Identitätspolitik: Stadterneuerung zwischen Budenzauber und Waffenschmuck
Rekonstruktionsarchitektur: Was die Wiedererrichtung historischer Gebäude über unsere Gesellschaft aussagt. Interview über den Kulturkampf hinter den Fassaden.
Bei der Betrachtung von Werken der Rekonstruktionsarchitektur – werden sie nun von Grund auf neu errichtet oder einer "Revision" in Richtung auf einen vermeintlichen Originalzustand unterzogen – stellt sich die Cui-bono-Frage:
Wem nützen sie? Sind sie als Repräsentationsbauten wertneutral, oder verfolgen sie beziehungsweise ihre Bauherren einen Zweck?
Architektur als Aushängeschild: Wer profitiert von historischen Nachbauten?
Die Antwort ist zwiespältig. Einerseits erwecken die den Eindruck, wertfrei zu sein, weil sie "vor"-gefunden sind, weil sie einfach "wieder da" sind, wo sie einmal waren. So und nicht anders.
Andererseits haben sie eine gesellschaftliche Funktion. Sie sollen die – aktuelle – Gesellschaft einen, so wie sie sie im Ursprungszustand einmal geeint hatten. Das läuft auf Identitätspolitik hinaus und diese auf Gemeinschaftlichkeit als Zwangsveranstaltung.
Die schöne Fassade soll die Brüche und Wunden kaschieren, die die Gesellschaft geschichtlich begleiten. In dieser Identitätspolitik stecken Herrschaftsinteressen.
Zum Thema ist jüngst der Band "Bauen am nationalen Haus. Architektur als Identitätspolitik [1]" erschienen. Verfasser ist der Architekt und Architekturtheoretiker Philipp Oswalt, der einige seiner zentralen und sicher auch kontroversen Thesen erläutert.
Der identitätspolitische Anspruch
Was verbindet diese Bauten, was ist Rekonstruktionsarchitektur? Ist es der Versuch oder die Aufforderung, zurückzukehren in die Zeit vor der Moderne, und zwar mit der Stoßrichtung, die Moderne rückwärts zu überspringen? Die erwähnten Rekonstruktionsbauten wurden entweder auf der grünen Wiese – besser auf "Tabula rasa" – noch einmal neu gebaut, oder sie werden als revisionsbedürftig bezeichnet wie die Paulskirche.
Können Sie bitte zunächst in grobem Überblick darlegen, welche Motive in der Rekonstruktionsarchitektur stecken?
Seit den 1980er-Jahren geht es jedoch meist nicht mehr darum, Kriegszerstörungen zu beheben, sondern Identitätspolitik war angesagt. Bauten der Nachkriegszeit sollten nun einer Revision unterzogen werden, unter dem Primat der Schönheitsreparatur des Stadtraums.
Das eigentliche Motiv war, an die Zeit vor 1919 anzuknüpfen. Der identitätspolitische Anspruch wird deutlich in der Funktion des Berliner Schlosses und der Garnisonkirche als Nationalsymbolen.
Aber auch auf die Frankfurter Altstadt trifft es zu. Nicht nur, weil sie Teil des Königswegs der alten Deutschen Kaiser war, auf dem Weg zwischen Römer und Dom. Sondern vor allem in dem Versprechen, dass dieser Teil der Altstadt den Ursprung der Stadt Frankfurt darstelle.
Der sehnsuchtsvolle Blick zurück
Blickte man – das heißt interessierte Kreise – in den 1980er-Jahren sehnsuchtsvoll zurück, so hatte man in der Zeit des Wiederaufbaus nach 1945 vor allem nach vorne geschaut. Das hatte etwas mit der westdeutschen Befindlichkeit zu tun. Man versuchte, die NS-Geschichte zu verdrängen. Auf den wichtigen Positionen fanden sich die Täter wieder. Der gesellschaftliche Frieden wurde durch eine Zukunftsfixierung erkauft, die die Geschichte verdrängte.
Das änderte sich ab den 1980er-Jahren. Man begann, sich im Stadtraum des jüdischen Lebens der Shoa zu erinnern, dann bald auch der deutschen Geschichte vor 1919. Man träumte nicht mehr von einer anderen, besseren Zukunft, sondern von einer anderen, besseren Vergangenheit.
Stadterneuerung zwischen Budenzauber und Waffenschmuck (0 Bilder) [2]
[3]Das Problem ist die Idealisierung
Das Problem ist die Idealisierung, wenn die Idee des angeblichen Ursprungs der Nation den Ursprung des Deutschseins, den Ursprung einer Stadt verkörpern will, wobei man die Möglichkeit einer anderen gesellschaftlichen Identität ausblendet, als hätte es einen Schmerz in der Geschichte nie gegeben.
