Ist der Impfpflicht-Zug abgefahren?

Bild: © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0

Omikron lässt viele Corona-Maßnahmen alt aussehen. Bayerns Aussetzen der einrichtungsbezogenen Impfpflicht empört Karl Lauterbach, der wiederum selbst unter großem Druck von Seiten seiner Kritiker steht

Vom "Team Vorsicht" ist Markus Söder ins "Team Augenmaß" gewechselt. Momentan bekommt er dafür großes Echo. Er setze mit dem bayerischen Sonderweg bei der einrichtungsbezogenen Impfpflicht den Anfang vom Ende für die allgemeine Corona-Impfpflicht, wird ihm vorgeworfen. Sein Ausscheren aus der Bund-Länder-Abmachung sei obendrein rechtlich bedenklich. Auch seine jüngsten Lockerungen bei den Corona-Maßnahmen stehen in der Kritik.

Der Vorwurf, dass sich der bayerische Ministerpräsident mit Lockerungen auf einem Irrweg befinde, kommt am lautesten vom Gesundheitsminister in Berlin, Karl Lauterbach. Dieser hat noch Schwierigkeiten mit dem Rollenwechsel vom Warner, der sich dafür auch dramatischer Künste bedienen kann, zum Ministerchefposten, bei dem es auf verantwortliches Handeln mit Konsequenzen für eine Bevölkerung ankommt und auf eine seriöse Darstellung der Politik. Lauterbachs Warnung vor "nicht harmlosen Mutanten", die noch kommen werden, gerät ihm, wie hier ab Minute 1:50 zu sehen, fuchtelig und vage, konkrete Anhaltspunkte fehlen.

Nun sind nicht-lineare Entwicklungsmöglichkeiten nicht leicht zu erklären, aber auch bei Zahlen, die Lauterbach präsentiert, um seine Argumente gegen eine Lockerung zu stützen, bleibt er im dramaturgischen Fach:

Ich habe mal ausgerechnet, wie viele Menschen derzeit mit der Strategie Israels sterben würden, wenn wir ähnlich vorgehen würden. Dann kommt man auf eine Quote von vielleicht 400, 500 Menschen, die in Deutschland sterben würden, wenn wir diese Öffnungen so machen würden. Bei uns sterben aber derzeit zwischen 100 und 150 Menschen am Tag – immer noch zu viel.

Karl Lauterbach im Heute-Journal, 08.02.2022

Demgegenüber rechnet Olaf Gersemann, der Corona-Zahlen-Experte von der Welt, vor, dass 100 bis 150 Tote am Tag etwa 5 Prozent der täglich 2.700 Verstorbenen entsprechen, die in Deutschland übers Jahr im Tagesdurchschnitt registriert werden und er setzt dies in Zusammenhang mit der großen Grippewelle von 2017/2018. Gestützt auf Schätzungen des RKI kommt er auf einen Durchschnittswert von 360 Toten pro Tag.

Auffällig ist, dass viel Kritik an Lauterbach vonseiten der Welt kommt und das nicht erst seit Ende Januar, als der neue Gesundheitsminister bei der plötzlich verfügten Verkürzung des Genesenenstandes keine souveräne Figur machte (Die Halbierung des Genesenen-Schutzes). Von solchen politischen Lager-Kämpfen abgesehen, sind es auch Fachleute, wie etwa der Mathematiker und Medizinstatistiker Gerd Antes, die bei den Ausführungen des Ministers nach wissenschaftlichen Begründungen fragen.

Die wären allerdings nötig, da es darum geht, wie viel eine Gesellschaft an Einschränkungen hinzunehmen bereit ist. Der Eindruck ist, dass die Unterstützung in der Bevölkerung langsam wegschmilzt, da sich die Omikron-Welle tatsächlich nicht als die Wand darstellt, die das gemeinschaftliche Leben in größte Gefahr bringt, wie im Dezember noch vom Expertenrat der Regierung gewarnt wurde. Abzulesen ist das Kippen der Stimmung, wie sich in Medienberichten und in Gesprächen zeigt, auch an zum Teil heftigen Reaktionen der Mitglieder des "Teams Vorsicht", die wie stets davor warnen, jetzt nicht vorschnell zu lockern.

"Ich hoffe, dass hier Herr Söder noch einlenkt"

Lauterbach ist da der prominenteste Vertreter mit dem wichtigsten Posten. Er ist Gegner der Lockerungen, wie sie Söder nun in Bayern durchgesetzt hat, und er ist ganz und gar nicht einverstanden damit, dass Bayern aus der einrichtungsbezogenen Impfpflicht aussteigt. Dazu deutete er sachte an, dass er den Druck erhöhen könnte: "Wir können das Land Bayern kaum zwingen, sich an die Absprachen zu halten. Ich hoffe, dass es auch nicht notwendig ist. Ich hoffe, dass hier Herr Söder noch einlenkt."

Die Äußerung stammt aus dem oben genannten Heute-Journal-Auftritt. Dort misst Lauterbach aber mit unterschiedlichen Maß. Er nimmt Israel als Beispiel für eine Lockerungspolitik, die gefährlich ist. Doch gehen die Lockerungen in Israel sehr viel weiter als in Bayern, wo die Sperrstunde in Lokalen um 22 Uhr aufgehoben wurde, die Zahl der erlaubten Teilnehmerzahlen bei Veranstaltungen erhöht wurde und der Zugang zu Schwimmbädern und Sport erleichtert.

Trotz Rekordzahlen bei den Schwerkranken in der Omikron-Welle entfällt in Israel weitgehend die Pflicht für den sogenannten "Grünen Pass". Seit Montag müssen die Menschen den Nachweis für Geimpfte und Genesene nur noch bei großen Veranstaltungen wie Feiern und Hochzeiten vorzeigen. Der Besuch von Restaurants, Kinos und Hotels ist nun auch ohne "Grünen Pass" und ohne negativen Corona-Test möglich. Auch bei der Ausreise aus Israel müssen Ungeimpfte keinen negativen Corona-Test mehr vorlegen.

Welt

Das Argument der bayerischen Regierung für den Ausstieg aus der Impfpflicht für Pflegekräfte ist ein pragmatisches. Das Gesetz scheitere an seiner fehlenden Umsetzbarkeit, wird auch von Politikern der CDU vorgebracht, unter anderem vom neuen Parteivorsitzenden Merz.

Zwar habe die große Mehrheit der CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten im Dezember noch für das Gesetz gestimmt, aber so der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Tino Sorge (CDU): "Die Bundesregierung muss einsehen, dass die einrichtungsbezogene Impfpflicht im Moment kaum umsetzbar ist." Eine Erklärung dafür ist die Sorge vor einer Kündigungswelle der Pflegekräfte.

Aus der bayerischen Regierung kommen nun Statements, dass man unbedingt an der allgemeinen Impfpflicht festhalten werde: "Damit wir uns nicht falsch verstehen: Die allgemeine Impfpflicht muss natürlich kommen, und zwar möglichst rasch" (Gesundheitsminister Klaus Holetschek). Doch ist das möglicherweise nicht der letzte Satz dazu.