Jalta 2.0: Die Ordnung der Welt

Rüdiger Suchsland
Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt and Josef Stalin auf der Konferenz von Jalta

Von links nach rechts: Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt and Josef Stalin auf der Konferenz von Jalta, Februar 1945. Bild: U. S. Signal Corps

Der Ukraine-Krieg und der Frieden – 80 Jahre nach der wichtigsten Konferenz des 20. Jahrhunderts: Brauchen wir neue Vereinbarungen der Großmächte? Essay.

Die Starken tun, was sie können, die Schwachen erleiden, was sie müssen.

Thukydides

Am zweiten Tag kamen die Goldfische. In seiner "Geschichte des Zweiten Weltkriegs", die bald nach ihrer Veröffentlichung mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, beschreibt der ehemalige britische Premierminister Winston Churchill im Rückblick die entscheidenden Tage von Jalta auf anschauliche Weise.

Gewürzt mit Anekdoten wie dieser: Man wohnte in alten Palästen russischer Adliger, und als einer von Churchills Begleitern ein leeres Aquarium sah und bemerkte – "Wie schade, dass es leer ist" – wurde es bald darauf mit besagten Goldfischen aufgefüllt. Auch sonst taten die russischen Gastgeber alles, um es den Führern der Verbündeten so angenehm wie möglich zu machen.

Im Liwadia Palast, der ehemaligen Sommerresidenz des Zaren Nikolaus II., trafen sich vor gut 80 Jahren, vom 4. bis zum 11. Februar 1945, die Führer der damaligen Weltmächte, die gerade gemeinsam eine vierte, das Deutsche Reich, niedergeworfen hatten: US-Präsident Franklin D. Roosevelt, Großbritanniens Premierminister Winston Churchill und der sowjetische Führer (russisch вождь "woschd"), Marschall Josef Stalin.

Auf die Verhandlungen hatte das gute Klima allerdings nur geringen Einfluss. In harten Verhandlungen wurde hier die Nachkriegsordnung entworfen und die Grundlage für die zweigeteilte Welt von 1945 bis 1990 gelegt.

Jalta als Mythos und Symbol

Seit 80 Jahren ist "Jalta" damit kein geografischer Begriff mehr, sondern ein hochpolitischer. Jalta wurde zu einem Mythos, einem Symbol und einer Chiffre der Teilung Europas und der Welt.

Schnell wurde "Jalta" im Westen auch zu einem Schimpfwort: Ein todkranker Roosevelt – er starb im April 1945 – und ein ohnmächtiger Churchill hätten dem Diktator Stalin die einseitigen Konzessionen gemacht, die ihm die Herrschaft über halb Europa verschafften – so lautet die Legende.

Sie ist zum Teil dem McCarthyismus der Fünfzigerjahre zu verdanken. Doch noch 1985 behauptete der rechtskonservative bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß zum 40. Jahrestag der Konferenz, die "Nachgiebigkeit" von Churchill und Roosevelt gegenüber Stalin sei dafür verantwortlich, dass "drei Millionen Deutsche ihr Leben hatten lassen müssen".

Umgekehrt gilt Jalta der Sowjetunion und Russland als Wegbereiter für beispiellose 40 Friedensjahre in Europa.

Beide Interpretationen haben einen wahren Kern und gehen doch in unterschiedlichem Ausmaß am Ziel vorbei. Das Ziel der Diplomaten beider Seiten bestand ungeachtet gelegentlicher forscher Reden einiger Scharfmacher darin, die Grenzen Mittel- und Osteuropas nicht zu beseitigen, sie aber durchlässiger zu machen.

Wäre ein neues Jalta gut?

