Inflation und Sozialprotest: Der "heiße Herbst" und die Warnung vor der Querfront

Seite 2: Sozialproteste stoßen auf desorientierte gesellschaftliche Linke

Bevor überhaupt die ersten Protestdemonstrationen stattfanden, hatten Medien und viele Politiker vor Nazis und rechten Ideologen gewarnt, die angeblich eine Querfront mit der radikalen Linken eingehen würden. Hier war die Spur gesetzt, auf der sich danach die Propaganda des Staates und vieler Medien bewegte. Statt über die Zumutungen des Kapitalismus für viele Menschen, sollte über Querfronten und innerlinke Benimmregeln geredet werden. Diese Diskussion überforderte eine gesellschaftliche Linke, die durch die Corona-Jahre noch weiter geschwächt wurde.

Rechtsoffene Proteste gegen die Corona-Maßnahmen standen einer gesellschaftlichen Linken gegenüber, die ihre Instrumente der Kritik von Staat und Kapital oft vergessen zu haben scheint, wie der emeritierte Politologe Joachim Hirsch prägnant kritisierte. Man hatte dann oft den Eindruck, große Teile der gesellschaftlichen Linken unterschieden sich kaum noch von der Politik des Staates.

Das setzt sich im Ukraine-Krieg fort, wo plötzlich selbst Teile der radikalen Linken ihren Frieden mit der Nato gemacht zu haben scheinen. Auch hier haben Teile der gesellschaftlichen Linken ihre Instrumente vergessen, über den Zusammenhang von Kapitalismus, Nationalismus und Krieg aufzuklären und die Kriegsgegner uf allen Seiten zu unterstützen.

Besonders auffallend war die Kritikunfähigkeit von Teilen der Linken, die es scheinbar verlernt hatte, über unterschiedliche Positionen zu streiten und auch zu polemisieren. Da gab dann im Corona-Kontext scheinbar nur "Querdenker" versus "Impftrottel". Und im Ukraine-Konflikt wurden alle zu Putin-Versteher:innen erklärt, die es nicht als linke Solidarität ansahen, weitere Waffen in ein Pulverfass zu liefern.

Eine gesellschaftliche Linke in solch schlechtem Zustand kann natürlich auch keine politische Kraft sein, die Sozialprotesten im Land eine Orientierung geben kann. In manchen Teilen der gesellschaftlichen Linken überwog das Sektierertum. Danach hätten die Protestierenden den Kanon der verschiedenen linken Zusammenhänge verinnerlichen müssen, bevor sie auf die Straße gingen. Dabei wurde vergessen, dass dort eben nicht Linke, sondern von der kapitalistischen Krise Betroffene gegen ihre eigene Verarmung protestierten.

Eine gesellschaftliche Linke hätte hier ansetzen und Kritik an Staat und Kapital in eine solche Bewegung tragen können, wie es noch bei den Protesten gegen Hartz IV im Jahr 2014 geschehen ist. Da hätte sich natürlich auch angeboten, einen Zusammenhang herzustellen zwischen der Politik der Verarmung der vielen Menschen und das Steigen der Aktienkurse, beispielsweise bei den Rüstungskonzernen Rheinmetall und Krauss-Maffei.

Doch das störte linke Zusammenhänge, die angesichts des russischen Einmarsches in die Ukraine plötzlich keine konkrete Militarismuskritik mehr auf den Demonstrationen sehen wollten. Dabei wurde der Unterschied zwischen einem linken Antimilitarismus und einer Pro-Putin-Position bewusst ignoriert.

Exkurs zur Linkspartei

In diesem Text ist bewusst immer von der gesellschaftlichen Linken die Rede – damit ist in erster Linie die zerklüftete außerparlamentarische Linke und erst in zweiter Linie die Linkspartei gemeint. Auch bei ihr sorgen die beschriebenen Verwerfungen für einen ständigen innerparteilichen Streit. Er kann unter dem Etikett "Linksliberalismus versus Linkskonservatismus" zusammengefasst werden.

Beide Seiten üben keine grundsätzliche Kritik an Staat, Nation und Kapital und bilden unterschiedliche Spielarten des Reformismus. Während die Auseinandersetzungen in der außerparlamentarischen Linken meist unter dem Radar einer größeren Öffentlichkeit ablaufen, erhält der Streit in der Linkspartei die große mediale Bühne. Daher wird über ihn viel mehr geredet.

