Ist Russland für Damm-Sprengung in Ukraine verantwortlich zu machen?

Das Wasser zieht sich allmählich aus der Region Cherson zurück. Bild: АрміяInform

Bei der Nord-Stream-Sabotage wurde Moskau schuldig gesprochen. Jetzt wissen wir, dass nicht Russland, sondern die CIA früh von dem Anschlag wusste. Was heißt das für den Dammbruch?

Die bahnbrechende Nachricht letzte Woche, dass die CIA von den ukrainischen Plänen zur Sabotage der Nord-Stream-Pipeline wusste, drei Monate bevor diese in die Luft gejagt wurde, hat einige westliche Politiker und Kommentatoren nicht davon abgehalten, zu vermuten, dass Russland hinter der Explosion des Kachowka-Damms in der Ukraine am Dienstag stecken könnte.

Kelley Beaucar Vlahos ist Senior Advisor am Quincy Institute.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg beschuldigte Russland am Mittwoch, ohne es direkt zu sagen: "Dies ist eine ungeheuerliche Tat, die – wieder einmal – die Brutalität von Russlands Krieg gegen die Ukraine zeigt." Ein ungenannter "hoher Nato-Beamter" sagte später gegenüber NBC, dass Russland davon profitieren würde.

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz äußerte sich etwas direkter, indem er den Angriff als eine "neue Dimension" des russischen Krieges bezeichnete, und auch hier sagte er, ohne Russland direkt zu beschuldigen, dass dies "zu der Art und Weise passt, wie Putin diesen Krieg führt".

Zwar sei es noch zu früh, um "ein endgültiges Urteil" zu fällen, sagte der britische Premierminister Rishi Sunak, doch sollte sich herausstellen, dass es sich um eine vorsätzliche Tat handelte, "wäre es der größte Angriff auf die zivile Infrastruktur in der Ukraine seit Beginn des Krieges" und "ein neuer Tiefpunkt" für Russland, sagte er am Mittwoch gegenüber Reportern, als er sich auf den Weg zu einem Treffen mit Präsident Biden in Washington machte.

Ebenfalls am Dienstag berichtete NBC News, dass "zwei US-Beamte und ein westlicher Vertreter" der Nachrichtenagentur mitteilten, dass "die USA über Geheimdienstinformationen verfügen, die auf Russland als Urheber des Angriffs hindeuten. US-Regierungsbeamte arbeiteten daran, einige der Informationen freizugeben und sie bereits am Dienstagnachmittag zu veröffentlichen."

Zwei Tage später ist immer noch nichts weiter bekannt, da das Weiße Haus weiterhin behauptet, es prüfe die Behauptungen der Ukraine, dass Russland den Staudamm sabotiert habe, habe aber keine schlüssigen Beweise, um dies zu bestätigen.

Russland macht seinerseits ukrainische Sabotage für den Dammbruch verantwortlich und begründet das mit dem Interesse der Ukraine, Moskaus eigene Angriffe in der Region Cherson zu vereiteln.

Auf Twitter warnte der Yale-Professor Timothy Snyder in zehn Tweets seine über 500.000 Follower davor, Russlands Behauptungen zu wiederholen und "der Versuchung zu erliegen, eine Katastrophe zu beschönigen. Das ist kein Journalismus".

"Russische Behauptungen neben ukrainischen Behauptungen zu zitieren, ist unfair gegenüber den Ukrainern. Was russische Sprecher gesagt haben, war fast durchgängig nicht wahr, während die Aussagen der ukrainischen Sprecher weitgehend zuverlässig sind. Die Gegenüberstellung suggeriert eine falsche Gleichheit", so Snyder.

Russland hatte die Kontrolle über den betreffenden Teil des Staudamms, als er explodierte. Das ist ein wesentlicher Kontext. Es ist wichtiger als einzelne Aussagen. Wenn ein Mord untersucht wird, berücksichtigen die Ermittler, wer die Mittel dazu besaß. Russland hatte die Mittel. Die Ukraine hatte sie nicht.

Man könnte meinen, dass ein wenig Zügelung angebracht wäre. Nach der Nachricht, dass die Nord-Stream-Pipeline am 26. September 2022 angegriffen wurde, schoben westliche Politiker – darunter ehemalige US-Beamte und die Redaktion der Washington Post – den Russen die Schuld in die Schuhe, und der Rest der Kommentatoren tat es ihnen gleich.

