"Im Verhältnis zur Politik ist die Polizei auch Akteurin"

Seite 3: Welche Polizei braucht unsere Gesellschaft?

Sie entwerfen Denkansätze zu einer Polizei, die die Gesellschaft wirklich brauchen kann. Unter anderem besprecht ihr, neben Defund- und Abolish-Ansätzen, und der Entkriminalisierung von all dem Kleinkram, der die Justiz be- und überlastet, alternative Formen der Konflikteinhegung vor. Zum Beispiel Restorative Justice.

Kann wiedergutmachende Gerechtigkeit funktionieren in einer Gesellschaft, in der Schuld und Strafe als kulturelle Konzepte eine überragende Rolle spielen, wenn es um Konflikt geht? In Nordirland gab es den Versuch, in lokalen Gemeinschaften Restorative Justice zu etablieren.

Nur gab es immer ein Gewalt-Backup. Das wurde zwar Stück für Stück von der IRA an die Polizei übergeben. Was ist dein Eindruck hinsichtlich der Tragfähigkeit alternativer Konzepte, zum Beispiel indigener Traditionen der Konflikteinhegung? Kann das funktionieren, wenn Strafe so tief verankert ist als Konzept für den Umgang mit Delinquenz?

Benjamin Derin: Es ist ein großes Problem, wie unsere Gesellschaft mit ihren Konflikten umgeht. Du hast schon viele Aspekte zusammengefasst. Die Debatte, die wir anstoßen wollen, ist, wie eine Polizei aussehen kann, die anders funktioniert oder besser mit allen Teilen der Bevölkerung klarkommt.

Aber die Polizei, ihre Probleme und ihre Bearbeitung von sozialen Problemen sind fundamental und tiefgreifend mit der Gesellschaft verknüpft. Erforderlich ist auch ein ganz anderes Nachdenken über das, was die Polizei tut. Sie erledigt viele der ihr aufgebürdeten Aufgaben mehr schlecht als recht, die vielleicht andere viel besser bearbeiten könnten. Würde man heute die Polizei neu gründen, käme niemand auf die Idee, dass eine einzige Organisation sich um so unterschiedliche Themen wie Geschwindigkeitsmessung, straffällige Jugendliche und Nachbarschaftsstreitigkeiten kümmert. Das ergibt gar keinen Sinn, das gehört nicht zusammen.

Derzeit werden viele unserer gesellschaftlichen Probleme strafrechtlich oder aus einer Sicherheitsperspektive gedacht. Wäre es eine Gefahr für die Sicherheit, kann man das bekämpfen? Wer wird eine Straftat begehen und wer nicht? Und dann sind das unsere "Lösungen", auch für Themen wie Wohnungslosigkeit, Drogenabhängigkeit und Armut.

Ganz abgesehen davon bleiben die meisten Straftaten in allen Deliktbereichen im Dunkelfeld, sind also schon keiner polizeilichen Bearbeitung zugänglich. Und wir wissen, dass Strafverfolgung wenig bis gar nichts zur Lösung konkreter sozialer Probleme beiträgt.

Das nicht. Aber es ist schon eine Normenverdeutlichung. Es ist auch eine symbolische Botschaft an den Rest der Gesellschaft, es gibt Grenzen und da geht man besser nicht drüber. Sie haben aber völlig recht, es geht auch polizeiloser, wenn es darum geht, Normen zu verdeutlichen.

Benjamin Derin: Im Prinzip ist ja Strafrecht nur ein Teil, vielleicht gar nicht der größte, der polizeilichen Arbeit. Sondern Gefahrenabwehr und Sicherheitsaufgaben. Und für beides muss man gucken, was für Lösungen gibt es und kann es geben.

Wenn zum Beispiel jemand in einer psychischen Ausnahmesituation ist und in seiner Wohnung randaliert. Da kommt man weder aus der Perspektive der Strafbarkeit noch aus der Perspektive der Gefahrenabwehr weiter. Die Polizei kommt da überhaupt nicht weiter, aber häufig ist niemand anderes da.

Das ist ja mit vielen Themen so: Die Polizei hat mehr Themen, die eigentlich nicht polizeiliche Kernaufgabe sind als die, die es sind. Damit läuft man bei Polizeiführungen offene Türen ein. Die beklagen auch, dass andere Behörden Zuständigkeiten an die Polizei delegieren.

Zum Beispiel die Eindämmungsverordnung zur Pandemiebekämpfung ist eigentlich ein Thema für die Gesundheitsämter, nicht der Polizei. Polizei ist stets der allzeit verfügbare Dienst für jeden Unfug. Wann immer andere Behörden Feierabend machen oder sagen, sie hätten keine Ressourcen, soll die Polizei übernehmen. Dieser Konnex ist vielen Bürger:innen wahrscheinlich nicht so bewusst.

Benjamin Darin: Deshalb ist es eine gesellschaftliche und politische Aufgabe, diese Dinge zu entscheiden. Diese Aufgaben kann und darf die Polizei ja gar nicht selbst entscheiden und abgeben.