Ignorierte Opfer
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Vor dem Hintergrund der Corona-Krise fristet das Schicksal der Hungernden der Welt ein bedenkliches Schattendasein im öffentlichen Interesse
Derzeit werden mehr oder minder intensiv Diskussionen darüber geführt, ob die Delta-Variante ausgesprochen gefährlich ist, wie die Explosion der Infektionszahlen in Großbritannien, Portugal, Israel und den Niederlanden anzudeuten scheint, oder vielmehr eine positive Nachricht darstellt, weil in den genannten Ländern die Zahl der Covid-Neueinlieferungen auf Intensivstationen in einem relativ geringen Umfang ansteigt, was zum einen auf die geringere Gefährlichkeit der Delta-Variante und die Wirksamkeit der Impfung hinzudeuten scheint.
Währenddessen ereilt Millionen hungernden Menschen in der Welt ein möglicherweise tödliches Schicksal, das kaum mediales Interesse auslöst.
Bereits vor der Corona-Krise eine bedrohliche Zunahme
David Beasley, Exekutivdirektor des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen, betonte nach Ausbruch der Krise im letzten Jahr, dass die Zunahme des weltweiten Hungers keineswegs einzig eine Konsequenz des Virus sei:
Ich habe bereits gesagt, dass 2020 das schlechteste Jahr seit dem Zweiten Weltkrieg sein wird, auf der Grundlage dessen, was wir Ende letzten Jahres prognostiziert haben.
David Beasley
Entsprechend energisch waren daher die Warnungen im Frühjahr des vergangenen Jahres, als die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Krise den weltweiten Handel massiv einschränkten und nicht zuletzt die Ernährungslage in den ärmeren Ländern der Welt bedrohten. Beasly warnte vor einer weltweiten Hungerkatastrophe "biblischen Ausmaßes". Die Warnungen lauteten, dass sich die Zahl der Menschen, die weltweit an massiven Hunger leiden, verdoppeln könnte.
Die UN schlägt Alarm
Der aktuelle Bericht "The State of Food Security and Nutrition in the World 2021", der gemeinsam von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), der Internationaler Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung der Vereinten Nationen (IFAD), dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF), dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verfasst wurde, kommt zu Ergebnissen, die nur als erschreckend bezeichnet werden können.
Zwischen 768 Millionen Menschen litten im Jahr 2020 an Hunger. 118 Millionen Menschen mehr als noch ein Jahr zuvor. Legt man die obere Grenze der Modelle zugrunde, kommt man sogar auf eine Zunahme von 161 Millionen Menschen. Fast doppelt so viele Menschen wie Einwohner der Bundesrepublik Deutschland, die zusätzlich an Hunger litten und als unterernährt gelten.
Betrachtet man die weiter gefasste Kategorie der Menschen, deren Zugang zu Nahrungsmittel im vergangenen Jahr als "unsicher" gilt, betraf dies unfassbare 2,37 Milliarden Menschen. Fast ein Drittel der Weltbevölkerung. 320 Millionen Menschen mehr als im Jahr zuvor.
Meilenweit ist die Welt derzeit von den selbst gesteckten Zielen zur Bekämpfung von Hunger und Armut entfernt. Im Jahr 2015 hatten die Vereinten Nationen einstimmig die Millenniums-Entwicklungsziele durch die Ziele für nachhaltige Entwicklung ergänzt. Bis 2030 sollten weltweit Hunger und Armut ausgemerzt werden.
Aktuell sind diese Ziele in unerreichbare Ferne gerückt und verdeutlichen die katastrophale Entwicklung. So ist der größte Teil der Indikatoren für Mangelernährung weiterhin im kritischen Bereich. Die sogenannte Anämie (Blutarmut) betrifft beispielsweise fast ein Drittel aller Frauen zwischen 15 und 49 Jahren. Seit dem Jahr 2012 hat sich dieses Phänomen nicht verbessert. 22 Prozent der Kinder unter fünf Jahren, weltweit 149 Millionen, leiden an einer Verzögerung ihres Wachstums.