Heute ist ein neuer, kühler und realistischer Blick auf die Ereignisse angesagt. Und vor dem Hintergrund der Herausforderungen der Weltpolitik des 21. Jahrhunderts, vor allem der allerneuesten Umwälzungen der internationalen Ordnung und der freiwilligen Selbstaufgabe der westlichen Hegemonie, die im Gefolge des Ukraine-Kriegs sichtbar geworden ist, muss man fragen:

Wäre ein neues Jalta möglicherweise der Ausweg aus einer zunehmend chaotischer und gefährlicher werdenden geopolitischen Konstellation?

Brauchen wir eine neue Ordnung der Welt durch die Großmächte?

Ein Blick zurück: Jalta war der Versuch, die Nachkriegswelt kooperativ zu ordnen.

Westverschiebungen und Teilungen

Beide Seiten machten Zugeständnisse. In dem harten Handel erwies sich Roosevelt, obwohl offensichtlich körperlich schwach, als ein sehr wacher Partner.

Die Sowjetunion gab nach in der Frage der deutschen Reparationen, hinsichtlich der Art des Vetorechts im geplanten Weltsicherheitsrat, in der Zustimmung zu einer französischen Besatzungszone in Deutschland und in der festen Zusage des Kriegseintritts gegen Japan.

Sie gewann eine verschleierte Nachgiebigkeit der Westalliierten gegenüber der politischen Kontrolle Polens, das die Rote Armee bereits besetzt hatte (was damit die russische Vorherrschaft in ganz Osteuropa einleitete).

Was Deutschland angeht, so bedeutet Jalta trotz der Westverschiebung Polens ein letztes Symbol der gemeinsamen Verantwortung der Weltmächte. Es ist ungenau zu sagen, dass in Jalta die Teilung Deutschlands "besiegelt" wurde.

Stalin, Roosevelt und Churchill überboten sich zwar in den Visionen eines mehrfach aufgeteilten Deutschlands. Und Stalin drängte am stärksten auf endgültige Beschlüsse, nur er hatte Erfahrungen mit deutschen Armeen im eigenen Land. Aber es kam nicht dazu, vor allem, weil Churchill damit noch warten wollte.

Jedoch wurde in Jalta mit der Einigung darauf, Polen auf Kosten deutschen Gebietes für die russischen Annexionen zu entschädigen, die Westverschiebung, die Abspaltung der deutschen Ostgebiete als eines durch Zwangsaustreibungen entleerten Gebietes beschlossen.

Dies war, wie George F. Kennan, der bedeutendste Russlandexperte der USA, nachgewiesen hat, ursprünglich nicht ein sowjetischer Einfall, sondern bereits in Teheran im November 1943 von Roosevelt und Churchill angeregt worden.

Kennan kommentierte dies in einer heute wieder besonders einleuchtenden Weise:

Es ist schwer für mich, zu verstehen, wie jemand nicht begreifen konnte, dass ein Polen mit so künstlichen Grenzen, die eine solche erschütternde Vertreibung der Bevölkerung erforderten, unweigerlich von russischem Schutz abhängig werden würde.

Polen solche Grenzen zu geben, machte es zwangsläufig zu einem russischen Protektorat, ob nun seine Regierung kommunistisch war oder nicht.

George F. Kennan

Die Teilung der deutschen Nation wurde nicht in Jalta erdacht. Die späteren Zonengrenzen galten als vorläufige militärische Demarkationslinien, und zwischen den Konferenzen von Jalta und Potsdam, nach der Kapitulation des Deutschen Reiches, vollzog Stalin die hinsichtlich der Beweggründe niemals aufgeklärte Wendung gegen die Aufteilung.

Sein Manifest vom 8. Mai 1945 "an das deutsche Volk" versicherte, die Sowjetunion wolle keine Zerstückelung Deutschlands, was dann auf der Potsdamer Konferenz in der alliierten Formel von der "Wiedererrichtung eines deutschen Gesamtstaats" seinen Niederschlag fand.

Realität aber wurde die Spaltung Deutschlands trotzdem, weil beide Seiten mit dem Begriff der Einheit des Landes völlig gegensätzliche Vorstellungen verbanden.

