Irak: Die Jugend stellt die Systemfrage
Die Proteste im Irak richten sich gegen das "Eingemachte" des Systems. Die Regierung reagiert wie auf eine Kriegserklärung. Die Möglichkeiten, die Unruhen von außen zu instrumentalisieren, sind groß
Es ist unübersehbar, dass die Proteste in Algerien, in Ägypten, wo sie wieder aufgeflammt sind, und jetzt im Irak allesamt von der Jugend getragen werden und im Grunde die Systemfrage stellen. Es kann so nicht weitergehen, lautet die Forderung, die all' diesen Protesten unterliegt. Wenn, wie im Irak, geschätzt 25 Prozent der Jugend arbeitslos sind (manche gehen sogar von noch höheren Werten aus) und kaum oder keine Aussichten bestehen, dass sich die Situation grundsätzlich zum Besseren wendet, dann geht es um das "Eingemachte" des herrschenden Systems.
Auch wenn der Aufruhr kurzfristig wieder beruhigt wird, was im repressiven Ägypten sehr wahrscheinlich ist und im Irak gut möglich, bleiben die grundsätzlichen Probleme. Mit einem Regierungswechsel allein ist es nicht getan, diese Erfahrung hat sich offenbar bei den Jüngeren festgesetzt (am Konsequentesten zeigt sich das in Algerien, wo sich die Protestbewegung nicht mit dem Neuwahlen-Köder abspeisen lässt). Spontane Anlässe genügen, um eine wütende Menge auf die Straße zu bringen. Und in ihrem Gefolge wie immer auch Krawallisten.
Im Irak, so berichten es Experten und Medien, soll die Entlassung eines populären Generals, namens Abdul-Wahab al-Saadi, der sich im Kampf gegen den IS eine Reputation im ganzen Land verschafft hat, ein Zündmoment gewesen sein.
Aber es gibt noch einige andere Auslöser - aktuelle, wie das Vorgehen gegen Jobsuchende, und das Dauerthema der Korruption der Politiker und Funktionseliten. Eine höhere zweistellige Milliardensumme sei seit der Besatzungszeit der US-Truppen verschwunden, bringt ein Experte bei al-Jazeera vor. Das kennt man seit den Geschichten von Koffern - oder gar Flugzeugen - voller Geld, die von den USA in den Irak gebracht wurden, wie sie im letzten Jahrzehnt kursierten.
Schaut man sich einen Ausschnitt aus der Gegenwart an, der zeigt, wie weit die Korruption die Arbeit der Abgeordneten des irakischen Parlaments bestimmt, so frappiert die konkrete Wirklichkeit des Vorwurfs, der mittlerweile so allgegenwärtig ist, dass er kaum mehr berührt oder skandalisiert.
"Ernsthafte Proteste"
Der Skandal ist die Kluft zwischen denen, die vom System profitieren und "denen da draußen", die Probleme mit der Stromversorgung, Trinkwasser und Einnahmequellen haben. Das waren die Hauptgründe für die Proteste, die alljährlich in den heißen Sommermonaten im Süden Iraks, in Basra, auch für kleinere Meldungen hierzulande sorgten. Dieses Jahr erfuhr man hier gar nichts, es war stiller geworden.
Die Proteste, die nun seit Dienstag gleich an mehreren Orten und Provinzen im Irak ausgebrochen sind, sind ernsthafte Proteste, heißt es jetzt: die erste große Herausforderung dieser Art für Premierminister Adel Abdul Mahdi. Der nahm sie offensichtlich auch ernst: Auf Demonstranten wurde mit scharfer Munition geschossen; manchmal sei zur Warnung nur in die Luft geschossen worden, dennoch verletzten die herabfallenden Kugeln Personen in der Menge. Die Absicht der Regierung, gegen die Demonstranten kriegsmäßig vorzugehen, ist unübersehbar. Geschossen wurde auch gezielt, wie Bildmaterial dokumentiert - und die Bilanz spricht für sich.
Tote und Verletzte, Ausgangssperre und Blockade des Internetzugangs
Mittlerweile wird von 20 Toten und 1.000 Verletzten berichtet (wie immer sind solche Zahlenangaben allerdings mit Vorsicht zu handhaben, da sie allein schon ein Politikum darstellen). Die Regierung verhängte für Donnerstag ein 24-Stunden-Ausgangsverbot für Bagdad - die Protestierer hielten sich nicht daran. Auch für Najaf (deutsch: Nadschaf) und Nasiriya, beide Städte liegen im Süden des Landes, wurde ein Ausgangsverbot verhängt. In Bagdad, so berichtet al-Jazeera, hielt dies Demonstranten nicht von der Fortsetzung der Proteste ab.
