"Ich rieche, rieche Menschenfleisch…"

Haben wir einander zum Fressen gern?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Pflegten unsere Vorfahren einander zu verspeisen? Es gibt archäologische und genetische Hinweise darauf, dass unsere Urahnen Menschenfresser waren. Aber Hinweise sind noch keine Beweise.

In Deutschland ist gerade eine rege Diskussion um die öffentliche Förderung des Kannibalen-Filmprojekts mit dem Titel "Dein Herz in meinem Hirn" von Rosa von Praunheim entbrannt. Die CDU-Landtagsfraktion ist empört, dass die Filmstiftung Nordrhein-Westfalen das Projekt mit 20.000 Euro fördert. "Es ist eine ungeheure Geschmacklosigkeit, überhaupt so einen Film zu machen. Und es ist ein handfester Skandal, dass in Nordrhein-Westfalen für so einen Unfug sogar noch Steuergelder zur Verfügung gestellt werden", meint der CDU-Abgeordnete Volkmar Klein (Kein Steuergeld für "Kannibalen"-Verfilmung).

Aufhänger des Filmes wird der Fall der "Kannibalen von Rotenburg" Armin Meiwes sein, der Anfang des Jahres wegen Totschlags zu 8,5 Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Er hatte sein Opfer, das er im Internet kennen gelernt hatte, mit dessen Einverständnis getötet und teilweise verzehrt. In einem Interview sagte Meiwes während des Prozesses, dass er es bereue, getötet zu haben, allerdings mit der Einschränkung: "Das Essen sehe ich aber anders. Durch das Verspeisen ist er ein Teil von mir geworden in der Erinnerung" (Kannibalismus als Zivilisationsphänomen).

Kannibalismus ist Teil der Kultur

Rosa von Praunheim hält die Anthrophagie für einen Teil der "latenten geheimen Wünsche und Vorstellungen in uns allen. Er gehört sozusagen auch zu unserer Kultur. Von der Frühzeit angefangen, wie zum Beispiel in der Religion oder bei Opferritualen – verbunden mit dem Glauben, sich von der Stärke oder Potenz der Feinde etwas einverleiben zu können." Das äußere sich auch in der katholischen Religion, in der Kommunion, erklärte er dem Kurier ("Kannibalismus Teil unserer Kultur").

Für die Psychologen handelt es sich um eine psychosexuelle Störung, die sich oft untrennbar mit sadistischen Motiven vermischt. Freud schrieb dazu: "Indem man Teile vom Leib einer Person durch den Akt des Verzehrens in sich aufnimmt, eignet man sich auch die Eigenschaften an, welche dieser Person angehört haben." Der Menschenfresser fasziniert im Film (zum Beispiel Hannibal Lecter) wie in der Realität, das soll daran liegen, dass wir durch den Blick in diesen Abgrund von Unmenschlichkeit unsere kulturellen Grenzen und Ekelgefühle bearbeiten ("Zum Fressen gern": Eine kleine Kulturgeschichte des Kannibalismus). In allen menschlichen Kulturen gilt das Essen von Menschenfleisch als Tabu (Vom Kannibalismus).

Reale Kannibalen

Aktenkundige Fälle von Menschenfresserei gibt es immer wieder. Gerade erst hat ein verurteilter Kannibale in einem französischen Gefängnis einen Mithäftling getötet und sein Gehirn gegessen (Le sort des détenus malades mentaux posé par un cas de cannibalisme).

Die Kriminalgeschichte kennt eine ganze Reihe von Menschenfressern, zu ihnen gehören z.B. der Serienmörder Karl Denke, Joachim Georg Kroll oder Fritz Haarmann, der seine Opfer durch einen Biss in den Hals tötete, zumindest das Blut seiner Opfer trank und eventuell ihr Fleisch in Dosen verkaufte.

Zu internationaler trauriger Berühmtheit brachten es auch der "Schlächter von Milwaukee" Jeffrey Dahmer, Ed Gein, der Japaner Issei Sagawa und der Russe Andrej Tschikatilo.

Ferdinand Lang als Menschenfresser 1867, Gärtnerplatztheater Berlin

Selbst Diktatoren wurde der Genuss des Fleisches ihrer Feinde immer wieder nachgesagt, so Kaiser Bokassa der Zentralafrikanischen Republik (Der tapfere Präsident) und Idi Amin aus Uganda (Tod eines Massenmörders).

