Iran: Die Oktober-Revolution der Generation Z
Seite 2: Das Modernitätsdilemma in "Blogistan"
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Der Iran war digital immer schon ein Vorreiterland. In den Nuller-Jahren wurde er "Blogistan" genannt – und Soziale Medien wurden dort ebenso früh wie intensiv genutzt. Die "grüne" Bewegung von 2009 galt als erste "Twitter-Revolte". In einer Zeit, in der die meisten Politiker:innen in Deutschland noch keine Facebook-Profile hatten, erschien jede Demo dieser Bewegung kurz danach auf meiner Facebook-Timeline.
Ende der 2010er-Jahre gab es im Iran bis zu 50.000 telegram-basierte Unternehmen. Die Unterdrückung der freien Kultur und Politik, das Fehlen von gesellschaftlichen Räumen, in denen das Private frei gelebt werden kann, zwingt die Menschen ins Virtuelle, wo sie sich frei "treffen", äußern und austauschen können.
Im Digitalen zeigt sich das Modernitätsdilemma des Landes am deutlichsten. Iran ist in der Sozialstruktur ein relativ modernes Land. Nach dem langen Krieg mit Irak in den 1980er-Jahren wurde das Bildungssystem massiv ausgebaut. Im Iran gab es daraufhin eine höhere Studierendenquote als in Deutschland – und mit 52 Prozent war in den 1990er-Jahren die Mehrzahl der Uni-Absolvent:innen weiblich.
Das Land überschritt auch die Urbanisierungsschwelle, sodass nun schon lange die Mehrheit in den Städten wohnt, nicht mehr auf dem Land. Diese moderne Sozialstruktur, die via Internet mit der Welt verbunden ist, steht einer politisch-kulturellen Ordnung der klerikalen Diktatur gegenüber, deren Vorstellungen von Gesellschaft und Geschlechterverhältnissen sich teilweise aus der Scharia und dem Koran des Siebten Jahrhunderts speisen.
Die jetzige Teenager-Generation und diejenigen, die gerade die Universitäten bevölkern, sind jedoch "High Digital Natives". Die Corona-Pandemie hat wie ein "Booster" für die Digitalisierung der Jugend gewirkt. Eine Freundin, die im Teheran Lehrerin ist, beschreibt, wie auch Kinder aus armen Familien gezwungenermaßen ein Handy gebraucht haben, um am Online-Unterricht teilnehmen zu können.
Die Digitalisierung hat eine Jugend heranwachsen lassen, die in einer neuen Weise global ist. Sie kennt die globale Öffentlichkeit, schaut Serien aus dem Ausland, kann global die Musik auswählen, die sie hören will und hat eine Vorstellung vom Leben in all seinen Schattierungen weltweit, sieht Gleichaltrige tanzen, singen und Freude haben – alles, was ihnen die Mullahs verbieten.
Diese Jugend kennt die globalen politischen Diskussionen um Gerechtigkeit und Diskriminierung, sie ist "woke" aufgewachsen, mit ganz anderen ethischen Grundlagen und einer ganz neuen Haltung, was sie bereit ist zu akzeptieren – und was nicht. Sie kommt jetzt erst auf die politische Bühne, und sie wird vieles anders machen als die Generationen zu vor.
Eines von ihnen kannten wir nicht in dieser Form: den Mut, diese Auflehnung im Angesicht einer brutalen Autorität. Mädchen aus der Mittelstufe verjagen den Regierungsvertreter vom Schulhof mit Schreien und Rufen, wissend, dass jeder sie sieht, und sie in dieser Schule bestraft werden können. Der Sprecher des Präsidenten Raisi wurde in der Uni von den Studierenden mit dem Ruf "Mörder, verschwinde!" empfangen.
Frau!
