Ist Deutschland noch eine Turniermannschaft?

Jogi und Hansi im Sommermärchen. Bild (2006): Tomukas - Thomas Holbach/CC BY-SA 3.0

Am Ende gewinnen doch nicht die Deutschen - England gewinnt sein erstes Pflichtspiel in Wembley seit 1966

Wir hätten uns natürlich auch etwas anderes erhofft. Deswegen tut es mir auch leid, dass die große Begeisterung, die zuhause auch vorhanden war, jetzt mit so einem Spiel dahin ist. So unmittelbar nach dem Spiel über alles zu reden, ist natürlich schwierig, weil die Enttäuschung natürlich schon überwiegt.

Joachim Löw

"I will show you fear in a handful of dust."

T.S. Eliot

Die "Todesgruppe" war tatsächlich eine, wenn auch in anderem Sinn als gedacht. Alle drei Teams, die sich aus der Gruppe F fürs Achtelfinale der EM qualifiziert hatten, sind ausgeschieden: der Weltmeister, der Europameister, die Deutschen. Im Achtelfinale schied auch der Vize-Weltmeister aus, dann auch Holland und eine schwedische Elf, die besser war als seit langer Zeit.

Kein Plan B

Wie schon tags zuvor das Match Spanien-Kroatien war auch das Spiel England-Deutschland ein absolut ebenbürtiges Spiel und von Namen wie Spielstärke her ein potenzielles Halbfinale. Ohne klaren Favoriten, mit zwei Gegnern, die sich gut kennen, die Ehrgeiz haben, ein Klassiker.

Es wurde das erste Mal, dass England ein Pflichtspiel in Wembley gewonnen hat seit dem WM-Finale 1966. Dabei fing es gut für die Deutschen an. Man sah sofort, dass die DFB-Mannschaft mit anderer, besserer Einstellung spielte als letzte Woche gegen die Ungarn. Direkte steile Pässe, offensiv und konzentriert und sich dabei gar nicht dumm anstellte. Die Engländer waren sichtbar eingeschüchtert.

Aber das legte sich nach etwa einer Viertelstunde. Die Engländer kamen auf, mussten in die Offensive gehen, weil da die Deutschen verwundbarer sind. Ab Minute zwanzig wurde es ein ausgeglichenes Spiel. Die deutsche Mannschaft verlor zu früh ihre Bälle.

Und je länger das Spiel dauerte, umso mehr kämpften sich die Engländer frei. Auch sie traten ohne Jungstars im Team an, ohne Sancho, ohne Bellingham. Havertz war gut, Goretzkas Hereinnahme machte sich sofort bezahlt. Aber Werner? Die Italiener haben einen Stürmer namens Immobile. Deutschland hat einen Stürmer namens Impossible, a.k.a. Werner. Was bringt Werner wirklich vorne? Vielleicht hätte man Volland nehmen sollen, einen selbstbewussten Mann, der gerade eine Top-Saison hinter sich hat, anstatt einen Stürmer, der in der Krise steckt und sich mit jedem Schuss beweisen muss. Havertz spielte immer wieder Werner an, aber Werner spielte nie Havertz an.

Noch einmal erlebte man Löws Sturheit: Das sture Festhalten an vermeintlich modernen Ideen.

Dann, als die Deutschen langsam auf eine Verlängerung einstellten, kam das 1:0 für England. Und Löw hatte wieder einmal, als etwas schieflief, keinen Plan B parat. Dabei wäre mit noch mehr Mut und Risikobereitschaft alles möglich gewesen. Musiala kam dann viel zu spät, er hätte statt Gnabry gebracht werden müssen. Und Sané war die ganze EM über nur eine Idee.

Allgemeine Schwermut, Passivismus, Ängste

So endete die Ära Löw nach 198 Spielen. Löw trat als geschlagener Mann ab.

15 Jahre Löw, 16 Jahre Merkel - natürlich drängt sich diese Parallele auf. Sie besteht in der Sturheit und Beratungsresistenz der beiden; in der Tatsache, dass sie einen autistischen Grundzug besitzen. Sie besteht im ruhigen, uncharismatischen, dadurch aber auch unmotivierenden und unkommunikativen Agieren. In einem Zeitalter, in dem Kommunikation für wichtiger denn je gehalten wird, hatten in Deutschland ausgerechnet zwei Nicht-Kommunikatoren über Jahre eine Führungsstellung.

Es gibt weitere Parallelen. Wie im Fall von Merkel hat sich auch über die letzten Jahre mit Jogi Löw ein gewisser Mehltau gelegt. Eine allgemeine Schwermut und bleierne Schwere, ein Passivismus. Die Unfähigkeit, sich zu korrigieren. Die Unfähigkeit, Fehler einzugestehen.

