Ist das der Anfang vom Ende des Ukraine-Kriegs?
Druck auf Selenskyj wächst von außen und innen. Westliche Medien sind voll von Kriegsmüdigkeit. Kommt jetzt Diplomatie?
"Ich glaube nicht, dass es sich um eine Pattsituation handelt", sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Sonntag in der NBC-Nachrichtensendung Meet the Press.
"Sie dachten, sie könnten uns Schachmatt setzen, aber das ist nicht geschehen", betonte er. Jüngsten Interviews zufolge ist seine militärische Führung anderer Meinung. Sein innerer politischer Kreis hält sein Beharren für wahnhaft.
Selenskyj steht sowohl innerhalb der Ukraine als auch von außen unter Druck. Von innen kommt er sowohl von der politischen als auch von der militärischen Führung; von außen sind es die wichtigsten Partner der Ukraine.
Der Kampf wird vor allem in den westlichen Medien ausgetragen. Vor allem Selenskyj sieht sich der Kritik aus dem eigenen politischen Umfeld ausgesetzt. Das Time Magazine berichtet, dass einige Berater des Präsidenten besorgt sind, dass sein "Glaube an den endgültigen Sieg der Ukraine über Russland ... "fast schon messianisch" sei.
Einer von Selenskyjs "engsten Beratern" sagte, er mache sich "etwas vor". Der Berater beklagte: "Wir haben keine Optionen mehr. Wir werden nicht gewinnen. Aber versuchen Sie, ihm das zu sagen."
Einige Berater von Selenskyj sagen, seine Unnachgiebigkeit behindere die Fähigkeit der Ukraine, sich an die veränderte Realität auf dem Schlachtfeld anzupassen, und befürchten, dass Verhandlungen über eine Einigung mit Russland ein "Tabu" bleiben.
Innenpolitische Kritik kommt auch von der höchsten Ebene des Militärs. Berichten zufolge liegt Selenskyj mit seinen Generälen im Streit über die Durchführung der Gegenoffensive und über seine Forderung, Bachmut und Awdijiwka um jeden Preis zu verteidigen, was die militärische Führung als strategischen Fehler ansieht, der die Ukraine schon jetzt viele Soldaten und Ausrüstung gekostet habe.
Ein hochrangiger ukrainischer Militäroffizier sagte, dass die Befehle aus dem Büro des Präsidenten zuweilen nichts mit der Realität auf dem Schlachtfeld zu tun haben. Er verteidigte einige Kommandeure an der Front, die begonnen haben, "Befehle von oben" infrage zu stellen und abzulehnen.
Selenskyjs Streit mit seinen Generälen spitzte sich am 3. November zu, als Selenskyj General Wiktor Chorenko, den Befehlshaber der ukrainischen Spezialeinheiten, entließ. Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee, General Walerij Saluschnyj, hat seine Entlassung nicht verlangt.
Die New York Times (NYT) berichtet, dass "es unklar ist, ob General Saluschnyj, der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, im Voraus von der geplanten Entlassung wusste". Die Entlassung scheine "die Autorität von General Saluschnyj zu untergraben".
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Die Entlassung überraschte US-Militäroffiziere, die eine "enge und effektive Arbeitsbeziehung" mit Chorenko besaßen. Chorenkos Spezialeinheiten hatten einige Erfolge mit Langstreckenangriffen und Sabotageoperationen hinter den russischen Linien erzielt. Die NYT berichtet jedoch, dass es Spannungen wegen der "politisch motivierten strategischen Entscheidungen", wie es das Militär empfand, geben habe, die ineffektiv und kostspielig gewesen seien.
Die Spannungen zwischen Selenskyj und seinen Generälen erreichten ihren Höhepunkt, als Saluschnyj am 1. November ein Interview mit The Economist gab. Er behauptete, der Krieg habe eine "Pattsituation" erreicht. Er räumte ein, dass "es höchstwahrscheinlich keinen bedeutsamen und erwünschten Durchbruch geben wird".
Noch schlimmer ist, dass Saluschnyj andeutete, dass die Pattsituation zu einer Niederlage für die Ukraine führen würde. Eine Pattsituation bedeutet einen langen Zermürbungskrieg.
In einem begleitenden Essay, der zeitgleich von The Economist veröffentlicht wurde, erklärte er, dass ein langer Krieg "in der Regel in den meisten Fällen für eine der Konfliktparteien von Vorteil ist. In unserem speziellen Fall ist es die Russische Föderation, da sie dadurch die Möglichkeit erhält, ihre militärische Macht wiederherzustellen und auszubauen."
