"Im Winter ist mit einer bedeutenden russischen Offensive zu rechnen"

Russisches Militärmanöver in Wostok (2018). Foto: Pressedienst des Präsidenten der Russischen Föderation / CC-BY-4.0

Kiew hat hohe Verluste zu verzeichnen. Deutsche Waffenhilfe allein ist an der Front nicht entscheidend. Ein Gespräch mit dem Militärexperten Wassili Kaschin über den Verlauf des Ukraine-Krieges aus russischer Sicht.

Wie sehen russische Militärfachleute den aktuellen Kriegsverlauf in der Ukraine? Telepolis sprach über seine Sicht mit Wassili Kaschin, dem Sicherheitsexperten der Russischen Akademie der Wissenschaften. Er ist Senior Fellow am Zentrum für Europäische und internationale Studien an der Higher School of Economics Moskau.

Die Mobilmachung ist in Russland aktuell das am meisten diskutierte Thema überhaupt. Können über die Mobilisierungen die Truppen im Donbass überhaupt rasch verstärkt werden? Schließlich müssen die Reservisten wieder ausgebildet und in Einheiten integriert werden, während die Ukrainer aktuell ihre Offensive fortsetzen.
Wassili Kaschin: Die ukrainische Offensive ist im August in zwei Hauptrichtungen gestartet. In der Region Cherson scheiterte sie weitgehend und die Ukrainer erlitten große Verluste. Im Raum Charkow wiederum gab Russland das gesamte Gebiet sehr schnell auf bis auf einen sehr kleinen Teil. Es gab keine hartnäckige Verteidigung. Russland hat auch Vorräte und militärische Ausrüstung in dortigen Werkstätten zurückgelassen.
Trotzdem sind die Gesamtverluste der russischen Streitkräfte relativ gering. Die Zeit- und Berufssoldaten können die Armee nicht verlassen, solange die Mobilmachung dauert. Sie können einen Einsatz in den Kämpfen nicht verweigern. Ich denke, dass ein Teil der Mobilisierten sie in den Garnisonen in Russland selbst ersetzen wird. Der Rest der Mobilisierten wird, denke ich, ein bis zwei Monate auf den Fronteinsatz vorbereitet.
Nach der Eroberung der Region Charkow wurde die ukrainische Offensive aber fortgesetzt.
Wassili Kaschin: Seitdem sind ihre Fortschritte aber sehr langsam. Etwa die Stadt Liman wurde bis heute nicht eingenommen. Es wurden ein paar Dörfer erobert, etwa am östlichen Ufer des Flusses Oskol. Aber es handelt sich hier um kleine Gebiete, die nun wieder mit schweren Verlusten bezahlt werden. Auch das Ziel der Einkreisung der russischen Truppen in dieser Region wurde nicht erreicht. Isjum haben die Russen geräumt, bevor so etwas geschehen konnte und sie verteidigen sich weiter auf einer neuen Position.
Sehen Sie also die ukrainische Offensive nicht als durchschlagenden Erfolg, wie viele westliche Kollegen?
Wassili Kaschin: Die Ukraine hat sich auf diese Offensive fünf Monate vorbereitet. Als die russischen Truppen sich von Kiew zurückzogen, hat man begonnen, die Streitkräfte dafür zusammenzuziehen. Sie erhielten einen Großteil der westlichen Waffenhilfe. Dennoch sind die Verluste der ukrainischen Truppen sehr groß.
Wie glauben Sie, dass der Kampf aus russischer Sicht weitergeht?
Wassili Kaschin: Die Aufstockung der russischen Truppen in der Ukraine hat schon begonnen. Russland wird in den nächsten zwei bis drei Wochen Defensivaktionen durchführen und vielleicht noch an Territorium verlieren. Aber im November oder im Winter ist mit einer bedeutenden russischen Offensive zu rechnen. Ich rechne mit mehr als doppelt so vielen russischen Truppen bis dahin in der Ukraine.
Ist es nicht schlecht für die Moral an der Front, bevorzugt Kriegsgegner einzuberufen? Wir wissen ja, dass Demonstranten verhaftet und sofort rekrutiert wurden. Oder Leute an der Grenze, als sie das Land verlassen wollten, ihre Einberufung erhielten.
Wassili Kaschin: Beim Thema massiver Mobilisierungskriege mit Zermürbung war der Zweite Weltkrieg das letzte Beispiel in der Militärgeschichte. Viele werden für Hilfszwecke eingesetzt, um dort andere Truppen zu ersetzen, die ins Kriegsgebiet gehen. Einige sind Spezialisten, wie LKW-Fahrer. Es gibt auch Leute, die motiviert zur Einberufung kommen, man muss das Gesamtbild sehen. Auch die Bezahlung ist für russische Verhältnisse recht gut.
Viele Experten meinen, die Ukrainer haben durch die Verwendung türkischer Kampfdrohnen einen militärischen Vorteil. Sind die russischen Drohnen aus dem Iran ebenso effektiv?
Wassili Kaschin: Dies ist kein Drohnenkrieg. Er ist im Gegensatz gekennzeichnet durch große Mengen militärischer Ausrüstung, die beide Seiten aus den Lagerbeständen des Kalten Kriegs holen. Was die Drohnen angeht, haben sie vor allem eine Rolle bei der Artillerie-Aufklärung. Ihre Offensivkraft ist zweitrangig. Aber sie verändern die Fähigkeiten der Artillerie.
Die Geschütze selbst haben sich seit dem Kalten Krieg kaum verändert. Sie sind weiter brauchbar, aber haben einen monströsen Aufwand an Granaten und Verschleiß an Material. Russland holt ständig neue Geschütze aus seinen Lagerbeständen des Kalten Kriegs. Die Ukraine hat diese nicht in diesem Maße und holt ihre aus dem Westen.
Drohnen setzen beide Seiten inzwischen in großem Umfang ein. Aber hier spielt auch die Luftabwehr eine Rolle, wo Russland einen großen Vorteil hat. Drohnen sind ein Verbrauchsgut und werden schnell abgeschossen. Russland produziert selbst gute Drohnen, hat aber keine ausreichende Produktionskapazität, die Anzahl reicht nicht. Deswegen war die Partnerschaft mit dem Iran wichtig.

