges hin zu Frieden, Entwicklung und Multipolarisierung des internationalen Systems".

Die doppelte Zeitenwende

Der Unterschied ist eklatant. Während die Nato ihren Zeitenwende-Begriff als Chiffre für eine neue, weltweite Blockkonfrontation verwendet, betrachtet China genau das Gegenteil als Zeitenwende: die Abkehr von dieser Blockkonfrontation, ihre Auflösung in einer multipolaren Welt.

So eklatant der Unterschied selbst ist, so eklatant sind seine Folgen. Auf der einen Seite deutet China die von ihm gemeinte Zeitenwende als Moment der Befreiung, in dem es einen neuen Platz in der internationalen Gemeinschaft einnehmen kann und seine Politik auf Universalität und "Global Governance" ausrichtet, auf Augenhöhe mit den führenden Staaten der Erde.

Auf der anderen Seite betrachtet die Nato die von ihr verkündete Zeitenwende als unabwendbaren Prozess neuerlicher Blockbildung und "System"-Konfrontation zwischen "Demokratie" und "Autokratie", der von De-Globalisierung sowie gesellschaftlicher, kultureller und weltanschaulicher Abgrenzung begleitet wird.

Das Bündnis arbeitet in diesem Zusammenhang an Strategien, mit denen China als vermeintlicher Mitverursacher dieser Entwicklung mindestens in seine Schranken gewiesen werden soll.

China auf "bedrohlicher" Augenhöhe mit dem Westen

Was ist geschehen? China ist tatsächlich wieder Weltmacht geworden. Wieder. Nach einer "Pause" von 200 Jahren, die in drei Etappen zerfällt: erstens ein Jahrhundert der Ausbeutung und Demütigung durch den westlichen und russischen Imperialismus, zweitens drei Jahrzehnte des national-revolutionären und gegen die Aggression Japans gerichteten Befreiungskampfes sowie drittens sieben Jahrzehnte der Entwicklung der 1949 gegründeten Volksrepublik.

Es ist also weltgeschichtlich ein Zustand (wieder-)hergestellt, wie er aus Sicht des Autors dieser Zeilen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bereits bestanden hatte. Inzwischen leben 1,4 Milliarden Menschen in der Volksrepublik.

Das sind ein Sechstel der Weltbevölkerung, die sich international auf Augenhöhe mit den USA befinden, deren Bevölkerung mit 330 Millionen ein Fünfundzwanzigstel der Menschheit ausmacht. Wie bemisst sich "Augenhöhe"?

Wirtschaftlich lässt sich das Bruttoinlandsprodukt heranziehen. China lag hier mit 18,1 Billionen US-Dollar im Jahr 2022 auf Platz zwei hinter den USA (25,5 Billionen US-Dollar) und vor Japan (4,2 Billionen US-Dollar), Deutschland (4,1 Billionen US-Dollar) und Indien (3,4 Billionen US-Dollar).

Ökonomie und Militär

Augenhöhe zeigt sich aber auch in der Bedeutung von internationalem Engagement, in weltweiten Handelsbeziehungen und Investitionen oder im Bereich der kulturellen und wissenschaftlichen Zusammenarbeit. In militärischer Hinsicht kann dagegen von Augenhöhe keine Rede sein.

So unterhalten die USA mehr als 750 Militärbasen im Ausland, China ganze vier. Bei den Militärausgaben lagen die USA im Jahr 2022 mit 877 Milliarden US-Dollar vor China mit 292 Milliarden US-Dollar. Das bedeutet Platz zwei, vor Russland mit 86,4 Milliarden US-Dollar und Indien mit 81,4 Milliarden US-Dollar.

Der wirtschaftliche Aufstieg Chinas sollte global betrachtet Grund für einen optimistischen Blick in die Zukunft bieten. Ist nicht wachsender Wohlstand ein allgegenwärtiger Traum?

Westen sieht China als Konkurrent

Ist nicht positiv, dass die chinesische Gesellschaft es geschafft hat, sich aus dem Elend der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu befreien und in den vergangenen 45 Jahren einen modernen Staat zu errichten, in dem sich Industrie und Landwirtschaft, Infrastruktur, Städtebau, Wissenschaft und Bildung, Gesundheitswesen und Außenhandel auf hohem und höchstem internationalem Niveau befinden?

Liegt in all dem nicht Hoffnung auch für andere Regionen der Welt? Die Staaten des Globalen Westens – die Mitgliedsländer der Nato und der EU, dazu Japan und Australien – mögen sich zu einer solchen Sicht auf die Dinge nicht durchringen. Sie bleiben gefangen in ihrem Blick auf eine Welt von Konkurrenz, Konflikt und Krieg.

Der Aufstieg Chinas wird vor allem als Bedrohung des eigenen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells gesehen. Die im Juli 2023 beschlossene China-Strategie der deutschen Bundesregierung ist dafür ein aussagekräftiges Beispiel.

Deutschlands Anti-China-Strategie

China ist dieser Strategie zufolge für Deutschland dreierlei: "Partner, Wettbewerber, systemischer Rivale". Praktisch scheint gegenwärtig die Sicht auf China als Rivale zu dominieren. Das ist fatal.

