Inside Ukraine: Wie geht es Land und Menschen, Herr Lieven?
Yehor hält ein Spielzeuggewehr aus Holz neben zerstörten russischen Militärfahrzeugen in der Nähe von Tschernihiw, Ukraine, 17. April 2022. Bild: manhhai / CC BY 2.0
Interview mit dem Ex-Kriegsreporter und Eurasien-Experten Anatol Lieven, der von einer Ukraine-Reise zurückgekehrt ist. Er berichtet über russische Raketen und die Ansichten der Ukrainer. Eindrücke im Vorfeld der erwarteten Gegenoffensive.
Anatol Lieven, ein ehemaliger Kriegsberichterstatter und Leiter des Eurasien-Programms des Quincy-Instituts, reiste im letzten Monat in die Ukraine, um vor Ort zu recherchieren, und bekam mehr zu sehen, als er erwartet hatte.
Nachdem er mehrere Tage in Kiew und Butscha verbracht hatte, verunglückte er in Saporischschja, dem Ziel regelmäßiger russischer Bombardierungen, und verbrachte dort eine Woche im Krankenhaus. Anlass für eine interessante Feldarbeit.
Lieven ist nun zurück in Großbritannien. Kelley Beaucar Vlahos, Redaktionsleiterin von Responsible Statecraft, hatte die Gelegenheit, mit ihm ein Interview zu führen.
Sie waren letzten Monat zu Forschungszwecken in der Ukraine. Wohin hat Sie Ihre Reise geführt?
Anatol Lieven: Ich startete meine Reise in Kiew und besuchte für drei Tage Butscha und andere Städte nördlich von Kiew, wo es zu Beginn der russischen Invasion vor einem Jahr zu Kämpfen kam und wo ein Großteil der berichteten russischen Gräueltaten stattfand.
In der Südukraine besuchte ich die Städte Dnipro und Saporischschja. Und in Saporischschja hatte ich einen dummen Unfall – der nichts mit dem Krieg zu tun hatte –, der mich mit gebrochenen Rippen und einer verletzten Lunge in das städtische Krankenhaus Nummer Fünf brachte.
Eine Erfahrung, die ich nicht wiederholen möchte, aber sie ermöglichte mir einige lange, entspannte Gespräche mit Mitpatienten und den Krankenschwestern. Ich konnte auch den russischen Luftangriff auf eine ukrainische Stadt beobachten, was lehrreich gewesen ist.
Als man mich dann aus dem Krankenhaus entließ, wurde ich wieder nach Kiew zurückgebracht, wo ich mich noch ein paar Tage erholte und mich mit Leuten treffen und besprechen konnte. Insgesamt habe ich also drei Wochen dort verbracht.
Was haben Sie aus den Gesprächen mitgenommen?
Anatol Lieven: In den Gesprächen mit den Militärveteranen sind mir verschiedene Dinge aufgefallen. Ein Punkt ist das Ausmaß, in dem sich der Krieg im Osten zu einer sehr blutigen Pattsituation entwickelt hat. Es ist ein Krieg der Artillerie, aber auch ein Krieg der Minen.
Einer der Gründe, warum sich die Front nicht sehr bewegt, ist, dass der Boden absolut mit Minen verseucht ist, sowohl mit Antipersonen- als auch mit Panzerminen. Wie ein Soldat mir sagte, orientiert sich das russische Vorgehen nicht nach der Logik von "Menschenwellen", wie es manchmal in den westlichen Medien beschrieben wurde.
Die Russen werden weiter mit ihrer überlegenen Artillerie auf die ukrainischen Stellungen niedergehen und sie dann, wenn sie glauben, sie hätten die ukrainischen Stellungen zerschlagen, mit kleinen Gruppen von Soldaten versuchen, sie zu besetzen, und anschließend Verstärkung heranbringen.
In Bachmut und Umgebung setzen die Russen nicht mehr oft Panzer ein, weil die Ukrainer so viele von ihnen zerstört haben. Und da sich die Ukrainer inzwischen sehr gut festgesetzt haben, erleiden die Russen in der Regel Verluste und kehren um, oder werden von Minen in die Luft gesprengt. Es ist also ein aufzehrender Zermürbungskrieg geworden.
Wir hören hier immer wieder Geschichten über verzweifelte Rekrutierungsversuche auf ukrainischer Seite. Hatten Sie den Eindruck, dass das der Fall ist?
Anatol Lieven: Die Soldaten, mit denen ich gesprochen habe, berichteten alle von einer sehr hohen Moral in der Armee und der Entschlossenheit, bis zum vollständigen Sieg weiterzukämpfen. Aber ich habe in Kiew gehört, dass es auf dem Online-Chatdienst Telegram Chatrooms gibt, in denen sich junge Männer gegenseitig Tipps geben können, wo die ukrainische Polizei versucht, junge Männer aufzuspüren, die sich bisher der Einberufung entzogen haben. Das zeigt, dass Teile der jungen männlichen Bevölkerung nicht bereit sind, ihren Dienst zu leisten.
