Inflation und Sozialprotest: Der "heiße Herbst" und die Warnung vor der Querfront

Wut über Ungerechtigkeiten ist nicht immer gleich mit einer ausgefeilten Analyse verbunden. Symbolbild: Pixabay Licence

Warum blieben Massenproteste gegen die Inflation im vergangenen Jahr aus – und was ist aus der Bewegung gegen die Hartz-IV-Gesetze geworden? Ein Sammelband geht auf Spurensuche.

"Klassenlos - sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten lautet der Titel eines Sammelbands der im Verlag "Die Buchmacherei" erscheint. Herausgegeben wird er von Anne Seeck, Gerhard Hanloser, Harald Rein und dem Telepolis-Autor Peter Nowak. Das Buch soll an die schnell vergessenen Proteste gegen die Einführung von Hartz IV ab Sommer 2004 erinnern und verdeutlichen, dass soziale Kämpfe gegen Verarmung nicht zu Ende ist.

Vor einem Jahr wurde viel über den "heißen Herbst" gegen Inflation diskutiert. Verschiedene Beiträge in dem Band widmen sich der Frage, warum dieser "heiße Herbst" ausgeblieben ist und auch danach keine großen Bewegungen gegen Verarmung zustande kamen. Der hier vorab veröffentlichte Beitrag befasst sich mit den Warnungen vor einer Querfront im Zusammenhang mit den Teuerungsprotesten.

Erinnerung an griechische Proteste gegen das EU-Spardiktat

Ich beginne mit einer Erinnerung an die sicher weitgehend vergessenen, aber turbulenten Protestwochen gegen die autoritären Krisenlösungsmodelle der EU-Troika für Griechenland. Es war ein warmer Sommerabend im Jahr 2015, als eine Spontandemonstration durch die Berliner Innenstadt zum Amtssitz des damaligen Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble führte, der das Gesicht jener Troika war, die damals der linkssozialdemokratischen Syriza-Regierung in Griechenland das EU-Austeritätsprogramm aufdrückte.

Die circa 1.200 Demonstrierenden, darunter viele junge Menschen, unterstützen in Sprechchören die griechische Bevölkerung, die sich gegen die Politik der Austerität wehrte. Doch als sie vor dem leeren, von der Polizei gesicherten Finanzministerium ankam, zerstreute sich die Menge schnell. Niemand wusste, was zu tun ist, um den Konflikt zuzuspitzen.

Wenige Tage später kam die Nachricht, dass die griechische Regierung der Erpressung der EU-Troika nachgegeben und sich dem EU-Diktat unterworfen hatte. Sofort zerfiel die sehr junge linke Protestbewegung auch in Deutschland. Es war ein erneuter Beweis, dass Demokratie im real existierenden Kapitalismus ihre Grenzen da hat, wo Profitinteressen in Gefahr geraten.

Die griechische Regierung war mit großer Mehrheit gewählt worden, um sich gegen das Austeritätsprogramm der EU zu wehren. Das wurde dann noch einmal durch eine Volksabstimmung bestätigt, bei der die große Mehrheit der griechischen Wähler "Oxi", nein zum Austeritätsprogramm, sagte. Doch die EU-Troika drohte der griechischen Regierung mit dem Rauswurf aus der EU, würde sie diese demokratischen Voten umsetzen.

Aufstieg einer populistischen Rechten

Warum sind diese kurzen Rückblicke in die jüngere Vergangenheit notwendig? Hier hatte eine Generation von jungen Aktivisten die Erfahrung gemacht, dass die Macht des Kapitals bürgerlich-demokratisch gewählte Regierungen ignorieren kann. Diese Erfahrungen haben damals in vielen Ländern der EU Hunderttausende Menschen gemacht. Sie haben Massendemonstrationen gegen die Austeritätspolitik organisiert, die oft brutal niedergeschlagen wurden. Sie haben sich mit Streiks und Fabrikbesetzungen gegen die Zumutungen des globalisierten Kapitalismus gewehrt.

Doch sie sind gegen die Macht des EU-Kapitals, dessen Machtzentrum nicht zufällig viele in der deutschen Politik sahen, nicht durchgekommen. Es waren die gleichen deutschen Politiker:innen, die 2005 bereits in Deutschland gegen Widerstand das Hartz IV-Regime durchsetzen, mit denen die Armen, ob erwerbslos, oder in Teilzeit- oder Vollzeitarbeit, entrechtet wurden. Es ging dabei um die Senkung der Kosten für die Ware Arbeitskraft in Deutschland, was dazu führte, dass das Land zum Ausgangspunkt eines Lohndumpings im EU-Bereich wurde.