Die Annahme einer "System-Rivalität" überschattet alles andere und nährt die seltsame Vorstellung, es sei im Ringen um die Lösung der Menschheitsprobleme noch Platz für einen "System-Wettbewerb", bei dem ein "System" als Gewinner vom Platz geht.

Die Bundesregierung sieht sich "naturgemäß" auf der Gewinnerseite und füttert entsprechend bedenkenlos den Dünkel, wonach Deutschland "das Gute" verkörpere und China "das Böse".

"Mit Sorge" sieht sie, dass China versuche, "die internationale Ordnung entlang der Interessen seines Einparteiensystems zu beeinflussen und dabei auch die Grundfesten der regelbasierten Ordnung, wie beispielsweise die Stellung der Menschenrechte, zu relativieren".

Dünkel der Überlegenheit

Es missfällt ihr, wie China "das Verhältnis zu Russland" ausbauen wolle und schließlich gar "im Indo-Pazifik immer offensiver eine regionale Vormachtstellung" beanspruche, wo es doch "deutsches Interesse" sei, "globale öffentliche Güter nachhaltig zu schützen", weshalb man auch dort die "sicherheitspolitische und militärische Zusammenarbeit zu engen Partnern ausbauen" werde zur "Wahrung der regelbasierten internationalen Ordnung".

Was China selbst sagt, spielt in der Strategie keine Rolle. Sie wird nicht im Dialog mit chinesischen Positionen entwickelt, sondern ausschließlich auf der Grundlage eigener Annahmen und Interpretationen. Hier zeigt sich der Dünkel, der gleicher Augenhöhe entgegensteht.

Dieser Dünkel der Überlegenheit des eigenen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems, der eigenen Kultur, Philosophie und Weltanschauung gegenüber allen anderen gehörte seit jeher zur Grundausstattung von Imperialismus und (Neo-)Kolonialismus.

Und regelmäßig wurde, was als unterlegen definiert war, zum Zwecke von Feindbildschärfung und Heimatfrontbegradigung noch zur Bedrohung erklärt: im Falle des Blicks auf China mit der Beschwörung der "Gelben Gefahr".

Krieg in der Ukraine und die Taiwan-Frage

Der beschriebene Dünkel feiert fröhliche Urständ. Auch und gerade mit der vom Westen gemeinten "Zeitenwende".

Deren Ausrufen im Kontext des russischen Überfalls auf die Ukraine ist nur dadurch tragfähig, dass erstens die Vorgeschichte dieses Krieges konsequent ausgeklammert wird, zweitens die seit 1991 vom Westen geführten Kriege (Irak, Jugoslawien, Afghanistan, Libyen, Syrien) entweder nicht mehr erwähnt oder einer als längst überwunden Epoche zugeordnet werden, drittens dieser Krieg durch Gleichsetzung mit dem Zweiten Weltkrieg maßlos überhöht und viertens Russland sowie Putin so dämonisiert werden, dass sie völlig außerhalb dessen zu stehen scheinen, was der Westen als "Weltgemeinschaft" apostrophiert.

Es braucht den alten Dünkel, um davon auszugehen, dass die ganze Welt dieser Engführung von Geschichte und Gegenwart folgt. Und es braucht ihn, um über China so reden zu können, wie es die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock am 14. September 2023 in ihrem Interview mit dem US-Fernsehsender Fox News tat: "Falls Putin den Krieg gewinnt", sagte sie, "was wäre das für ein Zeichen für andere Diktatoren in der Welt? Wie etwa für Xi, Chinas Präsident?" (Berliner Zeitung vom 17. September 2023).

Weil China die westliche "Zeitenwende"-Lesart nicht teilt, hat es in Baerbocks Augen seine Rolle als "systemischer Rivale" bekräftigt. Und weil sie Staats- und Parteichef Xi Jinping als "Diktator" sieht, darf sie ihn ohne Weiteres mit Putin gleichsetzen.

Auf Eskalationskurs

Und weil der eine einen Krieg führt, ergibt sich gleichsam von selbst, dass auch der andere nur darauf wartet, einen Krieg zu führen. So einfach ist die Welt für die deutsche Außenministerin. Da ist es dann auch ganz "natürlich", dass sie nicht das geringste Interesse daran gezeigt hat, die chinesischen Vorschläge für Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine ernst zu nehmen oder gar zu unterstützen.

Selbstredend ist sie mit ihrer Position nicht allein. In den USA mehren sich die Stimmen, die sich davon überzeugt geben, dass Xi so, wie Putin die Ukraine angegriffen hat, Taiwan überfallen werde. Und es wird in ähnlicher Weise wie in der Ukraine in den 2010er-Jahren mit Provokationen nicht gespart.

Kongressabgeordnete aus den USA besuchen Taiwan, Abgeordnete des Deutschen Bundestages tun es ihnen gleich, es gibt Waffenlieferungen aus den USA, und im mächtigen Feld der Propaganda wird vehement der Eindruck vermittelt, als sei Taiwan eine eigentlich selbstständige politische Einheit.