Ein weiterer Punkt, der mir während meiner Zeit in Kiew sehr auffiel, war das Ausmaß, in dem die wohlhabenden Schichten, einschließlich der in Reichtum aufgewachsenen Jugend, weiterhin ein privilegiertes, begütertes Leben führen. Die Luxusrestaurants und -geschäfte sind gut gefüllt.
Ich habe ein Geschäft für Luxuslebensmittel besucht, in dem es 68 verschiedene Rumsorten – und Rum ist kein ukrainisches Getränk – und 106 verschiedene Sorten Prosecco und Champagner gab, wobei die teuerste Flasche 600 Dollar kostet. Man kann sich vorstellen, dass so etwas Soldaten, die von der Front zurückkehren, sehr wütend machen kann.
Nun weiß man nicht, woher das Geld für all das kommt. Aber natürlich schürt es auch die Wahrnehmung von Korruption und den Unmut über die Eliten in der ukrainischen Gesellschaft. Das könnte ein Faktor in der zukünftigen ukrainischen Politik werden.
Unterschiede zwischen privaten und öffentlich geäußerten Meinungen
Haben Sie irgendwelche unerwarteten Eindrücke gesammelt, die in Widerspruch zu Ihren Vorstellungen über den Stand des Krieges vor der Reise stehen?
Anatol Lieven: Ich sollte betonen, dass es mir nicht erlaubt war, an die Frontlinie zu gehen. Ich habe also nicht die Städte gesehen, die in den Bodenkämpfen wirklich schwer beschädigt wurden, wie Bachmut, das durch wochen- oder monatelange Artillerieduelle zerstört wurde – obwohl ich die geringeren Schäden gesehen habe, die die Kämpfe vor einem Jahr in den Städten nördlich von Kiew angerichtet haben, darunter Irpin, Butscha und Borodjanka.
Was jedoch in den Städten, die ich besucht habe und die nur unter russischem Luftangriff litten – Dnipro und Saporischschja –, am meisten auffiel, war, wie wenig sie beschädigt worden sind. Ein uninteressierter oder uninformierter Besucher könnte Kiew und Dnipro besuchen, ohne zu wissen, dass sie bombardiert worden sind. Vereinzelt gibt es zerstörte Gebäude und welche, deren Fenster mit Brettern vernagelt wurden, aber nur sporadisch – nichts im Vergleich zu den Bildern von Bachmut oder Mariupol.
Die Bevölkerung ist gegenüber den Risiken sehr widerstandsfähig, man könnte sogar sagen gleichgültig geworden. In meinem Krankenhaus zum Beispiel hat sich niemand die Mühe gemacht, die Fenster mit Klebeband zuzukleben, was man als Erstes tut, wenn man glaubt, dass es in der Nähe eine Explosion geben wird, um sich gegen herumfliegendes Glas zu schützen.
Niemand im Krankenhaus hatte Angst, also hatte ich auch keine. In den Städten, die ich besuchte, schenkte niemand den Luftschutzsirenen die geringste Aufmerksamkeit. An einem Abend in Kiew ging ich in die Oper, und sie war voll.
Das spiegelt mehrere Dinge wider. Erstens, dass es nur eine begrenzte Anzahl von Angriffen gibt. In den zehn Tagen, die ich in Saporischschja verbrachte, wurden elf Raketen und Drohnen auf die Stadt abgefeuert. Das scheint eine ganze Menge zu sein, aber Saporischschja ist eine Stadt mit mehr als 700.000 Einwohnern.
Die meisten schlugen so weit entfernt ein, dass ich sie kaum hörte. Nachts schlief ich trotz der Angriffe. Und die Verluste waren gering: eine getötete Person und etwa dreißig Verwundete. Das zeigt auch die große Wirksamkeit der ukrainischen Raketenabwehr, insbesondere gegen Drohnen, die zwar zahlreich, aber auch sehr langsam sind.
Seit den ersten Tagen des Krieges hat die ukrainische Flugabwehr die russische Luftüberlegenheit praktisch zunichtegemacht. Jüngsten geleakten Informationen aus dem Pentagon zufolge könnte sich das jedoch nun ändern, wenn den Ukrainern tatsächlich bald die Flugabwehrraketen ausgehen.
Zweitens habe ich eindeutige Beweise für die Ungenauigkeit der russischen Raketen gesehen – insbesondere der S-300-Flugabwehrraketen, die nicht für einen Bodenangriff eingesetzt werden sollten, für den sie nicht konzipiert sind.
In Dnipro zum Beispiel versuchten die Russen offensichtlich, das Hauptquartier des ukrainischen Sicherheitsdienstes zu treffen, verfehlten es aber und zerstörten stattdessen eine Reihe von gegenüberliegenden Geschäften, wobei nur die Fenster des SBU-Gebäudes zu Bruch gingen. In den letzten Monaten haben sie die ukrainische Energieinfrastruktur an einigen Stellen schwer beschädigt, doch in letzter Zeit ist ihnen das nicht mehr gelungen.
