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Inflation: Kartoffeln sind die neuen Eier

Einfach mal bunt anmalen? In Großbritanniens ärmeren Schichten sollten Kartoffeln die Ostereier ersetzen. Foto: PublicDomainPictures auf Pixabay

Mehr als zehn Prozent beträgt die Inflation laut Consumer Price Index bereits in Großbritannien. Bei Nahrungsmitteln allein liegt sie höher. Einfache Lösungen sind nicht in Sicht.

Man muss sich nur zu helfen wissen. Weil die Ostereier längst zu teuer sind, gab es für britische Endverbraucher Tipps im Internet, wie sich Kartoffeln österlich bemalen lassen. Es mag ein verspäteter Aprilscherz gewesen sein, aber die Kartoffeln-statt-Eier-Maßnahme spiegelt die Nöte der britischen Landwirtschaft.

Ob Eier oder Gemüse, die Preise steigen rapide und teilweise sind die entsprechenden Ernährungsgüter nicht mehr vorhanden. In den Supermärkten werden Fotos der fehlenden Feldfrüchte in die Steigen gelegt. Auf den ersten Blick kann so die Gesellschaft den Anschein des Reichtums wahren, der Nährwert der Fotos ist allerdings gering. Zeitweilig mussten Tomaten und Salat bereits rationiert werden.

Wenn es um Inflation geht, dann taucht zuverlässig die alte Frage auf, ob die Verknappung real ist oder ein Konstrukt. Hier verläuft eine ideologische Kampflinie. Die eine Seite, die gerne annimmt, der Markt würde es regeln, sieht in den stark gestiegenen Preisen einen wichtigen Wirklichkeitsbezug. Die Waren werden einfach weniger und deshalb werden sie teurer.

Die andere Seite sieht ein Verknappungskonstrukt, bei dem mächtige Markteilnehmer die wirkliche Lage verschleiern, um höhere Preise zu erzielen. Die zugestandenermaßen schwierige Weltlage würde ausgenutzt, um die Preise zu treiben. Wäre genügend Konkurrenz vorhanden, wäre die Preissteigerung gebremst.

Für die Verbraucher im Vereinigten Königreich ist dies vermutlich eine etwas zu akademische Debatte. Sie erleben unmittelbar, dass ihr Wohlstand schwindet. Weil die hohen Preise auf die Stimmung schlagen, ist die Regierung gefordert, gegenzusteuern. Das ist aber alles andere als einfach.

Mindestens drei Faktoren machen die Situation schwierig: die Energiekrise, die schrumpfende britische Wirtschaft und natürlich der Brexit.

Ein Land schrumpft

Die Auswirkung der Energiekrise scheint am leichtesten greifbar zu sein. Steigen die Preise für Rohöl, dann steigen auch die Preise in der energieintensiven Landwirtschaft. Durch den Überfall auf die Ukraine kam es in diesem Winter zu einem teils dramatischen Anstieg der Energiekosten. Wenig Besserung ist in Sicht. Gerade erst hat die OPEC angekündigt, die Produktion zu senken. Der Preis könnte auf 90 Dollar das Barrel Rohöl steigen.

Großbritannien ist davon ganz unmittelbar betroffen, weil es einen Großteil seiner Energie importieren muss. Da sich zugleich für spanische und niederländische Agrarbetriebe das Heizen der Gewächshäuser bei derart hohen Energiepreisen nicht mehr lohnte, wurden Tomaten und Salat eben knapp.

An dieser Stelle zuckt der britische Finanzminister Jeremy Hunt gerne die Schultern. Pech gehabt mit dem Salat! So etwas kann passieren, das wird aber auch bald wieder besser, verspricht er mit amtsbedingter Zuversicht. Nur kann er nicht ganz erklären, warum es bei den anderen schneller besser geworden.