Reorganisation Europas und Ausgleich der Interessensphären

Es gab für die UdSSR theoretisch zwei Optionen bei der Reorganisation Europas. Die eine betraf die Interessensphären, wobei die Sowjetunion von einer Mitherrschaft in Westeuropa ausgeschlossen war, dafür aber im Osten keinen Einfluss der Westmächte zuzugestehen brauchte.

Die andere, von Stalin vorgezogene, war die Anerkennung der Einheit Europas, mit dem Recht beider Seiten, Interessen in allen Teilen Europas zu verfolgen. Da Roosevelt in Jalta erneut angedeutet hatte, er könne aus innenpolitischen Gründen die militärische US-Präsenz in Europa nicht mehr lange, höchstens zwei Jahre, aufrechterhalten, versprach sich Stalin von der zweiten Option eine indirekte politische Kontrolle des ganzen Europa.

Nach Jalta begann er zu verstehen, dass die USA den Sowjets doch nicht die Vorherrschaft in Europa überlassen würden. Umso härter wurde der sowjetische Anspruch, der die östliche Einflusssphäre betraf.

So wurde in Jalta die Teilung nicht besiegelt – dies geschah danach schrittweise durch Tatsachen und Umstände –, aber der Kampf um das Nachkriegseuropa, der nun 40 Jahre andauert, begann hier.

Wie es Zbigniew Brzezinski, Ex-Sicherheitsberater von US-Präsident Carter, und Professor de Politikwissenschaft zusammenfasste:

Jalta bleibt von großer geopolitischer Bedeutung, weil es das noch nicht beendete Ringen um die Zukunft Europas symbolisiert ... Indem Jalta in der Konstruktion einer übereinstimmenden Welt versagte, wurde es zum Symbol der Teilung Europas.

Das nachfolgende Treffen in Potsdam war lediglich eine streitbare Konferenz zur Verteilung der Beute. Es war in Jalta, wo die Westmächte verspätet ihre ersten dunklen Ahnungen hatten, dass die Konzedierung Osteuropas an die Vorherrschaft der Sowjets der Anfang des Wettkampfes um Mittel- und Westeuropa sein könnte, während für Stalin die westliche Zurückhaltung, die weiterreichenden sowjetischen Ziele zu befriedigen, eine schwierigere politische Auseinandersetzung als erwartet voraussehen ließ.

Daher die zunehmend offene Bemühung der sowjetischen Politik, die USA aus Eurasien zu vertreiben.

Zbigniew Brzezinski, The Future of Yalta, Foreign Affairs, Dezember 1984

Atlantik-Charta: "Friedensgefährdende Handlungen gemeinsam verhindern"

Das war nicht Roosevelts Vorstellung, aus der heraus er auf der Konferenz verhandelte. Was Roosevelt sein "Great Design" für die Nachkriegszeit nannte, war mit den Wünschen Stalins unvereinbar.

Es beruhte darauf, die alliierte Zusammenarbeit über die Kriegszeit hinaus als Fundament einer neuen Weltordnung aufrechtzuerhalten: Amerika, England und die Sowjetunion sollten ein oberstes Machtgremium bilden, "Weltpolizisten" sein – mit der möglichen Einbeziehung Chinas als vierten Weltpolizisten.

Deren Aufgabe sollte es sein, friedensgefährdende Handlungen der Besiegten gemeinsam zu verhindern.

Dass diese Art eines Kondominiums von vier Weltmächten sich nicht mit der leninistisch-marxistischen Ideologie vereinbaren ließ, war mitten im Krieg Roosevelt – verständlicherweise vielleicht – nicht klar.

Er glaubte, dass auf der Ebene der praktischen Politik die von ihm und Churchill zu Anfang des Krieges verkündeten Ideale der Atlantik-Charta mit den imperialen Ansprüchen der Sowjets irgendwie in Einklang zu bringen seien.