Deswegen hat das Schicksal der deutschen Nationalmannschaft während der letzten Jahre eine ganze Menge mit dem Schicksal ihres Landes zu tun. Es gibt Parallelen zur Geschichte des Berliner Flughafens und seiner kompletten Fehlplanung und Überteuerung. Es gibt Parallelen zu den absurden, schon vor Beginn der Bauarbeiten klaren Fehlplanungen des Bahnhofs Stuttgart 21. Es gibt Parallelen zu Innovationsskepsis, Modernisierungsängsten, Risikofurcht und Feindschaft gegenüber schwer zu durchschaubaren neuen Technologien.

Es gibt auch Parallelen zu einer Corona-Politik, die nur deshalb halbwegs gelingt, weil Deutschland ein schwerreiches Land ist, die aber davon abgesehen im vergangenen Sommer unfähig war, sich auf die mit Sicherheit kommenden Wellen des Winters einzustellen, die zugleich weiterhin unfähig ist, diese Fehler zuzugeben, und die sie deswegen in diesem Jahr im Angesicht der kommenden Delta-Welle vermutlich ebenso wiederholen wird wie auf allen möglichen anderen Feldern.

Das Zurückhaltende und Zaghafte der Kommentare nach dem England-Spiel, die inhaltsleeren Kommentare stehen hier für eine grundsätzliche Haltung. Kein Risiko bei den Aktionen auf dem Spielfeld und kein Risiko bei Interview-Äußerungen, kein Tempo, keine Überraschungen, nichts.

0:6 - der Tiefpunkt

Der Tiefpunkt der Ära Jogi Löw war und ist noch nicht einmal das Scheitern in Russland, sondern das 0:6 im letzten Dezember in Spanien. Es wird ein ewiger "Schandfleck" sein, der bis zum Ende aller Zeiten mit dem Namen Jogi Löw genauso verbunden bleibt wie der WM Titel 2014.

Dieses Ende mit Schrecken ist besser als gar keines. Wir werden bald sehen, wie viel mehr Potenzial der deutsche Fußball hat, und bald erkennen, dass es tatsächlich an Jogi Löw liegt, dass dieses Potenzial nicht abgerufen wurde - nicht etwa nur an fehlender Nachwuchsarbeit, an den nicht ausgebildeten Außenverteidigern und Mittelstürmern, die von jenen jetzt genannt werden, die Fußball noch viel länger kommentieren als Jogi Löw Bundestrainer war.

Führer, Teamchef, Guru

Auch der DFB steht in der Verantwortung. Abgesehen von all den Skandalen und abgesehen von den bitterbösen Streitereien und der Selbstzerfleischung der letzten Monate, die selbstverständlich auch Nebenwirkungen für die Verfassung der Nationalmannschaft hatte, abgesehen davon braucht man auch eine andere Kultur des Umgangs und eine Modernisierung der Verbandsführung.

Dazu braucht man eine Abkehr von der Vorstellung, dass ein Bundestrainer eine Art Ersatzvater der Nation ist, ein Führer und milder Weiser, der einsam und erratisch vor sich hin brütet, bis er seine Befehlen gleichenden Entschlüsse der übrigen Nation verkündet, die sie dann widerspruchslos hinzunehmen hat. Der sich so wenig rechtfertigen muss, wie er gezwungen ist, seine Entscheidungen zu begründen.

Das Modell Herberger, dem auch Helmut Schön nacheiferte und auf andere Weise auch Franz Beckenbauer, der "Teamchef" genannt wurde, ist genauso passé wie das des durch außereuropäische Weisheiten komplettierten Gurus, das Jürgen Klinsmann etablierte und Jogi Löw perfektionierte.

Vielleicht ist eine Amtszeit von 15 Jahren für einen Bundestrainer (und übrigens auch die ihn beiseite gestellten Manager) inzwischen genauso wenig zeitgemäß wie für eine Bundeskanzlerin.

Von Jogi zu Hansi

Löw hat es jedenfalls nicht geschafft, den nach der WM 2014 und spätestens nach der EM 2016 nötig gewordenen Umbruch zu vollziehen. Dies hat er selbst zu verantworten, genauso aber der Verband, der ihn trägt.

An Spanien sieht man, wie ein Umbau vollzogen wird. Auch dort wurden Weltmeister aus dem Kader genommen. Beim Confed-Cup 2017 war das zu sehen. Doch 2018 fehlte Löw der Mut, diesen Schritt weiterzugehen. Zu spät versuchte er danach, wieder zurück auf die Spur zu kommen, aber mit der Autorität von Löw als Trainer war es spätestens dann vorbei, nachdem er durch die Öffentlichkeit gezwungen war, Müller und Hummels in die Mannschaft zurückzunehmen - was sachlich richtig war, aber Löw hatte sich zunächst darauf versteift, anders zu verfahren.

Die Eitelkeit selbst entscheiden zu wollen, die Eitelkeit, seine Linie durchzuziehen und auf sein Vermächtnis zur achten - in den letzten zwei bis drei Jahren ist dieses Vermächtnis dann verloren gegangen, die Liebe zu Jogi zerbrochen.

Ist Deutschland also noch eine Turniermannschaft? Hansi Flick wird die Antwort geben.