Israels Kriegsziele: Vernichtung der Hamas und der Hisbollah oder Verhandlungen?

Militärische Fahrzeuge und Soldaten der israelischen Verteidigungsstreitkräfte an der Grenze zu Gaza. Bild: Roman Yanushevsky /Shutterstock

Wie wäre es mit einem Abkommen zwischen den USA und Russland zu einer Konfliktlösung? Die Frage stellt ein Analyst der israelischen Zeitung Ha’aretz. Ein Debattenbeitrag.

"Wir sind im Krieg". Damit reagierte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu auf den Angriff der Hamas und verbündeter Milizen am 7. Oktober 2023. Er kündigte an: "Der Feind wird einen noch nie dagewesenen Preis zahlen."

Der hohe Preis

Ein Jahr nach dieser Ankündigung zeigt sich, dass der Preis sehr hoch ist. Laut UNHCR, das sich bei seinen Zahlen auf das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium in Gaza stützt, weist die Bilanz über 41.000 Todesopfer und nahezu 100.000 Verletzte infolge der Angriffe der israelischen Militärs aus.

Die Nachrichten der letzten Tage meldeten mit Bezug auf Zahlen der UN-Organisation OCHA einen Anstieg der Vertriebenen im Libanon in den letzten zwei Wochen um 385 Prozent . Mittlerweile seien es über 500.000 Vertriebene im Libanon, das Land war vor den israelischen Luftangriffen im Chaos. Seit den Luftangriffen hat sich die Lage nochmal drastisch verschlechtert.

Laut OCHA seien bis vergangenen Donnerstag innerhalb eines Jahres "mindestens 1.699 Menschen durch den Konflikt zwischen Israel und der proiranischen Hisbollah-Miliz gewaltsam ums Leben gekommen". Die Zahlen stammen nach Angaben der UN-Organisation aus dem libanesischen Gesundheitsministerium.

Die Zahlen werden, wie man das aus Konflikten kennt, angezweifelt. Den einen sind sie zu niedrig, den anderen ist die Quelle suspekt, weil parteiisch. Außer Frage steht, dass zigtausende Unschuldige einen horrenden, tödlichen Preis im kriegerischen Konflikt zwischen Israel und seinen Gegnern zahlen.

Angesichts dieses immensen Blutzolls drängt sich die Frage nach den Kriegszielen Israels auf. Die Antworten sind weitgehend spekulativ, man könnte ein ganzes Dossier dazu öffnen – mit der Überschrift "Nichts Genaues ist bekannt". Und vielleicht, so fragen sich manche, wissen es selbst die politischen und militärischen Entscheider in Israel nicht so ganz genau, weil es auf die sich ständig verändernde Situation ankommt.

Dazu zählt nicht zuletzt auch die internationale Reaktion und ganz besonders die Unterstützung der USA.

Ins Spiel gebracht wird öfter das Ziel, die Hamas wie auch die Hisbollah unschädlich zu machen. Doch selbst ein Unterstützer wie der US-Terrorexperte Max Abrahms, der das Vorgehen der israelischen Armee gegen die Hamas und die Hisbollah prinzipiell und hart gegen Kritiker verteidigt, äußert Zweifel daran, dass dieses Ziel realistisch ist.

Wie etwa sein Posting zur Tötung des Hisbollah-Chefs Nasrallah zu bedenken gibt, ist immer mit einer Radikalisierung verbliebener militanter Gruppen zu rechnen, die mit größerer Brutalität gegen die israelische Bevölkerung vorgeht. Diese Möglichkeiten auszuschließen, erscheint nicht sehr wahrscheinlich.

Die strategische Logik

Vor diesem Bild – gekennzeichnet einmal von den unwahrscheinlichen Aussichten, mit der Hamas und der Hisbollah, die vom Iran unterstützt wird, bis zu deren totaler Niederlage und Erschöpfung aufzuräumen, den enormen Zahlen getöteter, unschuldiger Zivilisten – brachte der Ha’aretz-Militäranalyst Aluf Benn kürzlich, nach dem israelischen Luftangriff auf die jemenitische Hafenstadt Hodeida, einen beachtenswerten Beitrag in die Debatte.

Seine Annahme ist die einer strategischen Logik mit dem Ziel der Verhandlungen über einen Waffenstillstand:

Während die iranische Achse des Widerstands Israel zu einem Mehrfronten-Konflikt zwang, hat die neue Kampagne der israelischen Luftwaffe mit Luftangriffen das Kräfteverhältnis umgekehrt und eine klare Botschaft an Iran gesendet: Strebt einen Waffenstillstand an und erzwingt ihn für die Hisbollah, die Huthis und die irakischen Milizen.