Kurz nach Ostern gab der Internationale Währungsfonds (IWF) seine Wachstumsprognosen bekannt. Alle "entwickelten" Wirtschaften wachsen leicht, selbst die russische. Zwei Ausnahmen gibt es allerdings. Ein winziges Minus für die deutsche Wirtschaft von 0,1 Prozent und eine deutlichere Schrumpfung für Großbritannien von circa 0,3 Prozent. Dies ist zwar eine Verbesserung der Vorhersage von 0,6 Prozent von vor drei Monaten, aber immer noch ein Minus – gegen den europäischen Wachstumstrend.

Jeremy Hunt liest aus den eher enttäuschenden IWF-Zahlen allerdings eine Bestätigung seiner Politik. Kein Land klettere so schnell aus dem Minus wie das UK, wobei er geflissentlich das Detail weglässt, dass die anderen gar nicht im Minus sind. Die Regierung sei somit auf dem richtigen Weg, denn die enorm hohe Inflation von über neun Prozent sei nun schon bei sechs Prozent und würde weiter fallen.

Höherer Preisanstieg bei lebensnotwendigen Gütern

Hunt und der IWF beziehen sich dabei nicht auf den Consumer Price Index der 10,4 Prozent errechnet. Je nach dem in die Berechnung einbezogenem Warenkorb ergeben sich andere Zahlen für die Inflation. Die Lebensmittelpreise allein [1] waren im März nach Zahlen des Marktforschungsunternehmens Kantar um 17,5 Prozent gestiegen.

Die Opposition sieht das Land hingegen auf keinem guten Weg aus Abschwung und Preissteigerung. Layla Moran, die Abgeordnete der Liberal Democrats im Unterhaus sieht, anders als der Finanzminister, tiefsitzende, strukturelle Gründe. Das UK sei die einzige entwickelte Ökonomie, die schrumpfe, weil sie den Unternehmen zusätzliche Kosten durch hohe Bürokratie und fehlende Arbeitskräfte aufbürde. Schuld daran sei der von den Konservativen verhunzte Brexit-Deal [2].

Wie läuft der Brexit? Warum der Brexit so schlecht läuft, lässt sich am besten mit "Trigger Cut" erklären. "Trigger Cut" sind eine Punkband aus dem schönen Stuttgart. Sie wollten in UK auf Tour gehen und endeten stattdessen im Gewahrsam in Calais.

Die britischen Behörden verlangen seit dem Brexit bei der Einreise umfangreiche Sicherheiten. Es muss beispielsweise eine Garantie abgeben werden, dass die Stuttgarter Band während der einwöchigen Clubtour nicht in finanzielle Abhängigkeit fällt und staatliche Hilfe bei der Heimreise beansprucht. Konzertveranstaltern von der Insel gelten Regeln dieser Art als "verwirrend" und "opak".

Am Ende dürfen dann sogar einfach die Grenzbeamten entscheiden, wer ins Land darf und wer nicht, ohne die Kriterien transparent machen zu müssen. Hier zeigt sich vermutlich der wahre "Brexit-Spirit". Etwas an den Stuttgarter Punkern dürfte somit den Unmut der Zollbeamten verursacht haben.

Wenn genügend Rockbands der Eintritt ins Land verweigert wird, dann fehlt der Treibstoff für das britische Nachtleben und so schrumpfen Wirtschaften. Das "Red Tape", der gesteigerte Verwaltungsaufwand, vermindert die Einfuhr. Sei es Salat oder Stuttgarter Rock. Umgekehrt ist es kaum besser. Die Kosten für britische Unternehmen, Waren oder Dienstleistungen in den großen europäischen Wirtschaftsraum zu exportieren, sind durch unzählige Auflagen sehr hoch. Kleine Firmen haben teilweise aufgegeben und große Unternehmen zogen entweder ganz auf den Kontinent oder eröffneten dort Niederlassungen.

Verminderter Warenfluss, der IWF spricht von einer teilweisen Zurücknahme der Globalisierung, sind entweder willkommener Anlass, um Preise gemäß Verknappungskonstrukt in die Höhe zu treiben oder aber die Preise "müssen" einfach steigen, weil das Angebot tatsächlich die Nachfrage nicht mehr bedienen kann.

