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Industrie 4.0: Überwachung statt Revolution

Künstliche Intelligenz wird nicht immer eingesetzt, um Beschäftigten das Leben leichter zu machen. Grafik: Gerd Altmann auf Pixabay (Public Domain)

Vor zehn Jahren wurde eine "vierte industrielle Revolution" ausgerufen. Sie hat sich nicht zum Besten entwickelt

Vor zehn Jahren wurde erstmals von einer "Industrie 4.0" gesprochen. Geprägt hat diesen Begriff von der "4. Industriellen Revolution" die "Deutsche Akademie der Technikwissenschaften" (Acatech). Die 4.0-Initiative soll "die deutsche Wirtschaft wettbewerbsfähiger und widerstandsfähiger zu machen", erinnert sich Henning Kagermann rückblickend für Acatech [1].

Industrie 4.0 ist kein betrieblicher Begriff, sondern der Name eines von der Bundesregierung geförderten Forschungsprogramms. Das "Internet der Dinge" soll mit "Industrie 4.0" auf den Betrieb übertragen werden. Grundlage sind Chips, durch die Waren und Geräte nicht nur eine eigene Identität in Form eines Codes erhalten, sondern auch Zustände erfassen und Aktionen ausführen können. Die Übertragung dieser Logik auf den Produktionsbereich ist das 4.0-Prinzip.

Von Anfang an betrieben Acatech-Vertreter auf Regierungsebene mit der Lobbyarbeit. Bundeskanzlerin Angela Merkel stimmte Vorschlägen zu und sagte: "Herr Wahlster, das wollen wir jetzt verfolgen, Industrie 4.0, das ist ja genau die Zukunft", berichtet Wolfgang Wahlster, der Gründer des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz. Die Bundesregierung fördert die Projekte bisher mit über 470 Millionen Euro [2].

Das "Zukunftsprojekt Industrie 4.0" ziele darauf ab, die deutsche Industrie in die Lage zu versetzen, "für die Zukunft der Produktion gerüstet zu sein", verkündet die Bundesregierung. Unternehmen und Kunden sind direkt per Internet in den Wertschöpfungsprozess eingebunden. Industrie 4.0 sei "gekennzeichnet durch eine starke Individualisierung der Produkte unter den Bedingungen einer hoch flexibilisierten (Großserien-)Produktion" [3].

Jedoch sei derzeit "nicht mehr als zehn Prozent der deutschen Produktion komplett auf Industrie 4.0 umgestellt", beklagt Wahlster und macht damit deutlich: eine "vierte industrielle Revolution" hat nicht stattgefunden [4]. "Nach kurzer Zeit sind heute erste Maschinen und Anlagen für Industrie 4.0 verfügbar: Industrie 4.0 hält in die Fabrikhallen Einzug. Nun geht es um Planungssicherheit, klare Strategien und die Begrenzung wirtschaftlicher Risiken", gibt selbst das Bundesforschungsministeriums (BMBF) zu [5].

Zunehmende Kontrolle

Gleichzeitig nimmt die Technisierung in Betrieben und Verwaltungen zu. Dies alles erfolgt vor dem Hintergrund zunehmender Kontrolle der Beschäftigten. Wenn die Produktion als großes Netzwerk organisiert wird, wirkt das direkt auf die Beschäftigten. Die Vernetzung der IT-Systeme ermöglicht den Unternehmen eine dauernde Überwachung der Arbeitsleistung und des Verhaltens der Beschäftigten. Bei mobiler Assistenz kann der Mensch mit der Produktionssteuerung interagieren - und ist per iPad jederzeit verfügbar.

Ein solches System soll die Arbeiter bei Entscheidungen unterstützen, wird in einer Studie des Fraunhofer-Instituts verklausuliert prognostiziert: "Damit der Mensch mit der Produktionssteuerung oder der Maschine interagieren kann, muss die mobile Assistenz zunehmen. Bei einer Fehlermeldung einer Maschine kann sich das ›iProductionPad‹ vor Ort vernetzen und den Fehlerspeicher auslesen und interpretieren. Das ›iProductionPad‹ kann Temperaturen oder Frequenzen der Maschine messen, Anweisungen geben und deren Zustand sehr schnell analysieren und diagnostizieren." (Fraunhofer-IAO: Produktionsarbeit der Zukunft - Industrie 4.0 [6], S. 155) Möglich wird so die totale Überwachung des Arbeiters, der jederzeit zu orten ist und dessen Verhalten dokumentiert wird.

Auch in den Verwaltungsbereichen nimmt die Kontrolle zu. Die Dokumentation und Verwaltung von Beschäftigten- und Kundendaten erfolgen über Workflow-Management-Systeme. Voraussetzung ist eine Datenbank, über die Daten der Kunden und einzelne Arbeitsschritte der Beschäftigten ausgewertet werden.

Mussten früher eingehende Briefe noch gescannt werden, erfolgt die Kommunikation heute meist über Internet. Dies erleichtert Unternehmen, Beschäftigte unter Druck zu setzen, bis hin zu innerbetrieblichem "Benchmarking". So müssen sich die Angestellten rechtfertigen, warum ein Telefonat eine bestimmte Dauer überschritten hat oder in einem anderen Team die Kundenanfragen viel schneller bearbeitet werden.

Ein Beispiel für diese Überwachungsmöglichkeit ist das Programm "Workforce Management". Mithilfe von Algorithmen soll der Arbeitsanfall und das Kundenverhalten prognostiziert und stundentaktgenaue Vorgaben des Arbeitsvolumens ermittelt werden, um Personalkapazitäten und die Verteilung der Arbeitszeiten bis hin zur Lage der Pausen vorschreiben zu können.