Diejenigen, die andere Erklärungen anboten, wurden als Putin-Apologeten und Irre bezeichnet. Im Laufe des Jahres, als die Europäer mit ihren Ermittlungen begannen, wurde von offizieller Seite stillschweigend eingeräumt, dass Russland wahrscheinlich nicht hinter dem Anschlag steckt. Die Identifizierung des wahren Täters blieb schwer zu fassen.

Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste

Nachdem der Journalist Sy Hersh im Februar ausführlich berichtet hatte, dass die Sabotage von einem geheimen Team von Spezialtauchern der US-Marine auf Anweisung der Biden-Regierung geplant und durchgeführt wurde, beschimpfte man ihn auch als Spinner und Putin-Versteher. Eine offizielle Erklärung wurde jedoch nicht abgegeben.

Dann erklärten anonyme Regierungsbeamte gegenüber der New York Times, dass eine abtrünnige Gruppe antirussischer Ukrainer ein Boot gemietet und den Anschlag selbst ausgeführt habe – eine Theorie, von der sich die europäischen Staats- und Regierungschefs distanziert haben und die insgesamt wenig Anklang fand.

Kommen wir zur Gegenwart. Die Tatsache, dass die CIA von einem tatsächlichen Plan der Ukrainer zur Sprengung der Pipelines gewusst haben sollen, der dem von Sy Hersh berichteten Plan sehr ähnlich sieht (nur mit ukrainischen Tauchern und einem gemieteten Boot), ist schockierend. Wenn die US-Regierung von dem Plan wusste, warum hat Washington die Hunde auf die Fährte der Russen gesetzt, nachdem die Pipeline tatsächlich zerstört worden war?

Wenn es das ukrainische Militär war, hätten die USA es dann verhindern können? War an den Behauptungen von Hersh und/oder den ukrainischen Schurkengeschichten etwas dran?

Wir werden es vielleicht nie erfahren, aber das ist der Grund, warum wir bei der Entwicklung der Staudamm-Explosionsgeschichte vorsichtiger sein sollten. Die ukrainischen Behörden beschuldigen die Russen, den Damm gesprengt zu haben, und verweisen auf die Tatsache, dass die Russen den Damm zu diesem Zeitpunkt besetzt hielten.

Das Institute for the Study of War, das während des einjährigen Krieges von allen großen US-Zeitungen immer wieder zu dieser und anderen Geschichten zitiert wurde, räumt ein, dass es nicht genügend Beweise hat, um zu sagen, wer den Damm gesprengt hat, verweist aber auf seine eigenen früheren Einschätzungen:

Die Russen haben ein größeres und klareres Interesse daran, den unteren Dnipro zu fluten, trotz der Schäden an ihren eigenen Verteidigungsstellungen und Streitkräften, als die Ukrainer.

Viele Medien zitierten diese Analyse am Donnerstag ausführlich.

Am Mittwoch hatte NBC News mit den Anschuldigungen der Ukraine gegen Russland gestartet und eine Reihe von "Militäranalysten" zitiert, die sagten, dass Russland von dem Dammbruch mehr profitieren würde, weil er die militärischen Fortschritte der Ukraine stark behindern würde.

Erst gegen Ende des Berichts räumte NBC ein, dass "die Analysten zwar einige sind darin, dass die seit Monaten aufgebauten Verteidigungsanlagen Russlands getroffen würden, aber kein klares Motiv für die Ukraine sahen."

Der Mangel an Informationen, der sich durch den gesamten Krieg zieht, sollte davon abhalten, uns von emotionalen oder politischen Erwägungen zu Schlussfolgerungen leiten zu lassen. Aber genau das scheint jetzt wieder zu geschehen, obwohl wir aus dem Beispiel der Nord-Stream-Sabotage wissen, dass vielleicht nicht alles so ist, wie es scheint, und dass es für die Situation am besten ist, sich nicht zu Schnellschüssen verleiten zu lassen. Das ist keine "Putin-Apologetik", sondern gesunder Menschenverstand.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Hier geht es zum englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.