Internes Papier: Bundesregierung wirft Israel mangelnden Schutz von Zivilisten in Gaza vor
Koordinierungsgruppe von Ministerien schockiert über Gewalt. Humanitäres Kriegsvölkerrecht als Unterschied zu Terroristen. Offiziell ist von Kritik wenig zu spüren.
Vertreter des Auswärtigen Amtes und verschiedener Bundesministerien haben sich schockiert über die massiven Angriffe Israels auf den dicht besiedelten Gaza-Streifen gezeigt.
In einem internen Papier einer Arbeitsgruppe der Ministerien und Bundesgremien vom gestrigen Montag ist von israelischen Angriffen in bisher nicht gekannter Härte die Rede. Zugleich heißt es in dem internen Protokoll, das Telepolis vorliegt, die israelische Armee gewährleiste keinen ausreichenden Schutz der Zivilbevölkerung.
Sollte die israelische Armee weiterhin das Völkerrecht missachten, drohe sie sich auf das Niveau der islamistischen Angreifer zu begeben. Es sei daher wichtig zu betonen, heißt es in dem Papier wörtlich, "dass das humanitäre Kriegsvölkerrecht und der Schutz der Zivilbevölkerung das sind, was Demokratien stärker macht als Terroristen".
Diese klare Sprache im Protokoll der EU-Koordinierungsgruppe im Auswärtigen Amt ist bemerkenswert. Denn seit den Terroranschlägen islamistisch bewaffneter Gruppen auf Israel am 7. Oktober hat sich die Bundesregierung mit öffentlicher Kritik an den israelischen Streitkräften merklich zurückgehalten.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hält sich heute zu einer als "Solidaritätsbesuch" bezeichneten Visite in Israel auf. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) war kürzlich unter dem gleichen Label zu Gesprächen nach Israel gereist.
In beiden Fällen spielte die Kritik an den massiven Angriffen der israelischen Armee auf den dicht besiedelten Gazastreifen keine nennenswerte Rolle. "Wir trauern und wir bangen mit euch", ließ sich Scholz vor seinem Besuch zitieren – unter Bezug auf Israel jedoch.
In einer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag sagte er: "Unsere Solidarität erschöpft sich nicht in Worten." Anlässlich seines Besuchs in Israel zitierte ihn das Bundeskanzleramt mit den Worten:
Es ist jetzt gerade in dieser ganz besonderen Situation für die israelische Bevölkerung und für das Land von großer Bedeutung, dass die Solidarität auch versichert wird.
Bundeskanzler Olaf Scholz, Pressemitteilung vom 17.10.2023
Massiv steigende Opferzahlen in Gaza
Das Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten korrigiert die Zahl der überwiegend zivilen Opfer der israelischen Angriffe in Gaza derzeit täglich nach oben. In der letzten am Montag veröffentlichten Übersicht hieß es, auch am zehnten Tag des Konflikts gingen die schweren israelischen Bombardierungen des Gazastreifens aus der Luft, vom Meer und vom Land aus fast ununterbrochen weiter.
In den letzten 27 Stunden (Stand 21:00 Uhr) wurden 138 Palästinenser getötet, womit sich die Gesamtzahl der Todesopfer im Gazastreifen nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza auf 2.808 erhöht hat. Weitere Hunderte werden vermisst und sind vermutlich unter den Trümmern verschüttet.
Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten , Flash Update # 10, 16.10.2023
Am Montag seien sieben Mitglieder des Zivilschutzes bei einem Luftangriff getötet worden. Die Gesamtzahl der im Dienst getöteten humanitären Helfer steige damit auf 31 Opfer an.
Das UN-Gremium führt derzeit täglich in sogenannten Flash-Updates die Zahlen der Toten und Verletzten in den palästinensischen Gebieten und in Israel auf. Nach dem Angriff unter Führung der islamistischen Hamas sind demnach weiterhin 1.300 Menschen getötet worden.
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Bei den meisten Opfers auf israelischer Seite handelt es sich um Zivilisten, die im Zuge des Massakers unter Führung der Hamas am 7. Oktober ermordet wurden. Die Zahl der Versehrten wurde auf israelischer Seite inzwischen auf 4.121 korrigiert.
Dazu gehören die Verletzten im Zuge des Massakers, aber auch infolge von Raketenangriffen aus dem Gazastreifen sowie militärischer Auseinandersetzungen.
Zu den massiv steigenden Opferzahlen in Gaza tragen vor allem die Angriffe mit Bomben und Raketen bei. Die UNO zitiert Behörden aus Gaza, denen zufolge "bis zum 14. Oktober 8.840 Wohneinheiten zerstört und 5.434 Wohneinheiten beschädigt und unbewohnbar gemacht" worden seien.
Die Weltgesundheitsorganisation habe seit dem 7. Oktober 48 Angriffe auf die Gesundheitsversorgung im Gazastreifen dokumentiert.