Neben den mörderischen und psychopathischen Kannibalen gibt es aber auch eine völlig profane Variante: der Verzehr von Menschenfleisch als einzige Alternative zum Hungertod. Bei Belagerungen in Kriegszeiten soll das immer wieder vorgekommen sein, z.B. in Breisach während des 30jährigen Krieges (Kannibalismus am Oberrhein) und in Leningrad während des 2. Weltkriegs ("Niemand ist vergessen, nichts ist vergessen"). Auch auf den amerikanischen Pioniertrecks sollen Tote gegessen worden sein, um zu überleben (Donner Party). Der jüngste Fall von derartigem profanen Kannibalismus trug sich 1972 nach einem Flugzeugabsturz in den Anden zu (Auf Leben und Tod – Drama in den Anden).

Historische Strategie der Verleumdung

Sehr viel vorsichtiger muss nach heutigen Erkenntnissen mit den Vorwürfen des angeblich kulturell bedingten, rituellen Kannibalismus umgegangen werden. Juden wurden im Mittelalter Ritualmorde an kleinen Jungen vorgeworden, um Verfolgungen und Vertreibungen zu rechtfertigen (Ritualmordlegende und Hostienfrevel). In Bern, der Hauptstadt der Schweiz, steht ein Brunnen aus dem 16. Jahrhundert, den eine als Jude gekennzeichnete Figur schmückt, die ein Kind verschlingt (Kindlifresserbrunnen). Die Strategie der Diskreditierung funktionierte, denn wer Menschen – geschweige denn Kinder – frisst, verdient es nicht, dass mit ihm menschlich umgegangen wird. So etwas tun nur ganz primitive, grausame Geschöpfe. Wilde, die von Robinson Crusoe gerettet werden müssen, denn wenn ihnen nicht die Zivilisation beschert wird (wenn es sein muss auch mit Gewalt), fressen sie sich ja gegenseitig auf.

Geschichten über Unholde, die Feinde oder sogar eigene Verwandten als Nahrungsmittel betrachten, gehören zum allgemeinen Sagen- und Mythenschatz, sie gehören zu den Märchen. Gibt es überhaupt eine reale Grundlage oder wurde die Gerüchteküche immer wieder angeheizt, um andere Kulturen zu verleumden und zu entwerten? Ist der "Mythos Menschenfresser" mehr als eine Projektion unserer Ängste? Viele Reise- und angebliche Augenzeugenberichte wurden inzwischen von Forschern gründlich untersucht und als unglaubwürdig entlarvt (Plädoyer für Menschenfresser). Ein Blick in die Kochtöpfe der Kannibalen verdeutlichte, dass sie leer sind.

Anthrophagie unserer Vorfahren

Bei aller kritischen Distanz halten immer noch einige Wissenschaftler nicht alle Menschenfresser-Geschichten für Legenden. Einer, der immer noch überzeugt davon ist, dass die Mythen nicht frei erfunden sind, ist der Archäologe Timothy Taylor von der britischen University of Bradford, der den Fernsehsender Channel 4 bei dem Doku-Mehrteiler Cannibal beriet. Er beruft sich auf archäologische Beweise und meint:

Wir können von mit Schnittspuren versehenen Tierknochen darauf schließen, dass Tiere Teil der menschlichen Nahrung waren. Die gleiche Logik sollte auch bei menschlichen Knochen angewendet werden, die mit Schnittspuren versehen sind.

Bearbeite, zerteilte oder abgeschabte menschliche Knochen wurden inzwischen weltweit gefunden. Tim White von der University of California in Berkeley entdeckte in Äthiopien Fossilien des ältesten modernen Menschen, der vor 160.000 Jahren gelebt hat. Die Schädel wiesen Schnitt- und Schabspuren auf, die darauf hinweisen, dass das Fleisch und wahrscheinlich auch das Hirn entfernt wurden. Das könnte ein Hinweis auf Kannibalismus oder spezielle Begräbnisrituale sein (160,000-year-old fossilized skulls from Ethiopia are oldest modern humans).

White fand bereits zuvor ähnlich behandelte humane Knochen, unter anderem Neandertaler-Knochen aus dem Rhone-Tal. Diesen Fund kommentierte der Paläantologe: "Dies ist der endgültige Beweis, dass zumindest einige Neandertaler Kannibalismus praktizierten.” (French and American archaeologists find definitive evidence that Neanderthals ate other Neanderthals some 100,000 years ago). Ähnliche, zerschlagene und ähnlich wie Tierbeuteknochen bearbeite menschliche Skelettteile von Neandertalern wurden auch in Kroatien ausgegraben (Krapina).

