Iran: Die Oktober-Revolution der Generation Z

Am 40. Tag nach dem Tod von Mahsa Amini wurde auch die Trauerfeier zur kämpferischen Demonstration. Foto: ANF

Die Welle militanter Proteste gegen das Mullah-Regime ebbt nicht ab. Das Land befindet sich in einem Modernitätsdilemma: Die Digitalisierung ist weit vorangeschritten, Frauen und Jugend lassen sich nichts mehr gefallen.

Die Revolution im Iran überrascht alle Beobachter. Aus den letzten Dekaden kennt das Land Opposition und Aufstände sehr gut. Doch diese revolutionäre Welle ist anders: Sie ebbt einfach nicht ab. In der siebten Woche und trotz hunderten erschossenen Demonstrant:innen geht der Aufstand und der alltägliche zivile Ungehorsam unvermindert weiter: "Jin, Jiyan, Azadi" – "Frau, Leben, Freiheit" ist der Ruf dieser Revolution, der aus der kurdischen Befreiungsbewegung stammt, und "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" für das 21. Jahrhundert ersetzen könnte.

Die Trauerfeier zum 40. Tag nach dem Tod von Mahsa Amini in Gewahrsam der Sittenpolizei, der diese Revolution ausgelöst hat, markierte in der letzten Woche einen neuen Höhepunkt.

Großdemonstrationen am Grab und in Universitäten sowie unzählige Straßenschlachten bestimmten das Bild an diesem Tag. Vielerorts brennen inzwischen Büros der Milizen und der Polizei. Videos Bauanleitungen für Molotowcocktails gehen viral. In der kurdischen Stadt Mahabad kam es bei der Trauerfeier für einen erschossenen jungen Demonstranten am Mittwoch zu einer militanten Demonstration, in deren Folge die Demonstranten alle Regierungsgebäude der Stadt besetzten.

In südöstlichen Baluchestan, wo die Staatsgewalt bisher am brutalsten vorgegangen war und die meisten toten Demonstrant:innen gezählt wurden, kamen letzte Woche erneut auch zwei ranghohe Offiziere der Revolutionswächter bei den Protesten ums Leben. Zum ersten Mal kam es in Teheran zu Protestversammlungen von Ärztinnen und Ärzten – etwas sehr Ungewöhnliches.

Immer mehr populäre Promis, wie zum Beispiel der beliebte Fußball-Kommentator Adel Ferdosipour oder die Fußball-Legende Ali Daie, solidarisieren sich mit den Protesten.

Das ist ein entscheidender Unterschied zu früheren Protestwellen: Alle gesellschaftlichen Gruppen und Schichten sind beteiligten. Bei der grünen Bewegung 2009 waren es vor allem die gebildeten urbanen Schichten. Beim Aufstand von 2019 waren es die ländlichen Armen, die Mittelschicht blieb zuhause – in der Hoffnung auf den letzten Reformpräsidenten Rohani und aus Angst vor syrischen Verhältnissen.

In diesem Aufstand sind die Universitäten Hochburgen des Protests, zugleich finden aber die größten Demonstrationen der Stadt im armen Süden Teherans statt. Im multiethnischem Iran ist es das erste Mal, dass alle Provinzen zugleich auf die Barrikaden gehen, am heftigsten im iranischen Teil Kurdistans und Baluchestan am Grenzgebiet zu Pakistan.

Die ethnischen Spannungen hatten in den letzten Dekaden zugenommen. Bewegungen, die eine Abspaltung vom Iran forderten, wurden insbesondere bei den türkischstämmigen Azaris im Nordwesten immer stärker. Es ist das erste Mal seit der Revolution 1979, dass das ganze Land, dass alle Ethnien, zeitgleich und mit gemeinsamen Parolen auf die Straße gehen.

Die digitale Generation Z

Ein entscheidender Unterschied ist die soziale Basis dieser Revolution. Die große Mehrheit der Bevölkerung im Iran ist jung. So sind dort Volksbewegungen von Natur aus von jungen Menschen getragen. Ausgangspunkt dieser Bewegung war der Tod einer jungen Frau.

Es ist nicht verwunderlich, dass die Universitäten wieder einmal Hochburgen der Revolution sind. Das ist im Iran traditionell immer so gewesen, weil Studierende mit einer anderen gesellschaftlichen Rolle aufwachsen als im Westen: Student:in sein ist mit starker gesellschaftlicher Verantwortung verbunden, und so war es bereits unter dem Schah üblich, dass Elite-Universitäten Hochburgen der Dissidenz waren.

Nach der Revolution 1979 kontrollierten kommunistische Guerillas das Universitätsleben, bevor sie in den 1980er-Jahren brutal niedergeschlagen wurden. In den 1990er-Jahren hatte die Reformbewegung ihren Hochburgen wieder in den Universitäten, mit dem Aufstand 1997 gegen die Schließung der kritischen Presse, und auch bei der "grünen" Bewegung 2009 waren die Unis der Hotspot.

Neu ist dieses Mal die Rolle, die Schulen, insbesondere Mädchenschulen bei der Bewegung spielen. Wir haben es hier mit der Teenager-Generation zu tun, die in einem bisher unbekannten Ausmaß aufbegehrt. Unzählige Videos sind aus Schulklassen und Schulhöfen zeigen, wie junge Mädchen Parolen rufen, demonstrieren, und Regierungsvertreter vom Schulhof jagen.

Vieles, was an dieser Bewegung neu ist und uns als Beobachter so sehr überrascht und zuvor unvorstellbar war, ist der Ausdruck dieser Jugend, die unbemerkt zum politischen Subjekt entwickelt hat und nun als Avantgarde einer Revolution auf die Bühne tritt.