Jeffrey Sachs: Wie China die US-Dominanz beenden will

Der chinesische Präsident Xi Jinping begrüßt am 4. Dezember 2013 US-Vizepräsident Joe Biden. Bild: Flickr / CC BY-SA 2.0

China, aber auch andere Staaten wie Brasilien verlangen Gleichberechtigung. Wir leben längst in einer multipolaren Welt, sagt Sachs. Warum der Westen dagegen rebelliert und was daraus folgt.

China nimmt eine zunehmend selbstbewusste Rolle im Weltgeschehen ein, indem es bei der Wiederherstellung der Beziehungen zwischen dem Iran und Saudi-Arabien hilft, einen Zwölf-Punkte-Friedensplan für die Ukraine anbietet und seine Beziehungen zu europäischen und lateinamerikanischen Mächten verstärkt.

Jeffrey D. Sachs ist Professor an der Columbia University. Er hat drei Generalsekretäre der UN beraten.

China setzt seine diplomatischen Bemühungen fort und bot an, Gespräche zwischen Israel und Palästina zu führen. "China will nicht, dass die Vereinigten Staaten die Vormachtstellung innehaben. Man möchte an der Seite der USA gleichberechtigt existieren", sagt der Wirtschaftswissenschaftler Jeffrey Sachs, Direktor des Zentrums für nachhaltige Entwicklung an der Columbia University und Präsident des U.N. Sustainable Development Solutions Network.

Er war außerdem Berater von drei UN-Generalsekretären und ist derzeit verantwortlich für den Bereich "Lösungen für nachhaltige Entwicklung" unter Generalsekretär António Guterres. Sein jüngster Artikel trägt die Überschrift "The Need for a New US Foreign Policy".

Das Interview, geführt von Amy Goodman und Juan Gonzalez, wird in Kooperation mit dem US-Programm Democracy Now veröffentlicht. Die englische Version finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.

All die diplomatischen Unternehmungen Chinas – das Treffen mit Macron und Lula, die Vermittlung eines Abkommens zwischen dem Iran und Saudi-Arabien, das Angebot, nicht nur zwischen der Ukraine und Russland, sondern auch zwischen Israel und Palästina zu verhandeln – finden in den Medien der Vereinigten Staaten kaum Beachtung. Aber in der ganzen Welt sind das Schlagzeilen. Was steckt hinter diesen Entwicklungen, und sehen Sie eine direkte Parallele zwischen den Fortschritten, die China macht, und der zunehmenden Feindseligkeit der USA gegenüber China?

Jeffrey Sachs: Es ist in der Tat ein wichtiges Thema. Und wie Präsident Xi Jinping bei dem Treffen mit Macron sagte, ist es ein historischer Wendepunkt, den die Welt gerade durchlebt.

Was China anstrebt, wenn wir es aus der chinesischen Perspektive betrachten, ist: echter Multilateralismus. Man will nicht eine von den USA geführte Welt, sondern eine multipolare Welt.

Die Grundlage dafür ist, dass die Vereinigten Staaten 4,1 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, während Chinas Anteil 17,5 Prozent ist. Chinas Wirtschaft ist mit der der USA vergleichbar, und das Land ist tatsächlich der wichtigste Handelspartner für einen Großteil der Welt.

China sagt also: "Wir sind an eurer Seite. Aber wir wollen eine multipolare Welt. Wir wollen keine von den USA geführte Welt".

Und während die Vereinigten Staaten manchmal von einer regelbasierten Ordnung sprechen, ist es eine Tatsache, dass die "grand strategy", die globale Strategie der USA – ein Begriff der großen Strategen der US-Außenpolitik – Dominanz bedeutet.

Ich beziehe mich auf einen Artikel, den ich für sehr klar, prägnant und aufschlussreich halte, von einem ehemaligen Kollegen von mir an der Harvard University, Robert Blackwill, einem weit geschätzten Botschafter der Vereinigten Staaten, der 2015 schrieb – ich zitiere:

Seit ihrer Gründung haben die Vereinigten Staaten konsequent ihre "grand area strategy" verfolgt, die sich darauf konzentriert, eine Machtstellung gegenüber verschiedenen Rivalen aufzubauen und zu sichern, zunächst auf dem nordamerikanischen Kontinent, dann in der westlichen Hemisphäre und schließlich weltweit.