Die Konflikte, die Brüche in der Geschichte sollen nicht gezeigt werden, sondern es wird davon gesprochen, die Wunden zu heilen. Es soll ein idealisiertes Bild einer aus dem zeitlichen Abstand positiv bewerteten Vergangenheit geschaffen werden.
Berliner Stadtschloss und Nationalprotestantismus
Die Kuppel und das Kuppelkreuz des Stadtschlosses stehen für den Nationalprotestantismus, wo die protestantische Kirche den Schulterschluss erst mit dem preußischen Königtum und dann mit dem Kaiserreich übte.
Die weltliche Herrschaft wird mit dem christlichen Glauben untermauert – ein hochproblematisches Konstrukt, das nicht nur die Kolonialkriege legitimiert hat und die gewalttätigen Kriegsverbrechen des Deutschen Reiches beschönigt und verteidigt, sondern auch die Kriegseuphorie des Ersten Weltkriegs geschürt hat.
Dies gehört zu unserer deutschen Geschichte, aber es ist nichts, womit ich mich im positiven Sinn identifizieren kann.
Die neue Frankfurter Altstadt: Authentisch?
Auch die neue Frankfurter Altstadt soll angeblich den Ursprung der Stadt verkörpern. So einheitlich mittelalterlich war Frankfurt jedoch gar nicht, denn die Altstadt umfasste viele Bauepochen auch jüngeren Datums. Dass das jetzt der Kern der Frankfurter Identität sei, ist absurd.
Das Ganze ist ein bewohntes Freilicht-Museum, ein Symbolbau. Die Touristen kommen vom Flughafen schnell dorthin. Und in Berlin können sie die Kuppel des Schlosses bewundern, nicht ahnend, dass das Schloss in seiner Geschichte deutlich länger ohne Kuppel als mit bestanden hat.
Spur der Steine: Die Garnisonskirche - Geschichtsrevisionismus harter Sorte
Von der Bauherrenschaft wurde behauptet, das Gebäude stehe für christlichen Glauben und preußische Tugenden. Doch wenn man die Predigten der Pfarrer liest, die sie dort gepredigt haben, dann muss man feststellen, dass Hass auf andere Völker und die enthemmte Verwendung mörderisch-kriegerischer Gewalt propagiert worden sind.
Die Pfarrer zelebrierten die Niederschlagung des Boxer-Aufstandes in China, den Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika und den Waffengang in den Ersten Weltkrieg. Das wird religiös verklärt. Der Kriegsdienst wird zum Gottesdienst erklärt. Das kriegsverbrecherische Morden der Soldaten wird zum christlichen Dienst.
Die Nationalsozialisten knüpften mit dem "Tag von Potsdam" am 21. März 1933 an diese Tradition an. Der Handschlag zwischen Hitler und Hindenburg symbolisierte die Staffelübergabe von den alten an die neuen "Eliten".
Können Steine schuld sein?
An diesem Punkt kann man sie packen. Wie ist nun deren Argumentation, da herauszukommen? Indem sie die Nazi-Symbolik als etwas Äußerliches abscheiden, womit sie nichts zu tun haben. Nun können sie unbelastet die Kirche hochziehen und sagen: Die preußische Symbolik ist missbraucht worden.
Die andere damit zusammenhängende Aussage lautet: Können Steine schuld sein? Auch da wird der Bau ideologisch entnazifiziert.
Man sei zum Opfer des Nationalsozialismus, Opfer des Bombenkrieges und Opfer der DDR geworden. Da findet eine Täter/Opfer-Umkehrung statt. Der Tag von Potsdam war kein Missbrauch, sondern eine radikalisierende Fortführung einer unseligen Tradition.
Die Argumentation "Steine können nicht schuldig sein" ist eine rhetorische Figur, die überhaupt nicht tragfähig ist. Die Steine als solche sind nicht schuldig. Aber das Haus ist kein Baustofflager. Ein Stück Stoff ist auch nicht schuldig, aber eine Hakenkreuzfahne symbolisiert etwas, um einen drastischen Vergleich zu bringen.
Das heißt, Symbole bekommen durch ihren gesellschaftlichen Gebrauch in der kollektiven Erinnerung ihre Bedeutung. Und so ist das auch hier der Fall. Nicht umsonst erfreut sich der Wiederaufbau in rechtsextremen Kreisen lebhafter Unterstützung.