"Die Hilfe der Nato spielt natürlich eine Rolle"

In Deutschland wird das Thema Lieferung deutscher Waffen an die Ukraine kontrovers diskutiert. Welche Rolle spielen sie im Krieg?
Wassili Kaschin: Die Hilfe der Nato spielt natürlich eine Rolle, wobei hier die USA an erster Stelle steht. Ohne diese Hilfe wäre die Ukraine im Sommer besiegt worden. Sie hätte ihren Verlust an schweren Waffen, ihren Munitionsverbrauch nicht wettmachen können.
Die deutsche Hilfe für sich allein ändert die Lage an der Front nicht, aber es ist eine unangenehme Komponente für Russland und man wird sich an sie erinnern. Sie umfasst Panzerabwehrwaffen, Mehrfachraketensysteme und moderne Artilleriegeschütze. Wichtig sind vor allem die modernen Panzerhaubitzen. Sie führen zu einer Zunahme der russischen Verluste.
Ihr Kollege Ruslan Puchow nannte die in der Ukraine eingesetzten russischen Panzer veraltet. Russland hat ja auch modernere Entwicklungen, wie den Kampfpanzer Armata. Warum wird er nicht an der Front eingesetzt?
Wassili Kaschin: Armata ist der modernste Panzer und er ist noch im experimentellen Einsatz nur einiger Dutzend Einheiten. Hier läuft noch eine Testphase. Nach dem Ende des Kalten Kriegs gab es eine Umstrukturierung im Rüstungsbereich. Es wurden vor allem sehr komplexe, teure Systeme, aber in einer kleinen Anzahl hergestellt. Diese Entwicklung gab es auch in Russland, moderne Modelle wurde in kleineren Stückzahlen produziert.

"Die Nato versammelt alles in Osteuropa verbliebene sowjetische Material"

Wenn man aber mit einem Konflikt im ukrainischen Ausmaß konfrontiert ist, wo gepanzerte Fahrzeuge in hunderten Einheiten pro Woche verbrannt werden, kann keine Seite sie durch laufende Produktion decken. Russland nutzt seine Lager, die Nato versammelt alles in Osteuropa verbliebene sowjetische Material und beginnt langsam auch mit der Lieferung westlicher Modelle. Aber deren Menge ist begrenzt. Ich denke, wir stehen vor einer Umstrukturierung der Verteidigungswirtschaft.
Im Osten der Ukraine gibt es schon Partisanen, die gegen die russische Besatzung kämpfen. Nun werden dort ebenfalls Leute rekrutiert. Wie beeinflusst das die Stimmung?
Wassili Kaschin: Über solche Formationen wird gelegentlich gesprochen. Aber man sieht wenig Anzeichen echter Aktivität. Es kommt zu Anschläge auf Vertreter der Besatzungsverwaltung. Aber nichts deutet auf einen bevorstehenden Aufstand hin. Wirklich Kopfschmerzen werden Russland eher die ukrainischen Geheimdienste und Spezialeinheiten bereiten.
Sie operieren auch direkt auf russischem Territorium. Ich halte den Mord an Daria Dugina für ein Werk dieser Einheiten. Die russische Seite war weder in der Lage, ihn zu verhindern, noch ihn aufzuklären. In Gebieten der Ukraine, die Russland nicht annektieren will, werden auch Daten in sozialen Netzwerken gesammelt und von speziellen Tools ausgewertet.
Wer nach den gesammelten Erkenntnissen starke proukrainische Gefühle zum Ausdruck bringt, wird in das von der Ukraine beherrschte Gebiet deportiert. Ich halte deswegen auch die Anschläge auf Besatzungsvertreter für ein Werk von Geheimdiensten und Spezialeinheiten, nicht von Partisanen.