Seit Tagen wird der Internetzugang im Irak großflächig blockiert, um Verabredungen und Informationsaustausch über Soziale Medien zu erschweren. Erst am Donnerstagabend gab es Mitteilungen, wonach die Blockade teilweise - ausgenommen sind die Sozialen Netzwerke - wieder aufgehoben wurde.
Mit den Demonstrationen verbunden wird ein Phänomen, das auch andere Proteste der jüngeren Zeit kennzeichnet - die der Gelbwesten in Frankreich und die in Algerien (zumindest in den ersten Monaten, sie laufen seit Februar!) -, nämlich das Fehlen von Führungspersönlichkeiten, Parteien oder Organisationen, die "Regie führen".
Die Proteste erscheinen spontan und ungeordnet und sind daher schlecht zu kontrollieren. Mit leichter Verwunderung konstatieren Berichte über die gegenwärtige Proteste im Irak, dass diesmal nicht der schiitische Kleriker Muqtada as-Sadr organisatorisch dahintersteckt. (Gleichwohl unterstützt er sie aber und das vom Haus der Sauds finanzerte Medium Ashark Al-Aswat weist ihm durchaus eine wichtige Rolle zu.)
Spontan und ungeordnete Proteste, Einflussmöglichkeiten von außen
Durch den spontanen "Schwarmcharakter" der Proteste, die über ihre augenscheinliche Offenheit noch(?) keine Zuordnungen zulassen, ergeben sich aber auch Möglichkeiten, sie von außen zu schüren und nach eigenen Interessen zu akzentuieren (insofern kann man die Blockade der Soziale Netzwerke, die viele Einflussmöglichkeiten einräumen, die Proteste zu porträtieren oder zu rahmen, auch als politisches Mittel sehen, um sich im Informationskrieg zu wehren).
Für das Schüren von Aufständen bietet der Irak reichlich Spannungsfelder. Und es gibt große Interessen auch von außerhalb, namentlich vonseiten der USA und Saudi-Arabiens, die Stellung Irans im Irak zum Thema zu machen und die Proteste politisch zu kapitalisieren.
Der Irak ist ein Nachbarland Irans, das dort traditionelle enge Verbindungen hat und dessen Einflussmöglichkeiten sich seit dem militärischen Regime Change durch die USA (mit dem Einmarsch 2003) deutlich gesteigert haben. Die Palette der Beziehungen ist vielfältig (wie alles im echten Leben). Die Konfrontation zwischen den USA und Iran aber verengt das politische Feld und pflanzt Minen.
Dazu kommt, dass es auch im Irak die auf einem Nationalbewusstsein gegründete Auffassung gibt, der Einfluss Irans sei zuletzt zu groß geworden. Man will sich weder von den USA noch von Iran vereinnahmen und auch nicht in diesem Konflikt instrumentalisieren lassen, bedeutet diese Haltung. Nach den Bildern der augenblicklichen Berichterstattung gibt es keine deutlichen Zeichen dafür, dass der geopolitische Konflikt zwischen Iran und den USA für die Protestierer eine prominente Rolle spielt. Die interne Auseinandersetzung über den Einfluss Irans aber schon.
Dafür dass die Proteste aber hauptsächlich einen anderen Schwerpunkt haben, spricht auch die Rede, die Iraks Präsident Barham Salih kürzlich vor der UN-Vollversammlung hielt. Dort fühlte er auf den Nerv des Problems.
Der heutige Irak hat eine Bevölkerung von 38 Millionen. Fast 70 Prozent sind jünger als 30 Jahre und ein großer Teil der jungen Bevölkerung hat nicht die Möglichkeiten, einen sinnvollen Arbeitsplatz zu finden … 307.000 Personen mit Hochschulabschluss sind arbeitslos. Für mich hat das Priorität. Also, wenn man von der real notwendigen Aufgabe ablenkt, unsere Wirtschaft neu aufzustellen und zu beleben und Arbeitsmöglichkeiten für die Jungen zu schaffen, den Bildungsbereich und den Gesundheitssektor zu reformieren, und sich stattdessen mit Gesprächen über den nächsten Krieg ablenkt, so ist das pure Verrücktheit.