Im Anschluss mussten sich nach der kapitalistischen Logik die übrigen EU-Staaten am deutschen Hartz IV-System orientierten und die Armen ebenfalls weiter entrechten. Dagegen gab es vor allem in den Ländern der südeuropäischen Peripherie massive Proteste in den Jahren 2011 bis 2014. Höhepunkt war am 31. März 2014 ein EU-weiter Generalstreik, der vor allem in Spanien, Italien und Griechenland zum Stillstand großer Teile der Industrie des Landes führte. In Deutschland wurde er von einer kleinen linken Bewegung unterstützt, die das Logo "M31" führte.

Die Proteste gegen Hartz IV und die Frage der Hegemonie

Diese Vorgeschichte sollte nicht vergessen werden, wenn man von den Sozialprotesten heute spricht. Denn eine Folge der Niederlage der linken Bewegung gegen das EU-Diktat war der Aufstieg einer populistischen Rechten in vielen europäischen Ländern. In Deutschland etablierte sie sich in Form der AfD, aber auch außerhalb der Parlamente konnten sich Rechte stärker etablieren, beispielsweise bei den Pegida-Protesten. Erstmals gab es bei außerparlamentarischen Bewegungen nicht eine zumindest diffus linke Hegemonie, wie sie mit vielen Brüchen bei den Hartz IV-Protesten im Sommer 2004 noch erkämpft werden konnte.

Auch damals gab es schon Orte, wo unterschiedliche rechte Gruppen das Heft in der Hand hatten. Doch in der Regel gelang es Antifaschisten, linken Initiativen, der Basisgewerkschaft Freie Arbeiterunion (FAU, in Einzelfällen auch Ortsgruppen der PDS und engagierten Gewerkschaftlern wie dem damaligen Vorsitzenden der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherung in Thüringen (HBV). Angelo Lucifero, die Rechten aus den Protesten zu drängen oder zumindest dafür zu sorgen, dass sie dort nicht die bestimmende Rolle einnehmen konnten.

Da wurden in Einzelfällen sogar angemeldete Demonstrationen abgebrochen, weil nur so verhindert werden konnte, dass dort organisierte Rechte mit eigenen Transparenten mitlaufen konnten. Darauf lernten die Aktivisten, dass in den Aufrufen auch ein Passus gegen Antisemitismus und Rassismus eingefügt werden muss, wenn man organisierte Rechte gesetzeskonform aus den Protestzügen raushalten wollte. Bei größeren Demonstrationen gelang es auch linken Teilnehmer:innen, die Rechten aus dem Protestzug herauszudrängen, was nicht selten zu Konflikten mit der Polizei führte.

Wie die Rechten den Staatsapparaten nützlich sind

Mit dem Aufstieg einer Rechtspartei wie der AfD hatten die vielen Unzufriedenen die Möglichkeit, auf die Straße zu gehen, ohne rot zu werden, wie eine Parole dieser Partei heißt. Für die Staatsapparate war dieser Aufstieg der Rechten nützlich. Sie konnten vor einer angeblichen Querfront zwischen rechten und linken Rändern warnen und sich als Kraft der Vernunft in der Mitte gerieren.

Das ist eine Neuauflage der altbekannten Hufeisentheorie, nach der schon für das Scheitern der Weimarer Republik angebliche Extreme von links und rechts verantwortlich gemacht werden. So konnte die Verantwortung wichtiger Teile der SPD-Führung und der bürgerlichen Parteien für den Aufstieg der NS-Bewegung abgewehrt werden.

Immer mal wieder wird bis heute völlig sinnfrei vor Weimarer Verhältnissen gewarnt. Eine Parallele zwischen den gesellschaftlichen Verhältnissen in der Weimarer Republik und heute wird aber kaum thematisiert. Es ist die große Macht des Kapitals, das immer dann auf faschistische Krisenlösungsmodelle zurückgreift, wenn eine linke Bewegung zu stark ist und das Kapital seine Profite nicht mehr in einer bürgerlich-demokratischen Form realisieren kann. Das bedeutet nun nicht, dass faschistische und rechtspolitische Bewegungen reine Marionetten des Kapitals sind.

Diese rechten Bewegungen erstarken, weil sie an rassistische, antisemitische oder patriarchale Vorstellungen andocken, die auch in großen Teilen des Mittelstands und der Unterklassen vorhanden sind. Doch rechte Parteien können nur an die Macht kommen, wenn zumindest relevante Teile der Kapitalfraktionen dem zustimmen.

So kann man sagen, dass sich rechte Gruppierungen durchaus unabhängig von relevanten Kapitalfraktionen entwickeln, aber nur mit ihrer Tolerierung an die Macht kommen können. In diesem Stadium sind wir heute in Deutschland zum Glück nicht. Aber auch aktuell haben diese unterschiedlichen Rechtsaußengruppen im Sinne des Staats und des Kapitals eine wichtige Funktion: Ihre Aktivitäten können Menschen abhalten, sich Protesten anzuschließen. Angesichts von Energiekrise und Inflation konnte das sehr schön im Spätsommer 2022 beobachtet werden.