"In Indien ist alles vergiftet"
Indiens Verantwortliche und die Weltwirtschaft schreien nach Wirtschaftswachstum - die Folgen für die indische Bevölkerung und die Umwelt sind katastrophal
Vor mir hocken Frauen in Gemüsefeldern und bringen zum Teil singend die Ernte ein. Zu allen Seiten Fischteiche. Im Osten scheint eine Bergkette zu flimmern und macht mich glauben, in Nepal zu sein - wenn da nicht dieser beißende Gestank wäre. Auch in den Gemüsefeldern direkt unterhalb des "Berges" wird dem Auge Himalaya vorgegaukelt.
Auf schmalen Pfaden steigen Lastenträger vom Berg hinab. Der Aufstieg ist unsicher und rutschig wie an einer Gletschermoräne, nur dass hier rotgefärbte Rinnsale unter den Füßen entlang fließen. An der Bergkante angekommen bin ich in einer Science-Fiction. Zwischen Rauchschwaden und kleinen Feuern sammeln menschliche Schatten Plastik aus einem Meer aus Müll, das von Kipp-Lastern ständig neu gefüllt wird. Zwischendrin grasen Kühe im Müll.
Die Gefahr einzubrechen ist die gleiche wie auf einem Gletscher. Täglich fahren knapp 500 Laster 80 Prozent der 3.500 bis 3.700 Tonnen kommunalen Müll Kolkatas auf diesen Berg, dessen "aktiver Teil" sich auf einer Fläche von 24 Hektar erstreckt. 12 Hektar wurden im Jahr 2009 "naturbelassen" stillgelegt.
Das rotgefärbte Sickerwasser, das von der Müllhalde in die umliegenden Felder fließt, enthält extrem hohe Konzentrationen von Chrom, Blei, Kadmium, Kupfer und Zink und verunreinigt das Grundwasser. So wurden in Bodenproben der umliegenden Felder bis zu 800 Milligramm Blei per Kilogramm gemessen.
Die etwa 25.000 Menschen, die um die Müllkippe "Dhapa" herum im Osten Kolkatas leben, werden selten älter als 50 Jahre alt. In ihren Dörfern stapelt sich das gesammelte Plastik zu Haufen oder liegt zerschreddert zum Trocknen aus: "Wo soll ich denn sonst hin", sagt der 35-jährige Gopal, zeigt auf seine notdürftig zusammen gezimmerte Hütte und fügt trotzig hinzu: "Ich bin kein Bettler. Ich habe ein eigenes Haus und verdiene mein eigenes Geld."
Nach dem unerträglichen Gestank frage ich ihn nicht. Auf dem Müllberg habe ich es nur eine halbe Stunde ausgehalten. Durch freigesetzte biologische Gase mit einem hohen Methananteil entzündet sich der Müll von selbst, die entstehenden Dämpfe sind hochgiftig. Menschen wie Gopal sind nicht dumm, doch wer hier überleben muss, braucht eine gewisse Ignoranz, um sich selbst schützen. Dazu sind Sätze von ihm, wie: "In Kolkata ist es doch auch nicht besser", so falsch nicht.
Kolkata
Im Zentrum der 4,5 Millionen Einwohner Metropole wachsen in Stadtvierteln Bäume und Sträucher aus den kolonialen Gebäuden. Tagsüber verdoppelt sich die Anzahl der Menschen auf über 8 Millionen. Dann drängeln sich knapp 50.000 Menschen auf einem Quadratkilometer.
Bei Proben auf den Märkten Kolkatas sind im Gemüse bis zu 40 Milligramm Blei pro Kilo gemessen worden. Im Durchschnitt lag der gemessene Wert bei 23,56 mg. Da scheinen die 16 Milligramm Blei im Gemüse der Felder um die Müllkippe Dhapa erträglich.
Der erlaubte Höchstwert in Indien beträgt jedoch nur 2,5 Milligramm. Bei Hühnerfleisch wurden bis zu 10 Milligramm Blei gefunden. Bei Fisch waren es bis zu neun. Für 75 Prozent der Bleiwerte in der Luft Kolkatas sind die Abgase von Dieselfahrzeugen verantwortlich.
