Irak: Proteste eskalieren
Die Zahl der Toten steigt auf fast 100. Weder der Regierungschef Abdul Mahdi noch der einflussreiche Ayatollah Ali Sistani konnten die Lage beruhigen. Zeichen einer Einmischung von außen häufen sich
Die Proteste im Irak eskalieren. Mehrere Anzeichen deuten darauf hin, dass die von der aussichtslosen Lage der Jugend angestoßenen Proteste, wie befürchtet (Irak: Die Jugend stellt die Systemfrage), von Kräften geschürt werden, die die Gelegenheit nutzen, um eigene politische Ziele zu verfolgen.
Beobachter, die über Kontakte zur irakischen Regierung verfügen, stellen die These auf, dass der "stille Krieg zwischen den USA und Iran nun in einen irakischen Aufstand transformiert" wurde.
Mittlerweile zählt die Bilanz der Opfer laut Reuters beinahe 100. Die UN ruft zum Ende des sinnlosen Blutvergießens auf. Festzustellen ist, dass weder der 17-Punkte-Plan, den Regierungschef Adel Abdul Mahdi nach einer eilig einberufenen Kabinettssitzung zur Besänftigung der Proteste vorschlug, noch der deeskalierende Aufruf aus dem Umkreis des einflussreichen Ayatollahs Ali Sistani einen beruhigenden Effekt auf die Proteste ausüben konnten.
Einsatz von Scharfschützen, Angriffe vermummter Gruppen auf TV-Sender
Bilder vom Wochenende, wie sie von Reporting Iraq dokumentiert werden, die mit Mobiltelefonen inmitten von Protesten aufgenommen wurden, zeigen, dass Demonstranten gezielt von Scharfschützen (snipers) getötet wurden. Dazu kamen über Twitterkonten verbreitete Nachrichten, wonach mehrere Sendestationen von bewaffneten Gruppen angegriffen wurden. Auch die Washington Post, Al-Arabyia und RT berichteten darüber.
Es kursieren Beobachtungen, die sich auf Augenzeugen stützen, wonach die Gewalt gegen die meist jugendlichen Protestierer nicht nur von den Sicherheitskräften der Regierung stammt, sondern von anderer, "dritter" Seite kommt, die Opfer sowohl unter den Protestierern wie unter den irakischen Sicherheitskräften verursacht.
Unter den irakischen Militärs wie auch unter den Polizeikräften gebe es ein großes Maß an Verständnis und Solidarität für die Motive der jugendlichen Protestierer, wird zumindest im Fall von Basra behauptet.
Für diese Behauptung - die an anderer Stelle allerdings dahingehend relativiert wird, dass Sicherheitskräfte dennoch mit Härte gegen Protestierer vorgehen - sprechen Äußerungen aus dem Umkreis des Premierministers Adel Abdul Mahdi und von ihm selbst, die auf eine Position des grundlegenden Verständnisses für die Nöte der Jugendlichen und der Bevölkerung schließen lassen.
Allerdings kommen von Regierungsseite auch Interpretationen, wonach die Proteste schon seit Monaten geplant waren. Der Tod von 16 Mitgliedern der Sicherheitskräfte sowie das Inbrandsetzen von Regierungsgebäuden und Gebäuden von Parteien wird nach Informationen von Elijah J. Magnier in Bagdad als Zeichen dafür gewertet, dass die "echten Klagen der Bevölkerung" von Kräften umdirigiert wurden.
Der Zorn und die Aussichtlosigkeit
Demgegenüber besteht weitgehend über unterschiedliche Lager hinweg Einigkeit, dass die Proteste auf sozialen Ursachen aufbauen, die schon länger bekannt sind. Die gegenwärtige Regierung hat sie bereits von der Vorgängerregierung übernommen. Dass die Versorgungsengpässe bei Strom und Trinkwasser elend sind, die Aussichtslosigkeit der Jugend bei einer hohen Arbeitslosigkeit ein "Tunnel ohne Licht am anderen Ende" ist, damit hatte schon die Regierung al-Maliki zu tun. Alljährliche Proteste in Basra wiesen darauf hin.
Ein wichtiges Element des Zorns ist auch die Korruption und die damit verbundene Kluft zwischen der Elite und der Bevölkerung. Als Symbol dafür wird öfter die gesicherte grüne Zone in Bagdad genannt. Der normale Bevölkerung ist der Zugang verwehrt. Zu Anfang der Proteste gab es auch Demonstrationszüge, die versuchten, sich dort Eingang zu verschaffen - vergeblich.
Wenn die Regierungsvorschläge zur Beilegung des Konflikt nun, wie dies häufig der Fall ist, als unzureichend bewertet werden, so ist das typisch für eine Auseinandersetzung mit einer sozialen Bewegungen, die gerade in einer Dynamik steckt, die sich nicht leicht beruhigen lässt. Aber das ist anscheinend nur eine Seite des Protests. Warum sollten die Jugendlichen nach dem Vorbild strategisch vorgehender militärischer Einheiten in einer offensichtlich koordinierten Aktion gezielt Sendeanstalten angreifen?
Propaganda in den Sozialen Netzwerken
Zwischenzeitlich hieß es, dass der Zugang zum Internet, der die ersten Tage im ganzen Land begrenzt oder gänzlich verhindert wurde, in Teilen wiederhergestellt worden sei. Bei den Sozialen Netzwerken aber wurden Blockaden aufrechterhalten. In den letzten Tagen wurde dann wieder berichtet, dass Internetverbindungen weiträumig blockiert seien. Erklärt wurde dies damit, dass auf Twitter seit Beginn der Proteste auffällig viele neue Accounts eröffnet wurden, die sich propagandistisch zu den Ereignissen im Irak äußerten.
Besonders hingewiesen wurde auf die auffällige Häufigkeit neuer Twitterkonten aus Saudi-Arabien. Das wurde als Bestätigung des Verdachts gewertet, wonach dahinter Kräfte in Saudi-Arabien stecken, die Interesse daran haben, die politische Lage im Irak, wo Iran einen großen Einfluss hat, ins Kippen zu bringen.
Von außen lassen sich solche Annahmen nicht bestätigen. Unübersehbar ist, dass die geopolitisch wichtige Lage des Irak wie auch seine komplizierten politischen Verhältnisse im Inneren und die jüngste Vergangenheit, die von militärischer Einmischung seitens der USA und dem seither gewachsenen politischen Einfluss Irans geprägt ist, einen Schauplatz für Interventionen abgibt, die sich der inneren Streitigkeiten bemächtigen und Chaos befördern können.
Der US-Spezialist für den "Neuen Terrorismus", Max Abrahms, ein kritischer Beobachter gegenläufiger Effekte von Antiterrormaßnahmen und Interventionen, prognostiziert folgende Entwicklungen:
Max Abrahms, Autor des Buches "Regeln für Rebellen"
- Die Proteste werden sich verschlimmern.
- Die Regierung wird keine Antwort darauf haben. Sie werden weiter überreagieren.
- Aus der Opposition wird sich eine Führung herauskristallisieren.
- Die Opposition wird politischer werden, gewalttätiger und international.