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Israel und Gaza: Wird Frieden möglich sein?

Straßenkunst an der Sperrbauer zwischen Israel und den besetzten Gebieten. Bild: Amy Nelson, CC BY 2.0 DEED

Hilfsorganisation Oxfam: Vollständige Blockade Gazas könnte zu humanitärer Katastrophe führen. Wie kann das vermieden werden? Mit Visionen von Frieden. Ein Kommentar.

Mustafa Tamaizeh, amtierender Oxfam-Landesdirektor in den besetzten palästinensischen Gebieten und Israel, kommentiert den aktuellen Konflikt [1]:

Oxfam ist entsetzt über die Angriffe auf Israel und auch äußerst besorgt über die zahlreichen zivilen Opfer in Gaza. Gewalt ebnet niemals den Weg zum Frieden. Die internationale Gemeinschaft muss alle ihr zur Verfügung stehenden diplomatischen Mittel einsetzen, um einen sofortigen Waffenstillstand zu erreichen.

Ähnlich heißt es in einem Bericht der Hilfsorganisation, die Entscheidung der israelischen Regierung zur "totalen Belagerung" Gazas, zusätzlich zur bereits bestehenden weitgehenden Abriegelung, werde den Zivilisten im Gazastreifen lebenswichtige Güter wie Nahrung, Wasser und Strom vorenthalten: "Das ist eine kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung und verletzt humanitäres Völkerrecht. Diese Entscheidung wird nicht zu Frieden und Sicherheit beitragen, sondern die Krise weiter anfachen."

Nach UN-Angaben waren unmittelbar nach dem Angriff auf Israel und den Gegenangriffen schon mindestens 180.000 Menschen im Gazastreifen auf der Flucht; 135.000 von ihnen sind in den bereits überfüllten Schulen der UN-Hilfsorganisationen untergekommen. Inzwischen hat Israel eine Million Menschen in Gaza aufgefordert, bestimmte Gebiete zu verlassen.

Den Familien mangelt es an Nahrungsmitteln, Wasser und sanitären Einrichtungen, viele sind in ihren Häusern gefangen und haben keinen sicheren Ort, an dem sie Zuflucht finden könnten, so der aktuelle Oxfam-Bericht [2].

In dieser Situation droht der ehemalige israelische Geheimdienstchef Yamos Adlin im israelischen Fernsehen [3]: "Wir werden (im Gazastreifen) alles plattmachen."

Mit diesem Denken und Handeln auf beiden Seiten wird Frieden natürlich niemals möglich.

Doch es gibt immer Alternativen. Die drei monotheistischen Religionen des Nahen Ostens könnten dabei einen zentralen Beitrag spielen.

Doch seit 100 Jahren leisten die Religionen im Nahen Osten – wie auch anderswo – eher Beiträge zum Krieg als zum Frieden. Jede hat Angst vor der Übermacht der anderen.

Doch die Geschichte lehrt, dass Angst und Misstrauen nicht durch Krieg und Gewalt zu überwinden sind. "Ethik ist wichtiger als Religion [4]", meint der Dalai Lama.

Die zentrale Tugend der drei abrahamischen Religionen ist in gleicher Weise die Barmherzigkeit. Hier steckt ein riesiges, noch unerschlossenes Friedenspotential. Die gemeinsame Basis von Judentum, Christentum und Islam heißt: verstehen statt verurteilen, versöhnen statt vernichten, lieben statt hassen.

Empathie ist der Weg zum Frieden

Gottfried Hutter, Psychotherapeut, Theologe, Nahostkenner mit jahrzehntelangen Kontakten zu wichtigen Persönlichkeiten aus Politik und allen drei Religionen im Nahen Osten macht in seinem Buch "Ehrenhafter Frieden: 100 Jahre Nahostkonflikt", einen überraschenden, zunächst utopisch scheinenden, aber doch realisierbaren Friedensvorschlag: Die umstrittenen israelischen Siedlungen im Westjordanland als Friedenschance!

Utopisch, unrealistisch, verrückt? Sicher noch eine Vision. Doch schon oft waren die Visionen von heute die Realitäten von morgen.

