Ist das Internet männlich, weiblich oder beides?
Seite 3: Sexualität im Internet
Während in den aktuellen Debatten Sex im Internet in erster Linie mit übelster Pornographie assoziiert wir, zeichnen Sie in Ihrem Buch das Bild einer kommunikativen, experimentellen und kreativen Internet-Sexualität. Dabei geht es um das direkte, textbasierte Gespräch zwischen erwachsenen Menschen. Wie sieht die erotische Kommunikation aus, die im Internet stattfindet?
TURKLE: In bestimmten Bereichen des Internet treffen sich Menschen, um miteinander das zu haben, was sie "TinySex" oder "TinyLovemaking" nennen. Sie sind physisch voneinander getrennt, sitzen zu hause vor ihren Bildschirmen und schicken einander in real time erotische Nachrichten via Internet. Viele Leute, die daran teilnehmen und erotische Beziehungen im Internet entwickeln, finden das äußerst aufregend und manche erfahren es sogar als Offenbarung.
Da man beim TinySex seine geschlechtliche Identität frei definieren und verändern kann, können reale Frauen im Netz als virtuelle Männer Sex haben und reale Männer als virtuelle Frauen. Ich vermute, daß sich solche Erfahrungen auch auf die sexuelle Identität im wirklichen Leben auswirken.
TURKLE: Für manche Männer und Frauen kann das "gender-swapping", also der virtuelle Geschlechtertausch, ein Versuch sein, ihre sexuelle Orientierung besser zu verstehen oder sie ungefährdet zu erproben. Jeder, der es versucht, hat die Möglichkeit konkret zu erfahren, daß für beide Geschlechter die jeweilige Geschlechterrolle eine soziale Konstruktion ist. Das kann dann auch außerhalb des Bereichs der sexuellen Erfahrung sehr lehrreich sein. Wenn reale Männer, die virtuelle Frauen spielen, in MUDs ohne Aufforderung mit Hilfsangeboten im Umgang mit der Online-Welt bestürmt werden, sagen sie häufig, daß in dieser Ritterlichkeit eine Vorstellung von weiblicher Inkompetenz zum Ausdruck kommt. Wenn reale Frauen in MUDs als virtuelle Männer auftreten und bemerken, daß ihnen keine Hilfe mehr offeriert wird, denken einige darüber nach, daß die ritterlichen Hilfsangebote dazu geführt haben könnten, daß sie selbst glaubten, Hilfe zu brauchen.
Erotische Erfahrung hängt eng mit der Erfahrung der Fremdheit des anderen zusammen. In der schriftlichen Kommunikation via Internet ist der andere absolut fremd und unsichtbar. Hat die besondere Attraktion, die vom TinySex ausgeht, damit etwas zu tun?
TURKLE: Ja, und damit, daß Anonymität zu Übertragung und Projektion anregt.
Viele Leute meinen, daß NetSex ein Spiel ist, das in erster Linie Männer spielen. Damit hängt natürlich das Gerücht zusammen, daß hinter den meisten virtuellen Frauen, die man im Netz trifft, in Wirklichkeit Männer stecken.
TURKLE:Sowohl Männer als auch Frauen haben NetSex. Im Moment sind es tatsächlich mehr Männer als Frauen. Aber auch Frauen sind dabei.