Er soll hier nur deshalb eine Rolle spielen, weil er auch die Sozialproteste im Herbst 2022 beeinflusst hat. Anfang September startete das Bündnis "Heizung, Brot und Frieden", das dem linkskonservativen Flügel um die bekannte Parteipolitikerin Sahra Wagenknecht nahesteht, in Berlin eine Protestkundgebung vor der Parteizentrale der Grünen.

Das Bündnis wollte Sozialproteste mit der schon aus ökologischen Gründen problematischen Forderung nach Wiederaufnahme der russischen Gaslieferungen verbinden. Sofort wurde seitens der parteiinternen Gegner:innen der Vorwurf einer mangelnden Abgrenzung nach Rechts laut. Dieser Vorwurf richtete sich auch an einen Kreis von Linksparteipolitiker, der Anfang September 2022 in Leipzig eine Protestkundgebung gehen Preissteigerungen und hohe Energiekosten ankündigte. Rechte Populisten ließen sich die Chance nicht entgehen, um ebenfalls zu einer Kundgebung in Leipzig aufzurufen.

Am Ende sorgten Antifagruppen dafür, dass Rechte nicht auf die Kundgebung der Linken kommen konnten. Die innerparteilichen Konflikte zwischen den Linkskonservativen und Linksliberalen in der Linkspartei überschatteten so die Sozialproteste, deren Protagonist:innen mehrheitlich parteilos sind und auch Wert darauf legten, von keiner Partei instrumentalisiert zu werden.

Doch auch viele der außerparlamentarischen Protestorganisatoren haben sich von der Überlegung leiten lassen, möglichst frühzeitig Protesttermine bekanntzugeben, um zu verhindern, dass sich die Rechten des Themas bemächtigen. Diese Planspiele hat der Protestforscher und Bewegungsaktivist Harald Rein auf der Podiumsdiskussion "Heißer Herbst – kalter Winter" am 14. Februar 2023 in Berlin kritisiert. An die unterschiedlichen Protestbündnisse richtete er die Frage: "Warum sollen die von Armut Betroffenen gerade dann auf die Straße gehen, wenn ihr dazu aufruft?".

Nationalistische Proteste von AfD und Co.

Bei dieser Podiumsdiskussion wurde im Publikum die Position vertreten, es habe im Osten Deutschlands sehr wohl einen heißen Herbst der Sozialproteste gegeben, nur sei der von der gesellschaftlichen Linken nicht aufgegriffen worden. Tatsächlich gab es im Herbst 2022 größere Kundgebungen in Erfurt, Gera und Dresden, bei denen AfD-Politiker und andere Rechte hegemonial waren. Im Oktober 2022 rief dann die AFD zu einer Großdemonstration mit ca. 10.000 Menschen nach Berlin. Der Gewerkschaftler und Journalist Stefan Dietl hat mit Recht davor gewarnt, hier von Sozialprotesten zu sprechen.

Tatsächlich handelte es sich um nationalistische Kundgebungen und Demonstrationen, auf denen soziale Themen aufgegriffen und nationalistisch geframt wurden. So wurde auf diesen Kundgebungen die Deindustrialisierung Deutschlands beklagt und das Ende der russischen Gasimporte als Sargnagel für den deutschen Mittelstand bezeichnet. Sozialpolitische Forderungen ohne nationalistischen Bezug fehlten auf diesen Protesten hingegen.

Dazu passt, dass sich die AfD im Spätherbst 2022 selbst gegen die minimalen Verbesserungen polemisierte, die die Regierungskoalition mit dem Bürgergeld plante. AfD-Politiker schwadronierten vom leistungslosen Müßiggang, der verhindert werden müsse, indem die Armen weiter sanktioniert werden. Diese rechten Erzählungen, die von der CDU/CSU mit leichten Abstrichen übernommen wurden, kamen nicht nur beim Mittelstand, sondern auch bei dem Teil der Armen an,die sich damit gegen Menschen wenden, denen es noch schlechter als ihnen selbst geht.

Das gibt autoritären Charakteren die Gelegenheit, auf diesen Menschen herumzuhacken. Hier findet sich ein Unterscheidungsmerkmal, das besser als viele zivilgesellschaftlichen Organisationen, die beständig vor einer Querfront warnen, den Unterschied zwischen strukturell rechten und emanzipatorischen Protesten aufzeigt.

Auf strukturell rechten Veranstaltungen stellen Menschen empört fest, dass sie es nicht verdient hätten, unter denselben Bedingungen leben zu müssen wie die Armutsbevölkerung. Auf emanzipatorischen Veranstaltungen geht es darum, dafür zu werben, alle Verhältnisse abzuschaffen, die Menschen dazu zwingt, unter Bedingungen zu leben, die niemand verdient hat.