Diese Bewegung ist vielleicht die erste dezidiert feministische Revolution. Im beschriebenen Modernitätsdilemma des Iran leben viele Frauen in einer modernen Sozialstruktur. Sie haben gute Bildung genossen, arbeiten in modernen Betrieben, und sind selbständig. Doch in der Alltagskultur und rechtlich sind sie stark diskriminiert. Im Erb- und Familienrecht sind Frauen Menschen zweiter Klasse, und es gibt keinen legalen Schutz vor häuslicher Gewalt.
Der Zwang zum Schleier ist der äußerste Ausdruck der Diskriminierung. Letztlich sind die Frauen, die sich nicht streng bedecken, der Willkür der Sittenwächter ausgesetzt. Der Tod von Mahsa Amini und einer anderen jungen Frau, die in Baluchestan vor drei Monaten in Gewahrsam starb, brachten nun das Fass zum Überlaufen. Frauen und insbesondere die Jugend sind nicht mehr bereit, all diese Erniedrigungen und Diskriminierungen hinzunehmen.
Der verzweifelte Mut von jungen Frauen, die im Angesicht der brutalen Polizei diese anschreien, die ohne Schleier auf Polizeiautos tanzen, ist ein Schrei gegen die unerträglichen Verhältnisse, in deren Willkür ihr Leben sowieso auf dem Spiel steht.
Dieser Feminismus ist allumfassend: Er stellt alles im Iran in Frage und auf dem Kopf. Jahrtausende altes Patriarchat bedeutet die Diskriminierung von Frauen auf allen Ebenen der Gesellschaft und Kultur: rechtlich, im Betrieb, in der Familie und insbesondere im öffentlichen Leben Gleichstellung der Frau heißt überall alle Machtverhältnisse auf den Kopf zu stellen.
So schwer dies vorstellbar war, so wenig sind die jungen Frauen im Iran bereit, in dieser allgemeinen Gender-Revolution auch nur ein bisschen weniger zu wollen als ihre grundlegende Gleichstellung, also ein komplettes "Upside-Down" der Gesellschaft. Natürlich stellt das die gehobene Machtposition der Männer in Frage. Doch die Unterstützung so vieler Männer für diesen Aufstand zeigt, dass die große Mehrheit der Menschen im Iran begonnen hat, zu verstehen, dass eine Diskriminierung, von der Männer vielleicht erst einmal profitieren, letztlich Teil einer Herrschaft ist, unter der auch sie zu großen Teilen leiden.
Die Befreiung der Frauen vom islamistischen Schleierzwang und ihre gesellschaftliche Gleichstellung ist die Grundvoraussetzung der allgemeinen Befreiung von der Diktatur. Der Zwang zum Schleier ist dabei die Achillesferse des theokratischen Regimes. Wenn der Klerus nicht mehr im Stande ist, diesen Zwang aufrechtzuerhalten, hat er die Kontrolle über das Land verloren.
Leben!
Die Voraussetzung jeder revolutionären Situation ist, dass viele Menschen nicht mehr bereit sind, das Leben so zu ertragen, wie es ist. Unzählige Frauen wollen nicht mehr in dieser Welt des islamistischen Patriarchats leben. Es ist aber noch mehr. Trotz gigantischer Ressourcen und Staatseinnahmen ist die soziale Lage eines Großteils der Menschen im Iran desaströs.
Während die islamistische Oligarchie unfassbare Reichtümer angehäuft hat, darben viele Menschen im Elend, und die, die nicht hungern, leben in permanenter Prekarität. Hyperinflation seit Jahren zerfrisst die Lebensgrundlage der alten Mittelschichten. Fünf Auslandseinsätze des iranischen Militärs bedienen die religiös-imperialen Wünsche des Regimes, zerfressen aber die Ressourcen des Landes.
Kaum verging ein Tag in den letzten Jahren ohne Streiks irgendwo im Iran. Avantgarde einer neuen unabhängigen Gewerkschaftsbewegung waren die Lehrer:innen und die Beschäftigten der Zuckerindustrie. Verzweifelte Arbeiter:innen gingen in den Ausstand, weil staatliche Betriebe teilweise monatelang keinen Lohn bezahlten. Der Ruf nach Leben ist primär ein sozialer Ruf!