China weiß, was der Westen mit Russland gemacht hat

Zum Dünkel des Westens gehört es zu glauben, die andere Seite merke nichts, erkenne nicht die Selbstgerechtigkeit, mit der sich der Westen daranmacht, seine Interpretation der Dinge im öffentlichen Bewusstsein geltend zu machen.

Aber China hat selbstverständlich den Zerfall der Sowjetunion, die auf ihn folgende Ausdehnung der Nato nach Osten und die Nutzung einiger zentralasiatischer ehemaliger Sowjetrepubliken für den Krieg der Nato in Afghanistan sehr genau beobachtet. Auch ist ihm die Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad 1999 im Gedächtnis geblieben.

Und selbstverständlich kennt es den westlichen Umgang mit der Ukraine, die inkonsistente, auf die Sicherung der eigenen Machtposition bedachte Anerkennung des Rechts einzelner Bevölkerungsgruppen auf Selbstbestimmung durch den Westen und nicht zuletzt die zahlreichen Widersprüche in der Auslegung der Menschenrechte, wenn es etwa um den arabischen Raum, den afrikanischen Kontinent oder die gesamte Migrationsproblematik geht.

Die Zukunft der Menschheit im Blick

Die UN-Vollversammlung 2023 zeigt nachdrücklich, dass im Globalen Süden die Ungeduld wächst. Der Krieg in Europa bindet ungeheure Ressourcen, die in der Welt zur Krisenbewältigung dringend gebraucht werden, in einer Welt, in der der Klimawandel die Lebensgrundlagen von Hunderten Millionen Menschen bedroht, in der Kriege, Kriegsankündigungen und Rüstungsanstrengungen die Gefahr des Ausbruchs eines Dritten Weltkrieges immer größer werden lassen und in der die unveränderte Ausbeutung des Südens durch den Norden millionenfache Flucht zur Folge haben.

Würde der Westen China auf Augenhöhe begegnen, würde er sich mit den Positionen, die Xi Jinping auf dem 20. Parteitag der KP Chinas im Oktober 2022 verkündete, ernsthaft auseinandersetzen. Xi erteilte sowohl der Vorstellung eine klare Absage, China beanspruche eine weltpolitische Führungsrolle, als auch der Idee, es strebe nach neuer Blockbildung. Stattdessen betonte er:

China setzt auch weiterhin auf Dialog und Konsultation, um eine Welt mit dauerhaftem Frieden zu schaffen; auf gemeinsamen Aufbau und gemeinsame Teilhabe zur Schaffung einer Welt mit gemeinsamer Sicherheit; auf Zusammenarbeit und gemeinsames Gewinnen für eine Welt mit gemeinsamer Prosperität; auf Austausch und gegenseitiges Lernen zur Schaffung einer offenen und inklusiven Welt; sowie auf grüne und kohlenstoffarme Entwicklung für eine saubere und schöne Welt.

Es gelte, so heißt es weiter, "die Vielfalt der Zivilisationen der Welt zu respektieren, durch den Austausch der Zivilisationen kulturelle Barrieren zu überwinden, Kulturkonflikte durch gegenseitiges Lernen zu verhindern und durch ein harmonisches kulturelles Miteinander mit kultureller Überheblichkeit aufzuräumen und so den verschiedenartigen globalen Herausforderungen gemeinsam zu begegnen."

Das Medienversagen bei China

Der eingangs zitierte Botschafter Wu Ken hat am 30. September 2022 seinem deutschen Publikum ebenfalls versichert, dass China die eigene Entwicklung nicht vorantreibe, "um andere herauszufordern, zu ersetzen oder mit ihnen zu konkurrieren, sondern um dem chinesischen Volk ein besseres Leben zu ermöglichen und zu einer besseren Version seiner selbst zu werden."

Ohnehin liege doch – "egal ob im Osten oder Westen" – "die eigentliche Wettbewerbsfähigkeit darin, sich immer wieder selbst zu übertreffen, und nicht darin, andere einzudämmen." All diese Vorschläge sind in der deutschen Öffentlichkeit kaum präsent.

Sie werden von den Mainstream-Medien entweder ausgeblendet oder als Propaganda abgetan. In einer Zeit, da nichts so erforderlich ist wie weltweite Verständigung und Kooperation, ist der sich in neuer Blockkonfrontation einigelnde Westen bemüht, seine Deutung der Welt als geltende durchzusetzen.

Wenn aber eine Gesellschaft, die sich als Wissensgesellschaft versteht, glaubt, im Besitz der alleinigen Wahrheit zu sein und sich um ihrer selbst willen im Dauerkonflikt mit China liegend sieht, mit einem Sechstel der Menschheit, dann kann das nichts anderes sein als eine Sackgasse!

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Welttrends und wird in der kommenden Magazinausgabe im Januar 2024 veröffentlicht.

Dr. Wolfram Adolphi, geb. 1951, ist Dipl.-Staatswissenschaftler und Publizist. Er arbeitet insbesondere zur Geschichte und Gegenwart Chinas und der deutsch-chinesischen Beziehungen.