Dies umso mehr, als Stalin Neigungen zeigte, sich einer Weltregierung der Großmächte nicht zu verschließen. Er tat dies auch in Jalta mit seiner Zustimmung zur "Deklaration" der Konferenz, so dass Roosevelt voll der beruhigenden Überzeugung nach Washington zurückkehrte, die Drei-Mächte-Einheit sei gerettet.

Sollte die Sowjetunion von diesem Kurs abweichen, fühlte er, so werde unter Amerikas Führung in den nächsten vier Jahren eine Korrektur möglich sein.

Lehren aus Jalta: Lob der Ambivalenz

Jalta ist der Inbegriff der Ambivalenz, also der hohen Kunst der Diplomatie, schwierige Fragen offenzuhalten, aber Formulierungen für sie zu finden, mit denen alle Seiten leben konnten. Und damit eine Schule der Diplomatie.

Denn Diplomatie heißt keineswegs nur Empathie und keineswegs immer friedfertiges Verhandeln und Streben nach ausgewogenen Interessenausgleich. Vielmehr geht es um unangenehme, realitätsorientierte, schmerzhafte Kompromisse.

Jalta meint: Frieden durch Blockbildung und Pufferstaaten. Zwischen den Einflusssphären der Weltmächte müssen – ausgesprochen oder implizit – Gegenden bestehen, in denen die Großmächte um Einfluss konkurrieren, sogenannte Pufferstaaten oder "Borderlands". Ukraine heißt ursprünglich "Grenzland".

Was bringt die Zukunft? Sehnsucht nach Jalta!

Von ihrer in Jalta begründeten Rolle als Weltpolizist verabschieden sich die USA jetzt gerade selbstgewählt – aber natürlich auch unter dem Druck der realen Verhältnisse und des Aufstiegs anderer Mächte wie Russland, China und Indien sowie aufgrund der Schwäche und der jahrzehntelangen verteidigungspolitischen Abstinenz Europas.

Die alte Ordnung, die mit dem Namen Jalta verbunden ist, ist nicht 1990 zu Ende gegangen, aber sie geht in diesen Tagen zu Ende. Was kann an ihre Stelle treten?

Es gibt mehrere Möglichkeiten, am wahrscheinlichsten ist aber eine mittelfristige Rückkehr zum Gleichgewichtssystem mehrerer großer Mächte, das man mit dem 19. Jahrhundert und der Ordnung des Wiener Kongresses verbindet – der "Pentarchie".

Auch hier müssen es dann nach Ansicht des Verfassers kleinere Staaten – wie etwa die Ukraine, Moldawien, aber auch Polen – erdulden, dass über ihre Köpfe hinweg Weltpolitik gemacht und entschieden wird und sie Glacis, Verhandlungsmasse und neutralisierte Zwischengebiete im Spiel der großen Entscheider sind.

Das ist keine schöne Erkenntnis und es mag auch nicht sehr moralisch wirken, obwohl diese Erkenntnis auch aus der moralischen Absicht der Friedenserhaltung geboten ist. Aber vor allem ist es eine realistische Erkenntnis, ein Wissen der Nationen und ihrer Führer um die Grenzen des eigenen Handelns.

Es ist ein moralisches Ziel, die Welt über Verhandlungen aufzuteilen, analog zur eigenen Stärke und ihrer Grenzen, anstatt den Krieg zur Fortsetzung diplomatischer Verhandlungen mit anderen Mitteln einzusetzen und blutige Kämpfe um vergleichsweise kleine Ziele zu führen.

Dies vor allem ist die Lehre aus Jalta.

Literatur

Jost Dülfer: Jalta, 4. Februar 1945. Der Zweite Weltkrieg und die Entstehung der bipolaren Welt. dtv, München 1998

George F. Kennan: Russia,the atom and the West (Reith lectures,1957); Cambridge 1958

Henry A Kissinger: "Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außenpolitik." Siedler Verlag Berlin 1994