Ein Grund dafür ist, dass die Russen entweder zu wenig Bodenangriffsraketen haben oder sie gegen die geplante ukrainische Gegenoffensive in Reserve halten. Das wirft auch die Frage auf, ob die Russen wahllos ukrainische Städte bombardieren oder sie ihr Ziel schlicht verfehlen und stattdessen zivile Ziele treffen.
In einem kürzlich erschienenen Artikel in Foreign Policy sprechen Sie darüber, was die Ukrainer bereit waren, Ihnen offiziell zu erzählen, im Gegensatz zu nicht öffentlichen Unterhaltungen. Können Sie uns einige Beispiele nennen?
Anatol Lieven: Die meisten Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sagten inoffiziell und offiziell dasselbe. Ich konnte einen überwältigenden Konsens in der ukrainischen Bevölkerung feststellen, die Ukraine zu verteidigen und sich nicht der russischen Vorherrschaft zu unterwerfen.
Alle, mit denen ich gesprochen habe, glaubten an den Widerstand gegen die russische Invasion, und die meisten waren von der Notwendigkeit überzeugt, bis zum vollständigen Sieg und der Rückgewinnung aller seit 2014 verlorenen ukrainischen Gebiete weiterzukämpfen.
Saporischschja ist eine mehrheitlich russischsprachige Stadt, die in der Vergangenheit stets für Parteien gestimmt hat, die gute Beziehungen zu Russland befürworten. Ich kann Ihnen versichern, dass es in Saporischschja heute keine Sympathie für den russischen Staat und die russische Armee gibt.
Allerdings, und das wurde auch in einigen Meinungsumfragen festgestellt, gibt es regionale Unterschiede, wenn gefragt wird, welche Art von Sieg die Ukraine anstreben sollte. In den russischsprachigen Gebieten war die Zustimmung bezüglich der Notwendigkeit eines bedingungslosen Sieges nicht ganz so einhellig.
Ich habe mit mehreren Journalisten und Analysten gesprochen, die unter vier Augen sagten, dass es ihrer Meinung nach am Ende einen territorialen Kompromiss geben müsse – aber alle bestanden darauf, dass sie diese Aussage nicht offiziell machen.
Mehrere sagten mir, dass jeder, der dieses Argument in der Öffentlichkeit vorbringt, sehr ernste Risiken eingeht – den Verlust seines Arbeitsplatzes, wenn er Journalist ist, das Ende seiner politischen Karriere, wenn er in der Politik tätig ist, und sehr wahrscheinlich auch einen Besuch der ukrainischen Sicherheitsdienste.
Hinsichtlich der öffentlichen Stimmung, die durch die russische Invasion und ihre schrecklichen Folgen erzeugt wurde, aber auch in gewissem Maße durch den ukrainischen Staat, der sich im Krieg befindet, und einer gewissen staatlichen Unterdrückung, gibt es meiner Meinung nach erhebliche Unterschiede zwischen dem, was eine signifikante Minderheit der Ukrainer privat sagt, und der öffentlichen Debatte bzw. dem Fehlen einer solchen in der Ukraine.
Natürlich ist dieser Versuch, einen patriotischen Konsens zu schaffen, in Kriegszeiten ganz normal, aber er wird der ukrainischen Regierung ernste Probleme bereiten, wenn sie am Ende doch einer Art Kompromissfrieden zustimmen muss.
Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass in und um Kiew – verständlicherweise – viel hasserfüllte Sprache auf das russische Volk und die russische Kultur im Allgemeinen gerichtet ist. In Saporischschja richtet sich der Hass gegen die russische Regierung und die Streitkräfte – insbesondere natürlich gegen die Luftwaffe.
Da aber viele Menschen dort zum Teil selbst Russen sind und Verwandte in Russland haben, gibt es diese Art von quasi-rassistischem Sprechen über gewöhnliche Russen viel weniger.
Vielen Dank, Anatol Lieven, für das Interview.
Anatol Lieven: Ich möchte noch dem ukrainischen medizinischen Personal in Saporischschja (Städtisches Krankenhaus) danken, das mich behandelt hat, als ich verletzt war. Ich bin sehr beeindruckt von ihrer Professionalität, Kompetenz und Ehrlichkeit und bin dankbar für ihre Freundlichkeit.
Das Interview erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Übersetzung: David Goeßmann
Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und an der Abteilung für Kriegsstudien des King's College London. Er ist Mitglied des beratenden Ausschusses der Südasienabteilung des britischen Außen- und Commonwealth-Büros. Lieven ist Autor mehrerer Bücher über Russland und seine Nachbarländer, darunter "Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania and the Path to Independence" und "Ukraine und Russland: A Fraternal Rivalry" (Eine brüderliche Rivalität).