Die Sorgenliste der US-Regierung: Nachdenken über Auswege
Saluschnyj sagte, dass der Ukraine in einem längeren Krieg die "notwendige Menge" an Raketen und Munition ausgehen werde, während Russland trotz der Sanktionen seine Produktionskapazitäten ausbaut. Und selbst wenn der Ukraine die Waffen nicht ausgingen, fügte er hinzu, würden Soldaten fehlen.:
Ein Zermürbungskrieg führe dazu, dass die Ukraine nicht mehr in der Lage sei, eine Überlegenheit gegenüber dem Feind über in Reserve gehaltenen Truppen zu erreichen, indem man die Zahl erhöht. Ein enger Vertrauter Selenskyjs erklärte gegenüber der Time, selbst wenn die Vereinigten Staaten der Ukraine alle benötigten Waffen gäben, verfüge Kiew "nicht über die Männer, um sie einzusetzen".
Selenskyjs Büro zensierte Saluschnyj, indem man sagte, er "erleichtere die Arbeit" Russlands und schüre "Panik" unter den westlichen Partnern der Ukraine. Die New York Times nennt die Zensur "eine auffällige öffentliche Zurechtweisung, die eine sich abzeichnende Kluft zwischen der militärischen und der zivilen Führung signalisiert".
Neben dem Druck aus Selenskyjs innerem politischen und militärischen Kreis erhält er auch diplomatischen Druck von den internationalen Partnern der Ukraine.
In einem Artikel von NBC News vom 3. November hieß es, dass "US-amerikanische und europäische Beamte begonnen haben, im Stillen mit der ukrainischen Regierung darüber zu sprechen, was mögliche Friedensverhandlungen mit Russland zur Beendigung des Krieges beinhalten könnten".
In dem Artikel heißt es weiter unter Berufung auf einen amtierenden und einen ehemaligen hochrangigen US-Beamten, die mit den Gesprächen vertraut sind, dass "die Gespräche sehr grobe Umrisse dessen enthielten, was die Ukraine möglicherweise aufgeben müsste, um eine Einigung zu erzielen."
Die Gespräche im Stillen deuten darauf hin, dass die USA und ihre europäischen Verbündeten mit Saluschnyj darin übereinstimmen, dass die Ukraine ihre Ziele auf dem Schlachtfeld möglicherweise nicht erreichen kann, die Verwirklichung ihrer Absichten bei längeren Kämpfen weiter infrage gestellt wird und möglicherweise einige Zugeständnisse gemacht werden müssen.
Es gibt eine bemerkenswerte Übereinstimmung in der Sprache der US-amerikanischen und europäischen Offiziellen und der Sprache von Saluschnyj und Selenskyjs Beratern. NBC berichtet, dass die Gespräche "inmitten der Besorgnis US-amerikanischer und europäischer Regierungsvertreter begannen, dass der Krieg eine Pattsituation erreicht hat". NBC berichtet, dass, wie Saluschnyj, "einige US-Militärbeamte privat begonnen, den Begriff 'Patt' zu verwenden, um die aktuelle Schlacht in der Ukraine zu beschreiben".
Wie Saluschnyj und Selenskyjs Berater sind auch Beamte der Biden-Regierung besorgt, dass der Ukraine die Kräfte ausgehen. Nach Angaben von Personen, die mit der Angelegenheit vertraut sind", berichtet NBC, hat sich Präsident Joe Biden intensiv mit den schwindenden Streitkräften der Ukraine beschäftigt. "Manpower", so wird eine dieser Quellen zitiert, "steht derzeit ganz oben auf der Sorgenliste der Regierung".
In Anlehnung an den in der Time zitierten "engen Berater von Selenskyj" sagte dieselbe Quelle: "Die USA und ihre Verbündeten können die Ukraine mit Waffen versorgen, aber wenn die nicht über kompetente Kräfte verfügt, um sie einzusetzen, nützt das nicht viel."
Diese Bedenken, so berichtet NBC, haben US-Beamte dazu veranlasst, privat zuzugeben, dass "die Ukraine wahrscheinlich nur noch bis zum Ende des Jahres oder kurz danach Zeit hat, bevor dringendere Gespräche über Friedensverhandlungen beginnen sollten."
Damit bleiben nur noch ein paar Monate. Da sich die Entwicklung auf dem Schlachtfeld trotz Selenskyjs unbeirrbarem "Glauben an den Endsieg der Ukraine über Russland" gegen die Ukraine wendet, scheint sich der Druck auf Selenskyj sowohl von innen als auch von außen zu verstärken, sich den diplomatischen Forderungen zuzuwenden und dem Beginn eines Kriegsendes ins Auge zu schauen.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.