Die Folge sind standardisierte Prozesse, d.h. die konkrete Vorgabe von Arbeitsschritten für Bildschirmarbeitsplätze. Routinetätigkeiten sollen so standardisiert beziehungsweise automatisiert werden. Der Geschäftsprozess beginnt mit der Kundenanfrage und reicht bis zur Feststellung der Kundenzufriedenheit. Gemessen werden etwa die Bearbeitungsdauer, Gesprächsdauer, Wartezeiten oder Antwortzeiten. Auf dieser Basis werden die Prozesse ständig gemessen, standardisiert und die Beschäftigten durch Zeitvorgaben kontrolliert.

Ständige Erreichbarkeit durch Smartphone

Ein betriebliches Beispiel verdeutlicht, wie schnell technische Neuerungen Nachteile für Arbeitnehmer haben können: Statt wie bisher der Außendienst- und Verwaltungsbereich wurden Arbeiter in der Werkshalle mit Smartphones auf Firmenkosten ausgestattet. Die Begeisterung der Beschäftigten war groß, nachdem der Werksleiter verkündete, diese Geräte könnten auch privat genutzt werden

Als dann die Meister diese jedoch öfters am Wochenende oder im Urlaub für betriebliche Kommunikation mit Arbeitern ihres Teams nutzten und verkündet wurde, die Arbeiter könnten jetzt über "Whatsapp-Gruppen" die Vertretung für Wochenendschichten untereinander "freiwillig" nutzen, wurden die Probleme sichtbar. Der Betriebsrat griff in diesem Fall regelnd ein. Das Beispiel zeigt aber, dass Probleme der ständigen Erreichbarkeit zukünftig nicht auf den Dienstleistungsbereich begrenzt bleiben. Auch im Industriebereich wird es zum Handlungsfeld für Betriebsräte.

Aktuell sind gravierende Veränderungen direkt im Industriebereich feststellbar. Ein Forschungsauftrag des Bundesforschungsministeriums fordert - im Sinne einer Industrie 4.0 - "Selbstorganisierte Kapazitätsflexibilität in Cyber-Physical Systems". Unter dem Motto "Smartphone statt Stechuhr" führt das Fraunhofer-IAO das Projekt "Kapaflexcy" durch. Als Ziel benennen die Wissenschaftler: "Starre Anwesenheitszeiten von 7-16 Uhr sind Relikte der Vergangenheit. Zukünftig stimmen Arbeitsgruppen ihre Einsatzzeiten per Smartphone ab.

Eigenverantwortlich, kurzfristig, flexibel. Gearbeitet wird nach Bedarf - genau dann, wenn der Kunde ordert. Das Forschungsprojekt »Kapaflexcy« löst die übliche »pauschale« Personalflexibilität ab. Als Beitrag zum Zukunftsprojekt "Industrie 4.0" der Bundesregierung entwickeln wir vorausschauende Strategien und smarte Assistenten für die flexible Produktionsarbeit der Zukunft" [7].

Wachsender Arbeitsdruck: Psychische Belastungen nehmen zu

Wer sich die Situation in den Betrieben der Metallindustrie - der Kernbranche der Industrie 4.0 - vor Augen führt, erkennt, wie massiv diese Forderungen sind. Durch Arbeitszeitkonten, Überstunden und Schichtarbeit sind die Beschäftigten bereits heute belastet. Der Arbeitsdruck soll noch schärfer werden - unter dem Vorwand der Sachzwänge. Durch die Digitalisierung haben sich psychische Belastungen" "in den Betrieben zum Dauerbrenner entwickelt, bemängelt die IG Metall.

Die Gewerkschaft verweist auf das Projekt "Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt", das von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin initiiert wurde [8]. Die Forschungsergebnisse zeigen das "wachsende Ausmaß und die Regelungsbedürftigkeit psychischer Arbeitsbelastungen", die im Zuge der Digitalisierung "weiter an Bedeutung gewinnen, wenn nicht gegengesteuert wird".

Zur Ermittlung der Belastungen hat die IG Metall ein Stressbarometer als Onlinetool entwickelt, um die Risiken im Betrieb ermitteln zu können [9].

Gefordert sei jedoch die Politik, so die IG Metall. Ihr Vorschlag für eine Anti-Stress-Verordnung wurde von der Bundesregierung bis heute nicht umgesetzt.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6041669

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.acatech.de/allgemein/industrie-4-0-feiert-10-jaehriges-jubilaeum-die-erste-halbzeit-ist-geschafft
[2] http://www.bmbf.de/de/zukunftsprojekt-industrie-4-0-848.html#:~:text=F%C3%B6rderung%20des%20Bundesforschungsministeriums,Millionen%20Euro%20bewilligt%20und%20eingeplant
[3] https://www.bmbf.de/de/zukunftsprojekt-industrie-4-0-848.html
[4] http://www.acatech.de/interview-mit-wolfgang-wahlster
[5] https://www.bmbf.de/de/zukunftsprojekt-industrie-4-0-848.html
[6] https://www.produktionsarbeit.de/content/dam/produktionsarbeit/de/documents/Fraunhofer-IAO-Studie_Produktionsarbeit_der_Zukunft-Industrie_4_0.pdf
[7] http://www.kapaflexcy.de
[8] http://www.stressbarometer-igmetall.de
[9] http://www.ergo-online.de/news/psychische-belastungen-reduzieren