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Ist die Marktwirtschaft alternativlos?

Marktwirtschaft wird heute wie eine Religion verteidigt. Warum Alternativen dennoch notwendig sind. Und weshalb eine Debatte über Systemfragen keine "verhängnisvolle Anmaßung" ist (Teil 1)

Karl Marx hat sehr wenig über die Gestaltung einer möglichen künftigen, sozialistischen Gesellschaft gesagt. Vielmehr war für ihn die wissenschaftliche Analyse des Bestehenden vordringlich, denn nur durch diese ist begründbar, welche Systemänderungen notwendig sind, was also geändert werden muss und wo anzusetzen ist.

Konkrete Bestimmungen der Alternative könnten und würden sich im Zug ihrer politischen Vorbereitung und Durchsetzung ergeben. Wie sich solche Formen im revolutionären Kampf herausbilden, war dementsprechend einer der Aspekte, unter denen er die Erfahrungen der Pariser Kommune in seiner Schrift Der Bürgerkrieg in Frankreich darstellte.1 [1]

Der bekannteste und zugleich ausführlichste Hinweis, den Marx über die künftige Gesellschaft gegeben hat, findet sich in der Kritik des Gothaer Programms2 [2]. Er unterscheidet darin eine "erste Phase" der kommunistischen Gesellschaft, welche "eben aus der kapitalistischen Gesellschaft nach langen Geburtswehen"3 [3] hervorgegangen sein wird, von einer höheren Stufe, die er durch das Prinzip "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen"4 [4] gekennzeichnet sieht.

Darüber, wie lange die erste Stufe andauern wird und was die Kriterien für den Übergang zur zweiten Stufe sein werden, kann nicht viel gesagt werden, solange die Herrschaft des Kapitals noch ungebrochen ist, und daher nicht einmal die Entstehungsumstände für die erste Stufe erkennbar sind.

Eines soll aber in jedem Fall angemerkt werden: je weiter die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen durch den Kapitalismus voranschreitet, desto schwieriger wird es nach dessen Überwindung werden, die kommunistische Gesellschaft aufzubauen, und umso länger wird es dauern, ihre höhere Stufe zu erreichen. Im Folgenden wollen wir jedoch nur über die erste Phase sprechen,5 [5] wobei selbstverständlich mit "Sozialismus" nicht das gemeint ist, was es einst als "Realsozialismus" gab.

In jedem Fall ist es so, dass die erste Stufe dadurch gekennzeichnet ist, dass noch Wünsche offen bleiben. Das heißt: könnte sich jeder aus der Menge der produzierten Güter nehmen, was ihm gefällt, so würde diese Menge nicht ausreichen. Es ergibt sich also die Aufgabe, eine geeignete Art der Verteilung zu installieren. Marx kritisiert die diesbezüglichen, von Ferdinand Lasalle beeinflussten Parolen des Gothaer Programms dahingehend, dass sie nur Ideale formulieren und sich dabei in unzureichend definierten Begriffen ergehen.

So entlarvt er die Forderung nach "gerechter Verteilung des Arbeitsertrags" als "hohle Phrase", indem er fragt "was ist der Arbeitsertrag?" und "was ist gerechte Verteilung?" und darauf hinweist, dass es für die Apologeten des Kapitals keine Schwierigkeiten bereitet, diese Begriffe so zu bestimmen, dass just die kapitalistischen Verhältnisse als Erfüllung dieser Forderung erscheinen.

Um hier Klarheit zu bringen, erörtert er, was mit dem Arbeitsertrag in der sozialistischen Gesellschaft geschehen muss, bestimmt dabei als Ausgangspunkt erst einmal "Arbeitsertrag" so umfassend wie möglich als das gesamte Arbeitsprodukt der Gesellschaft und zählt sodann auf, was davon alles abgezogen werden muss, ehe der Rest als Konsumgüter an die arbeitenden Gesellschaftsmitglieder verteilt werden kann: Ersatz und Neuinvestition von Produktionsmitteln, Reserve für unvorhergesehene Fälle, Verwaltungskosten, Gemeinschaftseinrichtungen und Alimentierung von Arbeitsunfähigen.6 [6] Erst dann kann man zur Verteilung des Rests schreiten.

Die Verselbständigung des Geldes

Wie geht nun dies, also die Distribution der Konsumgüter vor sich? Dazu heißt es7 [7]:

Er [der Arbeiter] erhält von der Gesellschaft einen Schein, dass er soundso viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds), und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleichviel Arbeit kostet.

Dieses Prinzip wurde bereits in frühsozialistischen Versuchen praktiziert. Marx kommt darauf im Kapital bei Gelegenheit der Analyse der Funktion des Geldes als Zirkulationsmittel zu sprechen8 [8]:

Hier sei noch bemerkt, daß z.B. das Owensche "Arbeitsgeld" ebensowenig "Geld" ist wie etwa eine Theatermarke. Owen setzt unmittelbar vergesellschaftete Arbeit voraus, eine der Warenproduktion diametral entgegengesetzte Produktionsform. Das Arbeitszertifikat konstatiert nur den individuellen Anteil des Produzenten an der Gemeinarbeit und seinen individuellen Anspruch auf den zur Konsumtion bestimmten Teil des Gemeinprodukts.