Die israelischen Operationen gegen die Hisbollah im Libanon und auch gegen die Huthis im Jemen am Sonntag – sowie die Drohungen gegenüber Iran, es mit derselben Intensität anzugreifen, falls es sich dem Kampf anschließt – folgen einer klaren strategischen Logik: die "Einheitsfront" zu brechen, die Iran und seine regionalen Verbündeten Israel seit dem Hamas-Angriff am 7. Oktober aufgezwungen haben.

Aluf Benn, Ha’aretz

Was es mit dem von Benn geäußerten Ziel des Waffenstillstands genauer auf sich hat – dazu hat er Überraschendes in petto – davon weiter unten. Zunächst mal die Besonderheiten, die Benn bei der gegenwärtigen kriegerischen Auseinandersetzung Israels gegen die beiden großen militanten Gruppen Hamas und Hisbollah sowie den Huthis und Iran beobachtet.

Anders als bei früheren Runden, in denen die Palästinenser dem jüdischen Staat allein gegenüberstanden, genieße die Hamas diesmal die aktive Unterstützung der vom Iran geführten "Achse des Widerstands".

Der Krieg an vielen Fronten

Diese Konfrontation an mehreren Fronten habe Israel zunächst gezwungen, seine Streitkräfte zwischen dem Süden und dem Norden aufzuteilen. Raketen- und Drohnenangriffe aus dem Libanon, dem Jemen und dem Irak gingen weiter, auch nachdem die Hamas einen Großteil ihrer Raketenabschusskapazitäten verloren hatte. Doch nun habe die israelische Luftwaffe mit ihrer Gegenoffensive das Kräfteverhältnis umgedreht, so Benn.

Das Ausmaß des Bombardements übertraf alles, was Israel bisher aus der Luft unternommen hatte – sowohl was die Zahl der angegriffenen Ziele und die Menge der eingesetzten Munition in kurzer Zeit angeht, als auch hinsichtlich der Reichweite und Art der Ziele.

Für einen Kommandeur der Luftwaffe haben die Angriffe auf ein Kraftwerk im jemenitischen Hodeida eine klare Botschaft: "Selbst in einem weiter entwickelten und organisiertem Land als dem Jemen würde der Wiederaufbau mehrere Jahre dauern."

Laut Benn ist die Botschaft an den Iran eindeutig: "Ihr solltet bald einen Waffenstillstand anfordern und ihn der Hisbollah, den Huthis und den Milizen im Irak aufzwingen." Andernfalls werde Israel den Iran direkt angreifen.

Gewagter Vorschlag zu einer diplomatischen Lösung

Nun der ungewöhnliche Vorschlag Benns zur Diplomatie, um weitere Eskalationen zu verhindern: Dabei beruft er sich auf einen ehemaligen Mossad-Offizier namens Pini Meidan, der sich dafür auspricht, Russland in eine Konfliktlösung einzubeziehen.

Das Ziel wäre laut Benn ein umfassendes Abkommen zwischen den Supermächten, das Waffenstillstände in der Ukraine und an Israels Grenzen umfasst: das ganz große Friedenspaket also?

Dagegen spricht aus realistischer Sicht, dass dem russischen Präsidenten Putin damit eine große Rolle auf dem internationalen diplomatischen Parkett zukäme. Das ist gegen das Interesse vieler westlicher Regierungen. Dem Angreifer der Ukraine, dem Freund autoritärer Regime, eine solche Rolle zuzugestehen, klingt vermessen.

Doch, so lässt der Ha’aretz-Analyst verstehen, man könne schlecht an den Beziehungen zwischen Iran und Russland vorbeisehen. Da gibt es nach seiner Auffassung Schlüssel zur Lösung des Konflikts mit Israel. Russland könne Druck auf Iran ausüben.

Laut Benn liegt die Entscheidung nun in den Händen von Irans oberstem Führer Ajatollah Ali Chamenei. Sollte er den diplomatischen Weg aufgeben und sich für die Fortsetzung des Krieges entscheiden, gäbe er Israel und den USA einen Vorwand, Ziele anzugreifen, die dem iranischen Regime am Herzen liegen. Die Drohung: Zerstörung von außen und Aufstand von innen.

Die nächsten Tage und Wochen würden zeigen, ob die neue israelische Kriegsstrategie aufgeht oder ob es der Diplomatie gelingt, das Blutvergießen zu stoppen.