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Ideologische Grabenkämpfe: Die Sprachfalle links und rechts

Politik im 21. Jahrhundert: Ein Vergleich mit mittelalterlicher Alchemie. Warum die Zuschreibung ins Geschichtsbuch gehört. Ein Essay (Teil 1).

Überraschend soll der deutliche Wahlsieg von Geert Wilders bei den niederländischen Parlamentswahlen gewesen sein. Und in Deutschland rätseln die Fachleute über die Zuwachszahlen der AfD. Offensichtlich haben Wahlforscher, Politikwissenschaftler und Journalisten ein Methodenproblem.

Kein Wunder: Die Politik des 21. Jahrhunderts befindet sich in einem vergleichbaren Zustand wie die Alchemie im Mittelalter. Zur genauen Messung (genau = präzise + richtig) fehlte den Alchemisten die richtige chemische Formel. Was machen wir jetzt falsch?

Die Sprachfalle

Zum ganzen Bild fehlen uns bei jedem Abbildungsversuch der politischen Realität entscheidende Puzzlestücke. Ein wichtiger Grund dafür ist die Verwendung der nach Auffassung des Autors ideologischen Sprachfalle "links" und "rechts".

Auch der Verfassungsschutz in Deutschland arbeitet mit diesen Kategorien. Wie kommt es aber, dass sich diese Klassifikation so standhaft hält?

Quantitative Chemie und politische Nomenklatur

Die Erklärung eines Professors lässt aufhorchen: Links und rechts würden als negativ behaftete Zuschreibungen für das politische Gegenüber verwandt. Die Chemie zeigt uns überraschende Wege auf, wie wir die Nomenklatur politischer Namen reformieren könnten: Politische Namen und Konzepte treffender standardisieren und sie dann quantifizieren.

Den Polit-Alchemismus rund um "links" und "rechts" können wir dann getrost in die Geschichtsbücher entlassen.

Im berühmten Revolutionsjahr 1789 fand in Frankreich eine weit weniger beachtete Revolution statt, die ebenso weittragende Folgen hatte wie die politische Veränderung. Der heute als Vater der modernen Chemie bezeichnete Antoine Lavoisier hatte die quantitative Chemie eingeführt.

Zuvor war Chemie zuvor nur qualitativ und wurde mit (oft irreführenden) Begriffen wie Phlogiston [1] erklärt. Lavoisier zeigte mit seinem neuen Massenerhaltungssatz, wie man chemische Reaktionen eindeutig berechnen kann. Gezählt waren die Tage mit unerwarteten Explosionen in den Chemielaboren. Die quantitative Chemie begünstigte so die Entwicklungen von Dünger, Kalk- und Medizinprodukten.

So positiv steuert die Politikwissenschaft von heute noch lange nicht voran. Ebenfalls seit der Französischen Revolution werden die Begriffe "links" und "rechts" benutzt, und jeder Beschreibung haftet ein großer Makel an.

Links und rechts sind das Phlogiston der Politik, die vagen Puzzleteile zur irreleitenden Erklärung des Ganzen.

Sokrates bis heute: Die Unschärfe politischer Konzepte

Ein Blick zu den Erfindern der Demokratie führt zu Sokrates. Der Mann hatte im antiken Athen die Menschen befragt, was die von ihnen genutzten Konzepte wie Gutsein oder Gerechtigkeit wirklich sind. Wenig überraschend, waren die Antworten unscharf.

Eine Mehrzahl aller Bürger in den westeuropäischen Staaten identifiziert sich mit gewissen politischen Präferenzen. Was nicht heißen muss, dass Wähler auch gemäß ihrer Überzeugung wählen gehen. In der Vergangenheit zeigten Wahlomat-Analysen einen deutlichen Hang von Wählern zu Zielen der Partei Die Linke, was sich aber nie im Wahlergebnis abbildete.

Jean-Paul Sartre hätte dies nicht gewundert, waren für ihn links und rechts nur leere Gefäße ohne evaluative Anwendung und klassifikatorischen Wert.

Vielmehr bleibt feststellen: Politische Positionierungen dienen vor allem dem Brandmauerbau. Meinungsmacherin Erika Steinbach (ex-CDU-Vordenkerin) bezeichnete den Nationalsozialismus als eine linke Diktatur, der CDU-Europa-Abgeordnete Werner Langen verspottete Kritiker des Handelsabkommens TTIP als Kommunisten, für die Russen war die Berliner Mauer der Schutzwall gegen den (rechten) Faschismus und der ZDF-Journalist Wolfgang Herles nannte den Mann, der in Bayern ein radikales Rauchverbot per Volksbefragung durchsetzte, einen grün angestrichenen Jungfaschisten.