Dies nimmt Bezug auf sozialistische Genossenschaftsdörfer, die der aus Wales stammende Robert Owen (1771-1858) in England und den USA gründete; diese konnten sich als kleine Inseln in der kapitalistischen Umgebung allerdings nicht lange halten.9 [9] Im Inneren waren diese Dörfer sozialistisch strukturiert. Die Gemeinschaftsmitglieder erhielten "Arbeitsgeld", das heißt Bescheinigungen über geleistete Arbeit, die zum Erwerb von Konsumgütern berechtigten.

Ganz entscheidend ist im obigen Zitat der Hinweis, dass es sich bei diesen Zertifikaten nicht um Geld handelt. Inwiefern nicht? Weil sie, ganz wie Theaterkarten, ihre Gültigkeit verlieren, wenn sie eingelöst werden, also im Unterschied zum Geld ihren "Wert" nicht über den Kaufakt hinaus behalten und daher auch nicht weiter zirkulieren können.

Damit ist nämlich für das "Arbeitsgeld" die in den ersten Kapiteln von Das Kapital dargestellte Verselbständigung des Geldes, wie sie mit dessen Funktion als Zirkulationsmittel beginnt und sich über weitere Geldfunktionen fortentwickelt, bis sie sich schließlich im Kapital, als dem sich selbst verwertenden Wert, vollendet,10 [10] von vornherein ausgeschlossen.

Das ist, wie wir sehen werden, ein grundlegender Unterschied, aber dennoch erscheint dieser im Hinblick auf praktische Belange zunächst gar nicht so augenfällig. Die Arbeiter oder Angestellten im Kapitalismus bekommen ihren Lohn in Gestalt von Banknoten, die im Sozialismus in Gestalt von Arbeitszertifikaten.

Dass der Lohn heutzutage gewöhnlich nicht bar ausgezahlt, sondern auf ein Bankkonto überwiesen wird, spielt keine Rolle, denn das ist im hier besprochenen Kontext nur eine Frage der praktischen Handhabung; auch für Arbeitsgeld ist Kontoführung denkbar.

Es erscheint also gar nicht so verschieden: in beiden Fällen gehen die Arbeiter damit in den Supermarkt (oder auch einen kleineren Laden), suchen sich aus, was sie haben wollen, und bezahlen mit ihren Banknoten beziehungsweise ihren Arbeitszertifikaten. Auch kein großer Unterschied. Nicht einmal an der Einrichtung der Läden muss nennenswert viel geändert werden.

Auch die Personalorganisation der Läden ist gar nicht so verschieden: im heutigen Kapitalismus werden die Filialen der großen Kaufhaus- und Ladenketten, über die der weit überwiegende Teil des Umsatzes von Konsumwaren läuft, nicht von ihren Privateigentümern betrieben, sondern von Angestellten, so dass auch dies nicht anders ist, als in einer mit Arbeitsgeld organisierten sozialistischen Gesellschaft; und diese Angestellten werden – ebenso wie die Arbeiter in der Produktion – hier mit Banknoten, dort mit Arbeitszertifikaten bezahlt, so wie ja auch die Bezahlung für andere unproduktive aber nützliche und notwendige Arbeiten sowie die Alimentierung von Arbeitsunfähigen (Kinder, Kranke, Alte) hier mit Banknoten, und dort mit "Arbeitsgeld" geschieht.

Anmerkung:
"hier" und "dort" stehen im obigen Absatz für die kapitalistische beziehungsweise sozialistischen Gesellschaft, und so soll das der bequemeren Ausdrucksweise auch im Folgenden geschehen, wobei durch Kursivschreibung darauf hingewiesen wird, dass es so gemeint ist.

Verschwendung und Schweinezyklus

Außer der Abwicklung der Käufe haben die Angestellten in den Läden die Aufgabe – auch dies eine Gemeinsamkeit in beiden Gesellschaftsformen –, für die Bevorratung mit den angebotenen Gütern zu sorgen. Das geschieht, ebenfalls in beiden Fällen, auf der Grundlage statistischer Erfahrungswerte über die Nachfrage nach den verschiedenen Sorten von Konsumartikeln. Wie sollte es auch sonst gehen?

Von diesem Punkt an tun sich allerdings Unterschiede auf, die hier näher besprochen werden sollen, da sie uns die Schönheiten der Marktwirtschaft vor Augen führen.

Es geht an mit den Reaktionen, wenn die statistischen Annahmen über die Nachfrage einmal daneben liegen, wie das bei statistischen Annahmen eben vorkommt: im Kapitalismus werden Waren, die im Laden liegen bleiben, vernichtet oder allenfalls mit gewissen Preisabschlägen verkauft, denn der Händler will sich ja nicht die eigene Nachfrage zerstören.