Regelmäßig wird bei Kontrollen in Kolkata verrottetes Fleisch gefunden: Im April dieses Jahres beschlagnahmte die Polizei auf dem bekannten Rajabasar sogar 20 Tonnen Fleisch, das zum Teil von den Kadavern von Hunden und Katzen stammte - das Fleisch war schon zum Verkauf verpackt.
Das Trinkwasser ist neben Schwermetallen stark mit Arsen belastet. Der Grund dafür ist nicht Verschmutzung durch die Industrie, sondern hat, wie in großen Teilen Bengalens, etwas mit der chemischen Zusammenstellung der Böden und den gebohrten Tiefbrunnen zu tun. Doch seit 2009 nimmt das Arsen-Problem in Kolkata alarmierende Zustände an, weil sich die Grundwasserstöcke durch Bodenverdichtung und zu hoher Wasserentnahme nicht mehr auffüllen.
Die Feinstaubwerte der Partikelgröße PM-2,5 betrugen in Kolkata selbst Ende Oktober dieses Jahres schon 300 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft und schlugen damit sogar New Delhi, dabei ist der Winter mit seinem Smog noch nicht einmal im Anmarsch. Die Bewohner Kolkatas versuchen sich in Galgenhumor.
An den beliebten Straßenständen mit den Chicken-Rolls, beschuldigen sie die Inhaber der anderen Stände Katzenfleisch in das frittierte Roti-Brot zu rollen. Bewunderung für die hiesigen Bewohner ist ein ständiger Begleiter, denn dass Menschen unter diesen Bedingungen, dazu unter ständigen Lärmterror, so friedlich bleiben, ist nicht selbstverständlich.
"In Indien ist alles vergiftet. Luft, Essen und Wasser. Doch die meisten Menschen in Kolkata haben keine Zeit, sich dagegen zu wehren, denn sie kämpfen ums tägliche Überleben", sagt der bengalische Journalist Nilanjan Dutta. Dazu passt, dass im Oktober die Konten von Greenpeace India und Amnesty International eingefroren wurden.
Nur schöne Worte für die Entwicklung des Landes
Die Begründung der Modi Regierung lautet, dass es bei beiden Organisationen angeblich zu finanziellen Unregelmäßigkeiten gekommen sei. Schon im Jahr 2015 wurden die Konten von Greenpeace eingefroren. Die damalige Begründung gibt einen Hinweis, worum es der Modi-Regierung wirklich geht: Greenpeace habe zu Aktionen aufgerufen, die die Entwicklung des Landes behindern, wurde vorgebracht.
"Auch die Vorgänger-Regierung der Kongress-Partei ist mit den gleichen Mitteln gegen zivile Bewegungen vorgegangen, die auf Umweltzerstörung und Menschenrechtsverletzungen aufmerksam machten", sagt Dutta. Dass 14 der 15 am meisten verschmutzten Städte der Erde mittlerweile in Indien liegen, zeigt, gegen welche Entwicklung sich aktive Menschen in Indien wehren.
Auch die Ehrlichkeit der meisten Bewohner Kolkatas ist oft rührend. Dass einem der Teeverkäufer hinterherläuft, um eine zu viel bezahlte Rupie zurückzugeben, ist keine Seltenheit. Dass viele Indienreisenden zu einem anderen Schluss kommen, überrascht jedoch nicht.
"Wenn ich ans Meer nach Puri in Orissa reise, ist mir klar, dass ich an einem touristischen Ort mehr bezahle als die Einheimischen. Ist das irgendwo auf der Erde anders?", fragte mich ein Bewohner der Hauptstadt von Bengalen im Zug auf dem Weg nach Orissa.
Obwohl 20 Prozent der Bewohner Kolkatas Muslime sind, gibt es keine religiösen Spannungen. Ein Verdienst der "kommunistischen" Vorgänger-Regierung, aber auch der jetzigen Chef-Ministerin von Bengalen. Im Gegensatz zum Landesvater Indiens, Narendra Modi, setzt Mamata Banerjee nicht auf religiösen Hass.
Abgesehen davon unterscheidet sie nicht viel von Modi. Im Jahr 2011 ist Banerjee mit dem Versprechen angetreten, Kolkata zum London Asiens zu machen und für Wirtschaftswachstum zu sorgen. Im Jahr 2013 kündigte die bengalische Regierung an, den Müll Dhapas mit Hilfe von Bio-Gas-Anlagen in Energie zu verwandeln.