Hehre Ziele
Lange Zeit hatte der Kampf gegen Hunger und Armut als das Ruhmesblatt des Kapitalismus gegolten. Dies sollte man sich vor Augen halten, um zu realisieren, welche Bedeutung es hat, dass die aktuelle Hungerkatastrophe sich in einem weitestgehenden medialen Desinteresse vollzieht.
Angesichts der sogenannten Millenniums-Entwicklungsziele hatten im Jahr 2015 die Vereinten Nationen noch stolz erklärt:
1990 lebte fast die Hälfte der Bevölkerung in Entwicklungsländern in extremer Armut, 2015 waren es nur noch rund 14 Prozent.
Vereinte Nationen
Die UN spricht von der "erfolgreichsten Bewegung zur Verringerung der Armut in der Geschichte". Auch im Hinblick auf den Kampf gegen den Hunger durfte man Großes vermelden:
Der Anteil der unterernährten Menschen in den Entwicklungsländern ist seit 1990 fast um die Hälfte gesunken.
Vereinte Nationen
Nach dem Rechtfertigungsnotstand des Kapitalismus angesichts der Finanzkrise kam dieser Erfolg gerade recht. Das Cato-Institute, eine der wichtigsten Denkfabriken der USA, betitelte daher einen Bericht "Die weltweite Überwindung der Armut ist der Triumph des Kapitalismus." Und der Economist predigte, die Liberalisierung der Märkte sei die stärkste Form, um Armut zu reduzieren.
Taschenspieler-Tricks
Dieses Ruhmesblatt war aber bereits damals keineswegs so ein eindeutiger Beweis des humanen Potenzials des Kapitalismus, wie es auf den ersten Blick zu sein schien. Die verschiedenen Tricks, die angewandt wurden, um das Ziel erreichbarer zu machen, können an dieser Stelle nur skizziert werden.
Jason Hickel, Anthropologe an der London School of Economics, hat in seinem Buch "Die Tyrannei des Wachstum" u. a. zu diesem Thema eine brillante und lesenswerte Analyse geschrieben.
Der erste Trick bestand bereits in der Formulierung der Millennium-Entwicklungsziele. Während 1996 noch von der Halbierung der Anzahl der Unterernährten gesprochen wurde, sollte nun der Anteil der Unterernährten an der Weltbevölkerung halbiert werden. Ebenso bei der Armut.
Dadurch dass damals aber China und Indien eine Bevölkerungsexplosion erlebten, vereinfachte die neue Definition die Erreichung des Ziels (China und Indien kannten zwar Hunger und Armut, aber bei Weitem nicht in so gravierendem Masse wie beispielsweise in der Sahelzone). Denn wenn die Anzahl der weltweit Hungernden und Armen Menschen konstant blieb, würde ihr Anteil an der Weltbevölkerung ganz von alleine abnehmen.
Der zweite Trick war die Vorverlegung des Vergleichsjahrs von 2000 auf das Jahr 1990. Dadurch rückte das Erreichen der Millenniums-Entwicklungsziele schon durch einen Federstrich deutlich näher, denn die Abnahme von Hunger und Armut in der Dekade von 1990 bis 2000, die zu einem sehr hohen Anteil in China stattgefunden hatte, war damit bereits auf der Haben-Seite verbucht.
Der dritte Trick war, dass die Vergleichszahlen - nun - für das Jahr 1990 keineswegs definitiv waren. Die FAO hatte 1992 die Zahl der weltweit Hungernden für das Jahr 1990 mit 786 Millionen beziffert. In ihrem Bericht im Jahr 2004 korrigierte die FAO diese entscheidende Vergleichszahl auf 823 Millionen. Im Bericht von 2011 waren es dann - immer noch für das Jahr 1990 - sogar 833 Millionen. Knapp 40 Millionen hungernde Menschen mehr für dasselbe Jahr.
Dann entschied sich die FAO im Jahr 2012 auch ihre Methode zu ändern, mit der die Anzahl der weltweit Hungernden berechnet wurde. Auch die grundsätzliche Frage, welche Menschen als "unterernährt" betrachtet werden sollen und in die Kategorie fallen, die man im Millenniums Entwicklungsziel halbieren wollte, führt vor Augen, wie diese Gruppe kleingerechnet werden kann.