Barham Salih
Auch die Korruption sprach der Präsident an, sie sei die "politische Ökonomie des Konflikts".
Das anti-iranische Moment
In den ersten Medienbewertungen der Proteste wird darauf aufmerksam gemacht, dass der Präsident den Protesten gegenüber eine andere, verständnisvollere Haltung einnimmt als Ministerpräsident Abdul Mahdi, der, nachdem erste Maßnahmen aus dem gängigen Beruhigungspillen-Repertoire (Versprechen auf mehr Beschäftigung für Uni-Absolventen) keine Wirkung zeigten, offenbar auf Härte setzt und mit Mitteln der Aufstandsbekämpfung auf die Demonstrationen reagierte (allerdings kommen aus seiner Nähe auch Kommentare, die auf ein gewisses Verständnis mit den Protesten schließen lassen).
Indessen wird in sozialen Netzwerken, aber auch in Berichten erfahrener Beobachter, auf Spannungen hingewiesen, die sich aus einer "anti-iranischen Befindlichkeit" ergeben und bei den Protesten eine Rolle spielen.
Bemerkenswert ist tatsächlich, dass Proteste im geistlichen und politischen Zentrum der irakischen Schiiten in Nadschaf oder dem schiitischen Pilgerort Kerbela stattfinden. Von dort berichtet der al-Monitor-Autor Ali Mamouri die ihm von einer Quelle aus der unmittelbaren Nähe des einflussreichen Ayatollah Ali al-Sistani hintertragene Episode, wonach dessen Sohn Reza den bekannten Chef der iranischen al-Quds-Miliz der Revolutionsgarden, Kasim Soleimani, davor gewarnt habe, dass es zu "Aufständen der irakischen Straße" komme, wenn sich Iran weiter so im Irak verhalte. Gemeint ist eine zu starke Einmischung.
Dass Konflikte zwischen Parteien, die dem Iran nahestehen und den anderen, die sich dagegen verwehren, eine Rolle bei den Aufständen spielen, wird durch einen Auslöser bestätigt: die eingangs genannte Absetzung des populären Generals Abdul-Wahab al-Saadi von einer wichtigen Position. Sie wird von manchen Seiten als politische Konzession des Premierministers an die dem Iran nahestehenden Fraktionen aufgefasst, da al-Saadi nach der Einschätzung iranischer Vertreter eine zu große Nähe zu US-Vertretern zeigte. Daraus entwickelte sich offenbar ein Lagerkampf, dessen Rhetorik von der nuancierten Realität abweicht, wie ein Bericht des Mediums Niqash kommentiert.
Die schiitischen Milizen
Aber auch bei den innenpolitischen Streitigkeiten, wo es um den Einfluss Irans geht, spielen ökonomische Faktoren eine wichtige Rolle, wie sich am Problem der schiitischen Milizen zeigt, die als Volksmobilmachungseinheiten, Popular Mobilisation Units (PMU) oder al-Haschd asch-Scha'bi bekannt sind - in der internationalen Öffentlichkeit durch ihre maßgebliche Rolle im Kampf gegen den IS im Irak. Ins Leben gerufen hatte die Mobilmachung ein Aufruf des bereits erwähnten Ayatollah Ali al-Sistani.
Die Auflösung und Entwaffnung dieser Milizen - die mit Iran verbunden sind, aber eben nicht alle und nicht alle gleich stark - , würde zu großen Spannungen führen, weil damit auch die Einnahmequelle von Zehntausenden wegfallen würde. Die USA drängen allerdings in ihrer Konfrontation mit Iran auf ein deutliches Einschreiten der irakischen Regierung, die hier offenbar nicht anders kann als dem Thema auszuweichen, indem man ein paar Weichenstellungen signalisiert, aber keine drastischen Maßnahmen wagen kann.
Das Hochkochen der Emotionen im Fall des Generals Abdul-Wahab al-Saadi, dessen Foto auf mehreren Demonstrationen prominent herausstach, ist ein Signal dafür, wie vermint das politische Gelände ist. Dass sich obendrein die parlamentarische Opposition durch den Wechsel der Sairoon-Allianz von Muqtasa as-Sadr neu formiert und verstärkt hat, verstärkt auch den Druck auf den Premierminister.
So konnte infolge der Proteste auch Adel Abdul Mahdi als Premierminister fallen, aber damit wäre, was die Haupttriebfeder der jugendlichen Demonstranten angeht, nichts gelöst.