Ganz im Sinne unserer Klimakanzlerin wurde darauf hingewiesen, dass das Projekt die Treibhausgasemissionen drastisch verringern würde. Es blieb bei schönen Worten. Es dauerte sogar bis zum Juni dieses Jahres, dass die seit 2009 stillgelegten 12 Hektar der Mülldeponie in Dhapa mit einer Folie überzogen wurden und mit Gras bepflanzt.
Zwar liegt das Wirtschaftswachstum in Kolkata bei 4,5 Prozent, aber dafür sorgt vor allem der Bauboom am Rande der Stadt. Dort werden Hochhäuser für die gehobene Mittelklasse aus dem Boden gestampft. Was der Bauboom in ganz Indien zusätzlich für die schon verschmutzten Flüsse des Landes bedeutet, hat Christian Faesecke in einer aufwendigen Reportage zum Sandraub aufgezeigt.
Der Autoverkehr und deutsche Geschäfte
Dazu wächst nicht nur in Kolkata der Autoverkehr. In den letzten zehn Jahren haben sich die Zulassungen für Autos in Kolkata verdoppelt. Einer der wichtigsten Wachstumsmotoren der Erde, wie Autobauer gebetsmühlenartig wiederholen. Im Monat Mai diesen Jahres wurden in Indien jeden Tag im Schnitt 73.632 Fahrzeuge verkauft.
Auch Mercedes konnte den Absatz seiner Luxuskarossen im letzten Jahr um 22,5 Prozent steigern. Dass die Autoindustrie in Sachen Wachstum in Indien "rosige" Zeiten zu erwarten hat, verdeutlichen weitere Zahlen. Das Land brauchte knapp 60 Jahre (1951-2008) um 105 Millionen registrierte Autos unter die Bevölkerung zu bringen. Die gleiche Zahl erreichte Indien in den Jahren 2009 bis 2015.
Mit Deutschland und Italien an der Spitze ist die Europäische Gemeinschaft der größte Abnehmer der Gerbereien Indiens. In den Gerbereien Kanpurs, die für besonders schlimme Umweltverschmutzungen sorgen, hat der Autor auch mehrere deutsche mittelständige Unternehmen ausfindig gemacht. Auf ihren Webseiten gibt es keine Hinweise darüber, woher das Leder ihrer Produkte stammt. Dafür die üblichen Hochglanzbilder von glücklichen Menschen und Tieren.
Die Namen sind der Redaktion bekannt, werden hier jedoch nicht veröffentlicht, weil die eher kleinen Unternehmen nichts anderes machen, als das allseits akzeptierte, kapitalistische Wirtschaftsprinzip umzusetzen: So kostengünstig wie möglich einkaufen und Wirtschaftswachstum schaffen - mit den Folgen der Umweltzerstörungen können sich zukünftige Generationen auseinandersetzen. Bis heute hat es die Leder-Textillobby auch in Deutschland erfolgreich geschafft, dass sie dem Kunden das Erzeugerland ihrer Ware verschweigen darf.
Narendra Modi mag international noch so viele Preise für seine schönen Worte in Sachen Erneuerbarer Energie einheimsen - eine Studie des regierungsnahen Think Tanks NITI Aayog, das der indischen Regierung nahe steht, zeigt etwas anderes.
Im Jahr 2044 wird der Anteil der erneuerbaren Energien bei mageren 10 -15 Prozent liegen, der aus Kohle bei 42 - 48 Prozent. Zwar würde das einem Rückgang der Energiegewinnung aus Kohle im Ganzen um knapp 15 Prozent entsprechen, aber da Indiens Energieverbrauch steigt, wird auch der Verbrauch der Kohle bis zum Jahr 2037 zunehmen und sich damit nahezu verdoppeln.
Bei den Treibhausemmissionen liegt Indien pro Kopf mit 1,8 Tonnen CO2-Ausstoß pro Einwohner noch weit unter dem weltweiten Durchschnitt von 4,2 Tonnen. Deutschland ist mit 11,2 Tonnen CO2 in einer Wohlstandsliga, in die Indien noch möchte.
Natürlich gibt es auch aus Indien Positives zu berichten. Doch ist das Tempo der Fortschritte so langsam, dass sie vom gnadenlosen Wachstumsdrang niedergewalzt werden. So ist in Kolkata schon die nächste Umwelt-Katastrophe im Anmarsch…
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