Ist der Anfang vom Ende des Ukraine-Kriegs gekommen?
Kiew hatte für diesen Frühling eine große Militäraktion angekündigt. Es sollte ein Befreiungsschlag werden. Nun zeichnen sich ganz andere Entwicklungen ab. Ein Telepolis-Leitartikel.
Viel ist von der bevorstehenden Frühjahrsoffensive der Ukraine die Rede gewesen, mit der die russischen Truppen aus dem Land, aus den Separatistengebieten in der Ostukraine in ihren international anerkannten Grenzen und von der Krim vertrieben werden sollten. Nun ist der Frühling meteorologisch seit gut einer Woche vorbei, kalendarisch dauert er noch knapp zwei Wochen. Von einer Offensive ist nicht viel zu spüren. Und das wird Folgen haben.
Ein Blick in die deutschen Leitmedien bringt wenig Klarheit über die militärische Lage. "Die Frühjahrsoffensive läuft schon längst", meinte der sicherheitspolitische Korrespondent der Zeit, Hauke Friedrichs am 6. Juni. Knapp drei Wochen zuvor hatte ein Beitrag auf der Homepage des ZDF erklärt, "warum die Frühjahrsoffensive bisher ausblieb". Die Süddeutsche Zeitung schrieb Anfang des Monats über die "Hoffnung auf (die) Frühjahrsoffensive gegen Russland". Und die Südwestpresse fragte Mitte Mai: "Wann beginnt die ukrainische Frühjahrsoffensive?"
Telepolis erinnerte dieser Tage daran: Kiew und Moskau halten sich mit großen Ankündigungen zurück. Über Militäraktionen – defensiv wie offensiv – wird offenbar erst dann berichtet, wenn sie erfolgreich waren. Angesichts der Pattsituation an vielen Frontabschnitten traut sich kaum jemand, schon vorher eine große Aktion anzukündigen. Das Risiko einer Blamage ist zu groß.
Beachten Sie zu diesem Thema auch den Beitrag "Ukraine-Krieg: Die Gegenoffensive hat begonnen".
Damit wird auch der erhoffte Befreiungsschlag für die Ukraine ungewisser. Auf den aber hatten auch die westlichen Unterstützer Kiews gesetzt. Allerdings mit zunehmender Ernüchterung.
Bereits Ende März sahen EU-Außen- und Sicherheitsexperten die ukrainische Armee im Kampf gegen die russischen Invasoren in der Defensive. Das geht aus einem internen Konzeptpapier des Europäischen Auswärtigen Dienstes hervor, das Telepolis damals im Rahmen seiner Berichterstattung veröffentlicht hatte.
Das mehrseitige Dokument "zur Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte durch die Bereitstellung von Munition" ging von einem massiven Munitionsmangel der ukrainischen Artillerie aus. Diese Einschätzung deckte sich im Wesentlichen mit US-Geheimdokumenten, die kurz zuvor im Internet aufgetaucht waren.
Die "erfolgreiche Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte", die Ende August 2022 an zwei Fronten begann, sei "ermutigend", aber "noch kein Wendepunkt", schrieben die EU-Experten in ihrer internen Analyse. Seitdem hat sich die Lage kaum verändert.
Das ist für die ukrainische Regierung insofern problematisch, als im Westen die Kriegsmüdigkeit wächst. Dazu tragen neben der Angst vor einer Eskalation auch die wirtschaftlichen Folgen bei.
Baerbock spürt Widerstand gegen westliche Ukraine-Politik
Denn der russische Angriff auf die Ukraine hat die Weltwirtschaft massiv getroffen. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln schätzt die globalen Produktionsausfälle allein im Jahr 2022 auf rund 1,6 Billionen US-Dollar. Das geht aus Daten des IWF hervor. Für das laufende Jahr sei mit weiteren Ausfällen von bis zu einer Billion US-Dollar zu rechnen. Rund 40 Prozent der Schäden entfallen auf Schwellen- und Entwicklungsländer.
Dort stößt die blindgläubige militärische Unterstützung der Ukraine vor allem durch Nato-Staaten daher auf wenig Gegenliebe. Das bekam Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) in dieser Woche erneut zu spüren. Als sie in Brasilien für den deutschen Ukraine-Kurs warb, fehlten zwei wichtige Adressaten: Präsident Luiz Inácio Lula da Silva und Außenminister Mauro Vieira hatten keine Zeit für den Gast aus Berlin. Ein diplomatischer Schuss vor den Bug.
Auch in Kiew ist zu spüren, dass der Widerstand gegen den Krieg stärker wird. Versuche des ukrainischen Außenministers Dmytro Kuleba, mehr Unterstützung der Entwicklungs- und Schwellenländer für den Krieg gegen die russischen Invasoren zu gewinnen, blieben weitgehend erfolglos.
Lula plädierte zuletzt vielmehr für eine internationale Vermittlung durch einen "Club of Peace". Dieser Staatengruppe sollen nach seinen Plänen auch Indien, Indonesien und China angehören. Öffentlich kritisierte er die Militärhilfe der Nato und verbündeter Staaten.
Damit wächst der Druck auf die Ukraine, militärisch Fakten zu schaffen. Die so wichtigen, aber bislang ausbleibenden Erfolge schüren Verzweiflung und Radikalismus. Ausdruck dafür sind die Vorstöße nach Westrussland und die wiederholten Angriffe loser ukrainischer Verbände auf die grenznahe russische Oblast Belgorod.
Im Westen sorgen diese Aktionen zunehmend für Unverständnis. So distanzierte sich das US-Außenministerium von den Angriffen, auch wenn man Kiew offiziell noch freie Hand lässt.
Deutsche Leitmedien von Spiegel bis taz berichten derweil offen über die rechtsradikale Gesinnung einzelner Milizionäre wie Denis Nikitin. Bisher waren es vor allem Medien abseits des medialen Mainstreams, die über rechtsextreme Tendenzen in Teilen der ukrainischen Landesverteidigung informierten – und denen dafür nicht selten Kreml-Nähe vorgeworfen wurde.
Doch das Narrativ ändert sich. Darauf deutet auch ein Bericht der US-Tageszeitung Washington Post hin, wonach US-Geheimdienste davon ausgehen, dass ukrainische Militärs direkt für den Angriff auf die Nord Stream-Pipelines verantwortlich sind.
Je stärker die Kritik wird, desto entschlossener werden offizielle und inoffizielle ukrainische Verbände versuchen, das Ruder herumzureißen. Dass sie dabei auch westliche Waffen einsetzen, war absehbar.
Samuel Charab, leitender Politikwissenschaftler bei der US-amerikanischen RAND Corporation, schrieb daher im Magazin Foreign Affairs einen beachtlichen Satz. Es sei jetzt an der Zeit, "dass die Vereinigten Staaten eine Vision dafür entwickeln, wie der Krieg endet. Fünfzehn Monate Kampf haben deutlich gemacht, dass – auch mit externer Hilfe – keine Seite dazu fähig ist, einen entscheidenden militärischen Sieg zu erzielen."
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