Solidarität mit Israel (im Rahmen des internationalen Rechts)
Angesichts dieser Entwicklung haben am Montag Vertreter des Auswärtigen Amtes, des Bundeskanzleramtes, des Entwicklungsministeriums und des Innenministeriums die gemeinsame Position Deutschlands besprochen, wie es in dem von Telepolis ausgewerteten internen Dokument heißt. Die Absprache fand mit Blick auf eine Videogipfel der EU-Staats- und Regierungschefs heutigen Dienstagnachmittag statt.
Bei diesem virtuellen Sondergipfel sollen die Staats- und Regierungschefs über eine "klare, geeinte Vorgehensweise" verhandeln, wie aus der Einladung von EU-Ratspräsident Charles Michel an die Mitgliedsländer hervorgeht. Demnach soll es unter anderem um mögliche Vermittlungen in dem Konflikt gehen. Ziel der EU müsse es sein, humanitäre Hilfe zu leisten und eine regionale Eskalation des Konflikts zu vermeiden, erklärte Michel.
Die Bundesregierung möchte dabei, wie es in dem Protokoll heißt, "Terror beim Namen nennen", und volle Solidarität mit Israel" üben – wobei der zweite Punkt mit dem Zusatz "im Rahmen des internationalen Rechts" versehen ist.
Es sei "absolut klar", dass Israel das "Recht zur Selbstverteidigung gegen diesen grausamen Angriff" habe. Zugleich sieht die Bundesregierung Israel in der Pflicht, "eine humanitäre Katastrophe in Gaza zu verhindern". Wörtlich heißt es im üblichen Stil diplomatischer Protokolle:
Selbst in dieser schwierigen Situation, muss Schutz der Zivilbevölkerung gewährleistet sein – aktuell nicht der Fall. Müssen verdeutlichen, dass humanitäres Kriegsvölkerrecht und der Schutz der Zivilbevölkerung das ist, was Demokratien stärker macht als Terroristen. Sollten dafür werben, dass vulnerable PSE-Bevölkerung (insb. Frauen, Kinder, Kranke und Alte), Gaza verlassen können.
Aus der Abstimmung der Bundesministerien vom 1610.2023
Vor einer wahrscheinlichen israelischen Bodenoffensive sehen die Vertreter deutscher Ministerien eine "drohende, reale Gefahr eines regionalen Flächenbrandes". Dem müsse die Europäische Union nun geschlossen entgegenwirken.
Ägypten: Können eine Million Menschen nach Europa schicken
Die Vertreter der Ministerien haben am Montag in Berlin vor allem über die humanitäre Lage im Gazastreifen beraten. Sie befinde sich an einem Kipppunkt", heißt es in ihrem Protokoll, die Härte der israelischen Angriffe sei präzedenzlos. Die Teilnehmer der EU-Koordinierungsgruppe gehen von hohen Opferzahlen aus, die allerdings noch von den aktuellen UN-Angaben abweichen.
In dem Protokoll der Ministerien ist von bereits "mehr als 1.900 getöteten Palästinensern" die Rede, "darunter circa 600 Kinder und 250 Frauen, 6.600 Verletzte sowie über 1.500 zerstörte Gebäude".
Zum Vergleich wird die Bilanz des sechswöchigen Gaza-Konflikts 2014 angeführt. Damals habe es auf palästinensischer Seite 2.000 Tote und 7.000 zerstörte Häuser gegeben.
Auch deutsche Beamte unter Federführung des Auswärtigen Amtes wiesen am Montag darauf hin, dass die Aufnahmekapazitäten für Binnenflüchtlinge in Gaza nahezu erschöpft seien. Es gebe derzeit auch "keinen humanitären Zugang nach Gaza infolge der israelischen Totalblockade".
Angesichts der drohenden Flüchtlingskrise spitzt sich derweil der politische Konflikt zwischen der Europäischen Union und Ägypten zu. EU-Vertreter haben die Führung in Kairo wiederholt aufgefordert, Hunderttausende Palästinenser aufzunehmen. Ägypten ist nach Israel der zweite Anrainerstaat des Gazastreifens.
Die Tageszeitung Financial Times schreibt, Kairos größte Sorge sei, "dass Ägypten unter Druck geraten könnte, einen Flüchtlingsstrom in den Sinai zuzulassen".
Ägyptens Botschaft an westliche Diplomaten war eindeutig: Es wird Hilfsgüter nach Gaza liefern, sich aber jedem Druck widersetzen, eine große Zahl von Palästinensern aufzunehmen. Sameh Shoukry, der ägyptische Außenminister, warnte am Montag, dass "Zwangsumsiedlungen" keine Lösung für die palästinensische Krise seien.
Financial Times
Ein hochrangiger ägyptischer Beamter habe sich gegenüber einem europäischen Amtskollegen noch deutlicher geäußert, heißt es in dem Bericht: "Sie wollen, dass wir eine Million Menschen aufnehmen? Nun, ich werde sie nach Europa schicken. Wenn Sie sich so sehr um die Menschenrechte sorgen, dann nehmen Sie sie auf."
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