Also warum sollen nicht zwei Staaten friedlich nebeneinander koexistieren? Israel mit einer palästinensischen Minderheit neben Palästina mit einer jüdischen Minderheit der heutigen Siedler?

Gerade die so umstrittene jüdische Minderheit der Siedler im Westjordanland bietet jetzt eine realistische Chance, das gesamte Westjordanland einschließlich der jüdischen Siedlungen und Gaza zu einem neuen palästinensischen Staat zu verwandeln. Das wäre endlich ein politisches Gleichgewicht zwischen Israel und Palästina mit der Chance auf Wohlstand für alle. Die längst von vielen, auch von Deutschland favorisierte, Zweistaaten-Lösung.

Wie lief es denn in Europa nach 1945?

Die wirtschaftliche Kooperation war die Basis für Wohlstand und politischer Zusammenarbeit. Das war der Ansporn. Also könnten auch Palästina und Israel und ihre jeweiligen Minderheiten ökonomisch zusammenarbeiten und andere arabische Länder zu einer Nahost-Gemeinschaft, einer Nahost-Union, einladen – mit dem Ziel, Frieden und Wohlstand zu schaffen. Dabei könnte nach dem Vorbild der EU und in Kooperation mit der EU ein neues Wirtschaftswunder entstehen.

Am Anfang müssten natürlich vertrauensbildende Schritte stehen ähnlich wie beim Überwinden des Kalten Krieges vor einigen Jahrzehnten in Europa. Das Ziel muss Aussöhnung und Frieden sein, eine Zeit lang von UN-Blauhelmen überwacht. Dabei könnten die drei abrahamischen Religionen eine zentrale Rolle spielen.

Alle drei Religionen basieren doch auf den Werten Liebe, Frieden und Barmherzigkeit. Eine starke politische und spirituelle Persönlichkeit müsste diese Vision, nach der sich Millionen Menschen aller Religionen im gesamten Nahen Osten sehnen, nachhaltig, glaubwürdig und öffentlichkeitswirksam vertreten.

Auch kluge Politiker und religiöse Führer in Saudi-Arabien und Iran hoffen auf diese Vision – wie Gottfried Hutter aufzeigt. So könnte ein wachsender Nahostfrieden der Schlüssel für einen Weltfrieden werden.

Die bisherige Nahostpolitik war und ist zu visionslos. Vor allem die Bedeutung der Religionen für den Frieden in dieser Region wurde von den USA und von der EU in allen Verhandlungen übersehen.

Die Geschichte nach 1945 lehrt aber, dass selbst der Punkt des tiefsten Konflikts der Beginn zur Versöhnung in einer neuen Zeit sein kann. Frieden ist immer und grundsätzlich möglich. Das Gegenteil zu behaupten, ist Ideologie und menschenfeindlich.

Frieden beginnt immer mit einem Traum vom Frieden

Auch Israelis und Palästinenser können heute erkennen, dass ihr "Land groß genug für uns beide" ist. Beide sollten dies vor den Vereinten Nationen bekennen und einander um Verzeihung bitten. Entscheidend wird sein, ob einer den Mut zum ersten Schritt hat. Dieser erste Schritt in eine neue Richtung ist grundlegend.

Seit 2006 gab es drei Kriege zwischen Israel und den Palästinensern. Die dauerhafte Besatzung im Westjordanland ist keine Lösung. Warum und wofür einen vierten und fünften Krieg?

Es gibt immer Alternativen und gerade der militärisch Stärkere kann den ersten Schritt gehen.

Mehr von Franz Alt auf sonnenseite.com [5].


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https://www.heise.de/-9334775

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.oxfam.de/presse/pressemitteilungen/2023-10-11-oxfam-warnt-humanitaerer-katastrophe-gaza
[2] https://www.oxfam.de/presse/pressemitteilungen/2023-10-11-oxfam-warnt-humanitaerer-katastrophe-gaza
[3] https://www.tagesschau.de/ausland/israel-palaestina-angriffe-100.html
[4] http://www.amazon.de/gp/product/371090000X/ref=as_li_tl?ie=UTF8&camp=1638&creative=6742&creativeASIN=371090000X&linkCode=as2&tag=drfranzaltferns
[5] https://www.sonnenseite.com/de/