Ich sehe was nicht, was du auch nicht siehst
Selektive Wahrnehmung: je seltener Dinge sind, desto häufiger werden sie übersehen.
Nach einem Sprichwort soll man einem Auge mehr glauben als zwei Ohren. Die Redensart zeigt, welch hohen Stellenwert der Mensch dem Sehen zumisst. Dabei bedarf es nicht einmal optischer Täuschungen, um unsere Wahrnehmung aufs Glatteis zu führen.
In einer Versuchsreihe sind Wissenschaftler der Harvard Medical School der Frage nachgegangen, warum Menschen, auch wenn sie sich sehr darauf konzentrieren, dazu neigen, Dinge zu übersehen. Im aktuellen Nature berichten sie.
Visuelle Wahrnehmungstests
In vielen Bereichen ist die akkurate Wahrnehmung von klar definierten Objekten lebenswichtig. Von Ärzten erwartet man sie bei der Analyse von Röntgenbildern, Flughafenpersonal braucht sie bei der Kontrolle von Flugzeuggepäck. Doch es ist auch bekannt, dass dabei immer wieder etwas schief läuft: Waffen gelangen an Bord, Tumoren wachsen weiter – weil sie einfach übersehen werden. Jeremy M. Wolfe von der Abteilung für Augenheilkunde der Harvard Medical School, Boston, und seine Arbeitsgruppe vom Visual Attention Lab haben daher in einer Versuchsreihe abgeklopft, warum das so ist.
Erfahrungen mit und Ergebnisse von visuellen Wahrnehmungstests (visual screening tests), bei denen als Aufgabe eine visuelle Suche vorgegeben ist, gibt es hinreichend. Wie Wolfe schreibt, absolvieren Probanden bei solchen Suchtests üblicherweise mehrere hundert Durchläufe, wobei die gesuchten Gegenstände in 50 Prozent der Fälle präsentiert werden. Doch solche Szenarien entsprechen nicht der Realität: Bei routinemäßigen Untersuchungen von Mammographie-Aufnahmen z. B. liegt nach seinen Angaben nur in etwa 0,3 Prozent der Fälle ein Tumor vor.
Kontrolle nach Punkten
Wolfe und sein Team haben nun bei ihrer Testreihe ein Gepäckdurchsuchungsszenario simuliert, bei dem die Probanden wie das Personal an Flughäfen Aufnahmen nach spezifischen Werkzeugen absuchen mussten. Dabei wurden die definierten Zielobjekte („targets“) sowohl mit hoher Frequenz von 50 Prozent präsentiert als auch mit niedrigen Frequenzen von 1 und 10 Prozent. Die Zahl der Gegenstände, die jeweils auf dem Bildschirm zu erkennen waren, variierte zwischen 3 und 18. Um den Ehrgeiz der Versuchspersonen anzustacheln und die Wichtigkeit des Auffindens der definierten Objekte zu unterstreichen, wurde zusätzlich ein Punktesystem eingeführt.
Tomaten auf den Augen
Ihre Ergebnisse haben die Wissenschaftler ziemlich erstaunt. Bei einer Frequenzrate von 50 Prozent lag die Fehlerquote bei 7 Prozent, was für Laborbedingungen ein durchschnittlicher Wert ist. Bei den niedrigeren Frequenzraten jedoch stieg die Fehlerquote dramatisch an: bei 10 Prozent kletterte sie auf 16 Prozent, bei 1 Prozent verdoppelte sie sich sogar auf 30 Prozent.
Warum ist das so, fragten sich die Forscher. Einen ersten Hinweis fanden sie bei den Reaktionszeiten. Danach gibt es eine Schwelle („quitting threshold“), d. h. einen bestimmten Zeitpunkt, an dem Probanden die Suche aufgeben, weil sie glauben keinen der definierten Gegenstände zu finden. Diese Schwelle ist flexibel und sie richtet sich nach der Frequenz, mit der die Objekte zum Einsatz kommen: Bei den niedrigen Präsentationsraten gaben die Probanden ihre Suche schneller auf, und zwar schon nach der Hälfte der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit.
Pseudo-Objekte erhöhen die Fehler
Dem versuchten Wolfe und Kollegen zu begegnen, indem sie zusätzlich nach Pseudo-Zielobjekten suchen ließen. Dabei mischten sie Objekte, die häufig vorkamen, mit Objekten die selten und sehr selten vorkamen, so dass gewährleistet war, dass bei jedem zweiten Suchlauf zumindest ein Objekt zu sehen war. Doch genau das brachte die Wahrnehmung der Versuchsteilnehmer völlig aus der Fassung. Ihnen entging jetzt noch mehr: bei den häufigen Zielobjekten (Frequenz 44 %) lag die Fehlerquote bei 11 Prozent, bei seltenen Objekten (10 %) bei 25 Prozent und bei ganz seltenen (1 %) sogar bei 52 Prozent.
Um sicherzustellen, dass dieses Versagen nicht daran lag, dass die Betrachter mit den Zielobjekten nicht vertraut genug gewesen waren, wurde noch eine weitere Testreihe durchgeführt. Doch auch hier bestätigte sich, was die bisherigen Ergebnisse nahe legten: je seltener ein Zielobjekt präsentiert wird, umso häufiger wird es übersehen.
Natürlich ist den Forschern bewusst, dass ihre Versuche unter künstlichen Bedingungen stattfinden, und dass es einen Unterschied gibt, zwischen einem Probanden, der instruiert wird, Aufnahmen nach bestimmten Objekten abzusuchen, und einem Arzt, der ein Mammographiebild auf einen Tumor untersucht. Trotzdem gibt es ihrer Meinung genug Übereinstimmungen, um weiter nachzuprüfen, ob die Fehlerquoten bei echten, „sozial wichtigen“ visuellen Suchaufgaben ebenso hoch sind und wie dem entgegengewirkt werden könnte.