Die Lust auf ideologische Grabenkämpfe erscheint allumfassend. Was wäre das Land der Ideologen ohne seine Hexenjagden zur Frage, was im politischen Sinne links und rechts ist?

Links und rechts: Eine gesellschaftliche Perspektive

Laurenz Ennser-Jedenastik, Staatswissenschaftler an der Uni Wien, schreibt auf Anfrage für diesen Beitrag, es gebe nicht wirklich Autoritäten, die festlegen, was die politische links-rechts-Dimension ist. Die Bedeutung von links und rechts sei nicht vorbestimmt, sondern variiere empirisch zwischen einzelnen Bürgern, in verschiedenen Kontexten und im Laufe der Zeit.

Ennser-Jedenastik glaubt, dass die Begriffe sehr stark gesellschaftlich verankert sind, oft allerdings als negative behaftete Zuschreibungen für das politische Gegenüber verwendet werden.

Zwei Grafiken aus der Studie von Delia Zollinger [2] würden zeigen, welche Begriffe Wähler:innen verwenden, um Leute, die ihnen sehr ähnlich bzw. sehr unähnlich sind, zu charakterisieren. Der häufigste Begriff, um die "Outgroup" zu bezeichnen, seien links und rechts.

Der Beginn von links und rechts

Die Kategorisierung in links und rechts war eigentlich ein historischer Zufall.

Wer nach der Revolution in der Französischen Nationalversammlung vom Präsidenten gesehen links saß, fand dort die Sprechergruppe der Revolutionäre: die Befürworter von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, einer Republik als Staatsform und Gegner eines weiteren Krieges (hier gegen Österreich).

Auf der rechten Seite saß die Sprechergruppe der alten Ordnung: das gehobene Bürgertum, Monarchisten und Befürworter eines weiteren Krieges.

Die Logik der Sitzordnungen in linke und rechte Pole bzw. Polarisierungen rettete sich über das deutsche Paulskirchenparlament 1848 bis in heutige Parlamente. Was sich aber über die Zeit andauernd änderte, waren die Bedeutungslast, die auf den Begriffen links und rechts lag.

Nationalismus als linke Ideologie: Ein Blick auf die Anfänge

Mit der Bildung kleinerer Nationen in Europa florierte im 19. Jahrhundert die neue Ideologie vom "Nationalismus". Ein Ideengeber war der französische Philosoph Montesquieu mit seiner Feststellung, das Klima mache den nationalen Charakter und das Wesen der Regierung aus.

Außerdem Thomas Jefferson, der die amerikanische Unabhängigkeitserklärung gegenüber Großbritannien mit der Notwendigkeit formulierte, Kolonien müssten sich vom Erbschaftsrecht Europas lösen.

Regional wollte man nicht mehr fremdbestimmt sein von Staaten, die weiter weg liegen (Italien von Österreich, USA von England, Polen von Russland, usw.). Es keimte die Hoffnung, dass nationale Einheiten besser für soziale Gerechtigkeit sorgen können als ein imperialer Superstaat.

Auf Staatenebene war Nationalismus das linke Vehikel zu den Zielen der Französischen Revolution, analog wie das Recht auf Entfaltung ein individuelles Ziel war.

Der Wunsch nach mehr Rechten auf ein eigenes Schicksal war die greifbare Lossagung gegen die Unterdrückung fremder Herrschaft. Welch' aktueller Gedanke angesichts des Superkonstruktes Europäische Union.

Der deutsche Dichter Herder gab später zum Besten, dass jede Nationalität ihr Glückszentrum in sich selbst habe. Und sein Philosophenkollege Hegel führte aus, Nationalstaaten seien der Zement, der Völker zusammenhalte. Überhaupt gebe es einen übergreifenden deutschen Charakter.

Teil 2: Links und rechts wird mit immer neuen Bedeutungen überfrachtet [4]


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9580458

Links in diesem Artikel:
[1] https://home.uni-leipzig.de/helium/Querdenker/2008/Phlogiston.pdf
[2] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/ajps.12743
[3] https://doi.org/10.1111/ajps.12743
[4] https://www.heise.de/tp/features/Links-und-rechts-Mit-immer-neuen-Bedeutungen-ueberfrachtet-9580464.html