Die Argumentationen der Befürworter der Garnisonkirche widersprechen sich diametral. Sie können nicht einerseits sagen, die Kirche stehe für preußische Werte und christlichen Glauben und andererseits behaupten, Steine können nicht schuldig sein. Positive Werte können also dem Gebäude anhaften, negative aber nicht.
Fast so schön wie auf dem Foto
Da kommt diese dialektische Volte ins Spiel, dass die realen Gebäude Kopien der Kopien sind, Abbildungen von Bildern.
Ich kann ein anderes Zitat zur Bestätigung einbringen: "Die Bilder haben das Abgebildete verschluckt." Im Grunde findet hier eine Virtualisierung der zu rekonstruierenden Bauten statt.
Vielmehr waren sein Arbeiten eine Aneignung und Sich-in-Beziehung-Setzen der Gegenwart zur Geschichte. Die Wertvorstellungen der Gegenwart werden in das rekonstruierte Objekt eingeschrieben.
Heute argumentieren die "Rekonstrukteure" mit der Sachzwang-Logik wie die Verkehrsplaner der 1950er-/1960er-Jahre. Sie wollen ja gar keine Diskussion darüber, wie rekonstruiert werden sollte, sondern sie sagen: Wir haben die Fotografien, und wir haben das Computerprogramm, und dann wird "originalgetreu" nachgebildet, als handele es sich um einen technisch-wissenschaftlichen, wertfreien Vorgang.
Unterschlagen wird, dass Geschichte immer eine fabrizierte Erzählung ist, ein Bild, das wir uns heute von der Vergangenheit machen.
Hat sich das Verhältnis zwischen ernsthaften Architekten und einem Großteil des Publikums entfremdet?
Ist das nicht ein einziger Affront? Aber den Medien ist zu entnehmen, dass die Frankfurter Altstadt bei einem Teil des Publikums gut ankommt, und zwar deswegen, weil sie so schön kuschelig ist. Die Frage, die sich daraus ergibt, ist schon dramatisch: Hat sich das Verhältnis zwischen ernsthaften Architekten und einem Großteil des Publikums entfremdet?
In der Nachkriegszeit nannte man dies Bauwirtschaftsfunktionalismus, heute nennt man dies Investorenarchitektur. Ein abschreckendes Beispiel in Frankfurt ist aktuell das Europa-Viertel.
Kulturkampf und Dialog
Die neualten Bauwerke geben den in ihren Werten Verunsicherten Halt. Alles, was von den "objektiven" Vorstellungen und kollektiven Phantasien der "Wir-Gruppe" abweicht, ist indiskutabel. Auf dieses Postulat laufen deren Vorstellungen vom Wiederaufbau verschwundener historischer Gebäude hinaus. Die Frage, die sich daraus ergibt: Schließen sich Rekonstruktionsbauten und modernes Bauen wechselseitig aus?
Da geht es tatsächlich um die Idealisierung einer bestimmten Vergangenheit, um einen Absolutheitsanspruch aus einem identitären Verständnis heraus, um eine fehlende Toleranz für andere Sichtweisen. Was fehlt, ist die Einsicht, dass wir eine heterogene Gesellschaft sind mit unterschiedlichen sozialen Provenienzen und Erfahrungen.
Dieser Absolutheitsanspruch wundert nicht angesichts der Kräfte, die hinter dem Wiederaufbau von Schloss und insbesondere Garnisonkirche stehen. Bei der Garnisonkirche ist die Konzeption des gesamten Wiederaufbaus durch die rechtsradikalen Initiatoren maßgeblich geprägt. Beim Berliner Schloss haben reaktionäre Kräfte den anfangs nicht vorgesehenen Nachbau der Kuppel durchgesetzt.
Grundsätzlich schließen sich jedoch Rekonstruktionsbauten und modernes Bauen nicht wechselseitig aus. Es gibt viele gelungene Beispiele von Rekonstruktionen, darunter nicht zuletzt die Wiederherstellung der Paulskirche in den Jahren 1946 bis '48 und die Neuen Dessauer Meisterhäuser, eröffnet 2014. Mein Buch richtet sich nicht gegen Rekonstruktionen als solche, sondern gegen ein bestimmtes Rekonstruktionsverständnis.
Philipp Oswalt lebt als Architekt und Publizist in Berlin. Von 1988-1994 war er Redakteur der Zeitschrift Arch+. Er war u.a. Leiter des Projekts "Schrumpfende Städte" 2002-2008 und Direktor der Stiftung Bauhaus 2009-2014. Seit 2006 lehrt er als Professor für Architekturtheorie und Entwurf an der Uni Kassel. Er ist engagierter Kritiker einer geschichtsrevisionistischen Rekonstruktionsarchitektur.
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