Fairerweise müsste bei jeder Erörterung der Inflation gesagt werden, dass es kaum je die Produzenten sind, die höhere Preise verlangen. Man kann ja als Band gerne mal versuchen für ein Punk-Konzert in einem britischen Pub 200 Pfund Eintritt zu verlangen. Es dürfte ein intimer Abend werden. Wenn es ein Konzern hingegen geschafft hat, Monopolist auf alle großen Music-Acts zu werden, dann kann dieser die Preise diktieren. Liebhabern der Livemusik dürfte der daraus resultierende rasante Preisanstieg [3] auch in Kontinentaleuropa aufgefallen sein.

Eine der spannenden Brexit-Fragen ist nun, ob die "schlechten" Handelsvereinbarungen der Tory-Regierung, die der Bevölkerung zwar schaden, nicht doch einigen der großen Player eher nutzen. Lösungen, die zu einer erneuten Öffnung führen würden und damit auch zu einem möglichen Absenken der Preise, sind hier kaum in Sicht, denn es gibt kaum eine größere Hürde in der Politik als das Eingeständnis eines Fehlers.

Was tun gegen die Inflation?

Die Bank of England hat, wie viele andere Staaten Europas, ein Inflationsziel von zwei Prozent. Je nach Berechnung ist die Inflation im Moment fünfmal so hoch. Das Inflationsziel kann die Zentralbank nur erreichen, indem sie die Leitzinsen erhöht und das hat gewisse, knifflige Folgen. Die privaten Haushalte in Großbritannien sind hoch verschuldet und da ist zunächst die Inflation eigentlich nichts Schlechtes, weil ja auch die Schulden schrumpfen.

Hierin darf eine gewisse Ungerechtigkeit erkannt werden, weil diejenigen, die aufgrund ihres geringen Einkommens nie Kredite bekommen konnten, jetzt für ihren Lebensunterhalt dank der Inflation mehr zahlen müssen. Wer sich hingegen "rechtzeitig" verschuldet hat, macht nun quasi einen gewissen Gewinn.

Großbritannien ist ein Land der Hausbesitzer. Die Immobilien sind astronomisch hochverschuldet, was nur deshalb kein Problem ist, weil der Wert der Immobilien zugleich doppelt so hoch ist und deshalb die Schulden absichert.

Wenn nun die Bank of England die Leitzinsen steigert, um die hohe Inflation zu bekämpfen, dann sind Kreditnehmer mit variablem Kreditzinssatz teilweise zum Verkauf gezwungen. Die Nachfrage nach Immobilien sinkt zugleich, weil weniger Menschen sich die Kreditaufnahme leisten können.

Und tatsächlich, die Häuser in Großbritannien wurden seit September letzten Jahres um sechs Prozent billiger. Im Jahr 2024 sollen es zehn Prozent werden, laut Office for Budget Responsibility. Zwar waren die Hauspreise nach der Pandemie historisch hoch, dennoch kann ein so rapider Preisabfall als das "Platzen einer Blase" interpretiert werden.

Wenn die Hauspreise weiter sinken sollten, dann hätten die Tories ihre eigene Basis in Gefahr gebracht – und das hat deutlich mehr Gewicht als überteuerter Salat. An die Verarmung der Massen hat man sich Westminster weitgehend gewöhnt, den Zorn der Hausbesitzer fürchtet man hingegen.

Ohne echtes Wachstum, mit Einschränkungen des Handels durch den Brexit und dauerhafter Energiekrise dürfte es schwer für die Konservativen werden, den Spagat zu schaffen, die Inflation auf ein erträgliches Maß zu reduzieren, ohne zugleich die angesammelten "Immobilienwerte" der eigenen Wählerklientel zu entwerten.


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https://www.heise.de/-8956751

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.kantar.com/inspiration/fmcg/2023-wp-battle-for-shoppers-heats-up-as-grocery-price-inflation-hits-new-high
[2] https://www.telepolis.de/features/EU-UK-Deal-Gelingt-beim-Brexit-doch-die-Quadratur-des-Kreises-7530002.html
[3] https://neilyoungarchives.com/news/1/article?id=Concert-Touring-Is-Broken