Im Sozialismus können sie verschenkt werden. Dauerhafte Abweichungen führen hier wie dort zu Anpassungen der Produktion. Im Kapitalismus geht das so: bleiben bestimmte Waren im Laden liegen, werden sie nicht nachbestellt; nach einiger Zeit merkt das dann der Großhändler, und bestellt auch nicht nach und das geht möglicherweise noch über ein paar weitere Zwischenhändler, bis schließlich der Produzent die mangelnde Nachfrage wahrnimmt.

Auch die Rückmeldung über erhöhte Nachfrage nimmt ihren Verlauf über mehrere Stufen, bevor sie beim Produzenten ankommt. Im Sozialismus kann eine zentrale Koordination eingerichtet werden, die die Rückmeldungen direkt aus den Verkaufsstellen entgegennimmt, sammelt und bei Bedarf die Produktionsbetriebe weiterleitet. Es geht also dort schneller als hier.

Wie geht es weiter, wenn ein kapitalistischer Produktionsbetrieb wahrnimmt, dass eine nicht befriedigte Nachfrage nach einem bestimmten Artikel besteht? Zunächst ist anzumerken, dass die Nachfrage als solche es nicht ist, was die Kapitalisten zu Reaktionen veranlasst, schließlich ist ja der Zweck der kapitalistischen Produktion nicht, den Wünschen der Konsumenten nachzukommen, sondern Gewinn zu machen.

Die erhöhte Nachfrage muss erst ihren Niederschlag in erhöhten Preisen gefunden haben, bevor etwas geschieht. Gut, zu Preiserhöhungen wird es aber sicher kommen, möglicherweise auch wieder entlang der Reihe von Zwischenhändlern.

Und was passiert dann? Jeder Betrieb, der die bestimmte Ware produziert, verlegt sich nun ohne Absprache mit seinen Konkurrenten darauf, mehr davon zu produzieren, um von den erhöhten Preisen zu profitieren. Das wird dazu führen, dass insgesamt nun deutlich mehr produziert wird, als Nachfrage danach besteht. Es beginnt also nun das umgekehrte Spielchen, allerdings ebenfalls wieder unkoordiniert und deshalb über das Ziel hinausschießend.

So geschieht im Kapitalismus die Anpassung der Produktion an die Nachfrage in Wellenbewegungen, die so regelmäßig auftreten, dass sich dafür eine gängige Bezeichnung eingebürgert hat, nämlich "Schweinezyklus", weil sich das bei der Schweinezucht besonders ausgeprägt beobachten lässt.

Im Sozialismus wird die Produktion zentral koordiniert. Da kann man die Produktion eines stark nachgefragten Artikels daher gesamtgesellschaftlich gerade so weit erhöhen, als aufgrund der Meldungen aus den Läden angemessen erscheint. Es wird also kein Schweinezyklus entstehen.

Bisher wurde von der Distribution der Konsumgüter gesprochen. Wie sieht es mit der Distribution der Produktionsmittel aus? Innerhalb eines jeden kapitalistischen Unternehmens gibt es Beschaffung und Lagerhaltung sowohl von extern gekauften als auch von selbst erstellten Arbeitsmitteln, Rohstoffen und Halbfertig-Produkten.

Der Austausch zwischen den Unternehmen findet am Markt statt, mit fast identischen Erscheinungen wie oben für den Konsumgütermarkt beschrieben; innerhalb eines Unternehmens werden die Güter durch interne Koordination dorthin gebracht, wo sie gebraucht werden. Wieso sollte letzteres nicht auch im Sozialismus funktionieren, wo die gesamte Produktion der Gesellschaft wie in einem einzigen Unternehmen organisiert wird?

Innerhalb der Produktionseinheiten besteht hier wie dort ein internes Rechnungs- und Verteilungssystem, das sich aus der Kenntnis der technischen Abläufe ergibt und durch geeignete Lagerhaltung im Hinblick auf unvorhergesehene Schwankungen und sonstige Ereignisse stabilisiert wird.

Oft wird von den Apologeten des Kapitalismus bezweifelt, dass so große Produktionseinheiten, wie es die gesamte Wirtschaft im Sozialismus wäre, in effizienter Weise mittels interner Planung funktionieren könnten.

So zu argumentieren, widerspricht jedoch gerade dem, was man im Kapitalismus ständig beobachten kann, denn es ist ja gerade die Effizienzsteigerung durch Größengewinn, was im Kapitalismus unentwegt Erweiterungen und Zusammenschlüsse von Firmen motiviert. In Wirtschaftskreisen hat sich dafür auch schon ein eigener Terminus eingebürgert: Synergieeffekte.

Ein anderes Argument betrifft die Innovationsfreudigkeit, die angeblich nur durch die Konkurrenz am Markt motiviert werden könne. Das ist, wenn es denn je gegolten hat, nicht mehr zeitgemäß, denn neue Technologien zu entwickeln, verlangt heute so große Vorschüsse an Forschungsarbeit, deren Resultat und damit deren Anwendungsmöglichkeiten zudem im Voraus schwer abschätzbar sind, dass diese fast immer erst einmal in öffentlichen Institutionen erfolgt oder staatlich stark subventioniert wird.

Teil 2: Die Wundertätigkeit des Markts [11]


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