Doch es ist noch mehr. Die Menschen sehen digital, was für ein Leben möglich ist. Sie sehen die Welt, zugegeben mehr die schönen Seiten, die durch TikTok und Instagram permanent vor ihren Augen flimmern. Sie wissen von Reichtümern des Landes, mit unfassbar viel Öl und Gasvorkommen. Sie wissen von ihren eigenen Potenzialen und Wünsche. Der Ruf nach Leben ist ein umfassender: Es geht um alles, sie wollen alles im Leben, was sie sehen und leben können, und was ihnen dieser Staat verbietet, und diese Ökonomie verunmöglicht.
Freiheit!
Der Ruf nach Freiheit ist nichts Unbekanntes in einer politischen Diktatur. Seit über einem Jahrhundert durstet Iran nach einer politischen Ordnung einer Republik. Die konstitutionelle Revolution Anfang des 20. Jahrhunderts erstickten die Briten, den antikolonialen Republikanismus zerstörte die CIA mit dem Putsch Ende der 1950er-Jahre – und die große Hoffnung nach der Revolution 1979 ertränkten die Islamisten in Blut. Doch hier geht es mehr als nur die politische Ordnung, auch hier geht es um Alles, es ist eine antiautoritäre Revolte!
In der iranischen Kultur ist der Respekt vor den Alten sehr tief verwurzelt. Alte Menschen, besonders natürlich die Männer, wird von jungen Menschen mit besonderer Höflichkeit begegnet, ihren Wort wird nicht widersprochen. Was wir in den Videos von den Protesten sehen, ist wie junge Menschen alten Klerikern den Turban herunterziehen. Wie Studierende ihre Professoren anschreien und verjagen.
Aus den Schulen wird berichtet, wie die Schüler:innen den Ruf der Schulleitung, ihre Eltern wünschten, dass sie nicht protestieren und sich nicht gefährden, einfach ignorieren. Die Generation Z ist in ihrer Globalität von der Autoritätsgläubigkeit der iranischen Kultur weggerückt. Sie holt hier die 1968er-Revolte nach, gemischt mit viel mehr Universalität.
Politisch ist das ein enormer Gewinn. War jede bisherige Revolte mit dem großen Zweifel begleitet, dass es womöglich keine Alternative zu den Mullahs gibt, ist der Diskurs dieses Mal komplett anders. Die alten Kräfte der Opposition, insbesondere der bei den konservativen US-Iraner:innen recht beliebte Sohn des ehemaligen Königs, spielen in dieser Generation politisch keine Rolle.
In einem viralen Video sagt ein junger Typ: "Die Frage, wer soll statt den Mullahs kommen, ist von der Grundlage her falsch. Das ist das Denken einer Schafsherde, die sich fragt, wenn unser Schäfer weg ist, wer soll dann der Schäfer sein. Wir sind nicht besser als Schafe, wenn wir diese Frage so stellen. Die Frage ist nicht wer, sondern was soll kommen, wenn sie weg sind. Was eine Ordnung wollen wir schaffen? Welche Ordnung braucht die Macht des Volkes?"
Im Zusammenbrechen einer maroden politischen Ordnung Irans ist mehr drin, als eine schlechte Kopie der kriselnden westlichen liberalen Demokratien. Diese antiautoritäre Energie einer neuen politischen Generation, mit von uns älteren unbekannten Fähigkeiten, hat das Potenzial einer politischen Ordnung zu begründen, die mehr ist als eine schwache politischen Repräsentation.
Aus dem Modernitätsdilemma kann eine Modernisierung der Demokratie wachsen, als politischer Ausdruck einer Generation, die nach Leben durstet, und nicht mehr hinzunehmen bereit ist, dass einfach über sie geherrscht wird.