Pueblo-Indianer kochten Knochen

Christy Turner von der University of Arizona hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Kannibalismus unter den Anasazi, den Pueblo-Indianer aus dem Südwesten der USA zu beweisen. Er hat ein Buch zu dem Thema geschrieben und ist überzeugt: "Über vier Jahrhunderte wurde im Südwesten der USA und Mexiko Kannibalismus praktiziert." Das Fleisch wurde von den gefundenen Menschenknochen abgelöst, die Gebeine zerbrochen, um an das Mark zu kommen und zudem waren einige Knochen lange über dem Feuer weich gekocht worden.

Richard Marlar von der University of Colorado School of Medicine in Denver konnte noch mehr nachweisen. Er untersuchte neben Knochen und Pötten auch noch versteinerten menschlichen Kot und sein Befund ist eindeutig: hier wurde menschliches Fleisch nicht nur zubereitet, sondern auch verzehrt (Biochemical evidence of cannibalism at a prehistoric Puebloan site in southwestern Colorado). Das könnte aber ebenso wie in der Moderne ein singulärer Fall von profanem Kannibalismus aus Hunger gewesen sein.

Theodor de Bry, Peregination in Americam, 1597

Bill Arens, Anthropologe an der Stony Brook University in New York, ist nicht überzeugt, dass unsere Vorfahren weltweit zur Menschenfresserei neigten: "Was die Studie beweist, ist nur, dass Kannibalismus an dieser Fundstelle vorkam. Sie beweist nicht, dass er weit verbreitet war." Er zweifelt die vielen Berichte von Kannibalismus an, selbst in Papua-Neuguinea war nie ein Forscher beim Festmahl der Eingeborenen dabei:

Von den mehr als 10.000 Anthropologen auf der Welt war nie einer Augenzeuge, wenn ein Mensch geschlachtet und gegessen wurde. Ich fühle mich manchmal wie jemand, der mit seinem Kopf immer wieder auf eine Ziegelmauer stößt. Wir schauen auf ein oder zwei archäologische Funde und sagen, die Leute waren Kannibalen. Es gibt keinen Beweis, dass es kulturellen Kannibalismus gegeben hat.

Tatsächlich gab und gibt es weltweit die seltsamsten Begräbnisrituale, z.B. das Mumifizieren oder die Türme des Schweigens der Parsen, auf denen die Toten abgelegt werden, um Stück für Stück von den Vögeln geholt zu werden (Indien, Bombay – Türme des Schweigens). Manche Verletzungen sind auch durch Krieg oder Unfälle zu erklären, andere durch lange Lagerung im Boden oder mögliche Umbettung von Knochen.

Kuru und die Prionen

Als letzten Beweis zitieren die Befürworter der Theorie, dass unsere Ahnen sich buchstäblich zum Fressen gern hatten, die Studie von John Collinge vom Imperial College in London, der die Prionenkrankheit Kuru, den so genanten "lachenden Tod", bei den Ureinwohner Papua-Neuguineas untersuchte und bei ihnen, die traditionell die Hirne verstorbener Verwandter in einer Art Totenkult verspeist haben sollen, eine verstärkte genetische Resistenz gegen Prionenkrankheiten nachwies (Wandernde Prionen mit langer Inkubationszeit). Als er dann weiter DNS-Muster aus aller Welt näher betrachte, stellte er fest, dass sich in jeder menschlichen Population weltweit derartige Erbmaterialen finden – für ihn ein Beweis, dass alle unsere Vorfahren gerne mal menschliche Eiweiße in Fleischform zu sich nahmen.

Kein schlagender Beweis mahnen die Kritiker, denn die neuen Formen der durch Prionen bedingten Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJK) kamen auch über den Verzehr von Fleisch BSE-infizierter Kühe, die mit Tiermehl gefüttert worden waren, auf den Menschen. Wer sagt also, dass die Neuguineaner nicht ihre Schweine mit infiziertem Schweinefleisch fütterten und dadurch eine ähnliche Kettenreaktion auslösten?

Beobachtet hat eben noch niemand ein Menschenfresser-Ritual. Aber es gibt einen Fall kulturellen Kannibalismus, für den sich zumindest die Nachfahren kürzlich offiziell entschuldigt haben. Die Bewohner der Fidschi-Insel leisteten öffentliche Abbitte dafür, dass ihre Ahnen vor 136 Jahren den Missionar Thomas Baker getötet und verspeist hatten. Die Nabutauta luden im November letzten Jahres dessen Nachfahren zu einer Party ein, um sich dadurch von dem Fluch zu befreien, der seitdem auf ihnen ruhte (Eaten missionary's family get apology).