Iran auf dem Weg zur Revolution
Seite 2: Die Regime-Clique gegen ein ganzes Volk
- Iran auf dem Weg zur Revolution
- Die Regime-Clique gegen ein ganzes Volk
- Auf einer Seite lesen
Bemerkenswert angesichts dieser Radikalität ist der überwältigende Rückhalt für die Proteste in der Bevölkerung. Laut einer inoffiziellen Umfrage des Regimes sollen 83 Prozent der Bevölkerung mit den Protestierenden sympathisieren. 55 Prozent würden sie sogar auf die eine oder andere Weise aktiv unterstützen. Diese Zahlen nannte Mostafa Rostami, der Repräsentant des Obersten Führers Ali Chamenei an den Universitäten, in einem Treffen mit Studierendenvereinen.
Wer in diesen Tagen im Iran in den sozialen Medien unterwegs ist, bekommt das unmissverständlich zu spüren. "Seit zwei Monaten postet niemand mehr private Dinge. Alles ist politisch, es zählt nur noch die Revolution", berichtet Leyla, eine angehende Grafikerin aus Isfahan. Sie umgeht mit einem VPN-Programm die Sperre für Whatsapp und Instagram. Doch statt Selfies und Food-Fotos kursieren dort nur noch Informationen über die Verbrechen des Regimes und Aufrufe zu Protesten, Streiks und Boykott-Aktionen.
Leyla ist eine von rund 65 Prozent der iranischen Frauen, die laut einer Umfrage des iranischen Parlaments ihren Hidschab nicht so streng binden, wie die Gesetze der Scharia es verlangen würden. Was umgekehrt bedeutet: Sie ist eine von mindestens 65 Prozent der Iranerinnen, deren Leben kriminalisiert wird, weil sie es nicht nach den strikten Maßstäben des Gottesstaats führt. Als sie von Mahsa Aminis Tod erfuhr, war Leyla sofort klar: Das hätte genauso gut ich sein können.
Auch Leyla hat schon einmal die Erfahrung gemacht, von der Sittenpolizei abgeführt zu werden. Es war die Hausparty eines Studienkollegen in Teheran, rund ein Dutzend Leute waren eingeladen, Frauen und Männer. Das Wohnzimmer diente als Tanzfläche, es liefen Songs des iranisch-schwedischen Popstars Arash, als zehn Beamte die Tür einbrachen und die Party stürmten. Tatbestand: der Genuss von Alkohol und das sittenwidrige Beisammenseins unverwandter Frauen und Männer.
Leyla und ihre Freundinnen wurden zu ihrer Demütigung gezwungen, sich nackt ausziehen, und mussten daraufhin die Nacht auf der Polizeiwache verbringen. Den zahlungskräftigen Eltern war es zu verdanken, dass sie am nächsten Morgen schon freikamen.
"Die Beschimpfungen und hasserfüllten Blicke dieser Leute werde ich nie vergessen", sagt Leyla heute. "In ihren Augen waren wir keine Menschen. Wir waren nur Huren, die bestraft werden müssen."
Reformen sind in diesem System nicht möglich
Das ist die Grundursache der aktuellen Unruhen: der unvereinbare Widerspruch zwischen einer immer säkulareren und liberaleren Gesellschaft einerseits und andererseits einem Regime, das seine ganze Legitimation aus einer rückständigen, extremistischen Ideologie bezieht.
Die oft versprochenen Reformen, die die Iranerinnen und Iraner seit Jahrzehnten fordern, sind nie umgesetzt worden – und das nicht ohne Grund, wie der iranische Journalist und Blogger Farahmand Alipour analysiert:
2009, als die Grüne Bewegung niedergeschlagen wurde, hat die Islamische Republik die Mittelklasse verloren. Mit dem blutigen November 2019 und der dahinsiechenden Wirtschaft hat es auch die Arbeiterklasse verloren.
Deshalb halte die iranische Führung jetzt so stur an seinen fundamentalistischen Gesetzen fest. Das System könne es sich nicht leisten, auch noch den Rückhalt der Religiös-Konservativen im Land zu verlieren.
Doch dass die Unterstützung weniger Prozente der Bevölkerung nicht genug sein könnte, um an der Macht zu bleiben, dessen scheint man sich in Teheran mittlerweile bewusst zu sein. Religiöse Motive sind wohl auch deshalb in der staatlichen Propaganda gegen die Demonstrierenden kaum zu sehen. Stattdessen warnen Regierungsvertreter – mit Blick auf die Instabilität seiner Nachbarländer – vor der sogenannten "Syrienisierung" Irans und diffamieren die Protestierenden als Wegbereiter von Terror und Zerstörung.
Islamische Republik Iran: Die führenden Politiker seit der Revolution 1979 (9 Bilder)

Omid, einer der jungen Demonstrierenden in Isfahan, lässt sich davon nicht beeindrucken. Den Vergleich mit den Ländern des Arabischen Frühlings lässt er nicht gelten:
Unsere Islamisten sind bereits in der Regierung – wem wollen sie mit Daesch Angst einjagen?
Zwar mache auch er sich Sorgen, wie es nach einem Systemwechsel weitergehen könnte, gesteht Omid. Doch seine größte Angst ist, noch ein ganzes Leben unter diesem System weiterleben zu müssen. "Das kommt nicht infrage", sagt er entschlossen.