China will nicht, dass die Vereinigten Staaten die Vormachtstellung innehaben. Man möchte an der Seite der USA gleichberechtigt existieren. Blackwill schrieb 2015, dass Chinas Aufstieg eine Bedrohung für die Dominanz der USA sei.

Er verwies auch auf Gegenmaßnahmen, die die Biden-Regierung nun Schritt für Schritt umsetzt. So legte Blackwill dar, dass die Vereinigten Staaten "neue präferenzielle Handelsvereinbarungen zwischen Freunden und Verbündeten der USA schaffen sollten, um ihre gegenseitigen Vorteile durch Instrumente zu erhöhen, die China bewusst ausschließen".

Es sollte "ein Technologie-Kontrollregime" aufgebaut werden, um Chinas strategische Fähigkeiten zu blockieren. Es gehe darum, die "machtpolitischen Kapazitäten von US-Freunden und Verbündeten an Chinas Peripherie" zu erhöhen. Zudem brauche es verstärkte US-Militärkräfte entlang des asiatischen Randgebiets – trotz aller chinesischen Widerstände dagegen.

Dem ist die Außenpolitik von Biden gefolgt. China weiß das. China setzt sich dagegen zur Wehr.

Aber es ist wichtig zu verstehen – und man sieht es an der Dynamik des Ukraine-Krieges –, dass der Großteil der Welt die USA nicht als globale Vormacht haben will. Der größte Teil der Welt verlangt eine multipolare Welt und steht daher nicht hinter den Sanktionen der Vereinigten Staaten gegen Russland.

Das war auch die Botschaft von Präsident Lula bei seinem Besuch in China, als er zu Präsident Xi Jinping sagte: "Brasilien will ebenfalls Multipolarität, echte Multipolarität, und wir wollen einen Frieden, zum Beispiel im russisch-ukrainischen Krieg, der nicht auf US-Dominanz beruht – also einer Erweiterung der Nato –, sondern auf einem Frieden, der eine multipolare Welt widerspiegelt."

Diese Sichtweise ist eine neue Realität, sie ist überall in der Welt anzutreffen. Das ist ein historischer Wendepunkt, weil die wirtschaftlichen und technologischen Veränderungen ihn dazu machen. Die USA sind nicht mehr die dominierende Weltwirtschaft, und die G7, d. h. die USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich, Italien, Deutschland und Japan, sind von der wirtschaftlichen Größe her sogar kleiner als die BRICS-Länder, d. h. Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika.

Wir leben also tatsächlich bereits in einer multipolaren Welt, aber ideologisch befinden wir uns in einem Konflikt.

Jeffrey Sachs, Sie haben die BRICS erwähnt. Die BRICS-Bank, die sich jetzt in China befindet – und Präsident Lula hat Dilma Rousseff zur Leiterin der BRICS-Bank ernannt –, welche Bedeutung hat sie im Hinblick auf die Multipolarität der Weltwirtschaft? Hat die BRICS-Allianz das Potenzial, eine alternative Hauptwährung zum Dollar zu schaffen? Was wären die Auswirkungen auf das Weltgeschehen?

Jeffrey Sachs: Das sind zentrale Entwicklungen. Tatsächlich ziehen sich die Vereinigten Staaten auf diesem Feld zurück – zum Teil unwissentlich, unsere Politiker verstehen das nicht, aber wir ziehen uns von der Weltfinanz- und Währungsszene zurück und öffnen einen Raum für eine völlig andere Art der internationalen Finanzen.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Die USA sind der Gründer der Weltbank. Aber jetzt will der US-Kongress kein neues Geld in die Weltbank stecken. Und deshalb ist die Weltbank eigentlich eine recht kleine Institution.

Sie hat einen großen Namen, aber sie ist heute eine ziemlich winzige Institution im Finanzsystem insgesamt. Die USA möchten kein Geld mehr hineinstecken. Der Kongress sagt: "Nein. Warum sollten wir unser Geld international verschwenden?".

Also sagten sich China und die anderen BRICS-Staaten: "OK, wir gründen unsere eigene Entwicklungsbank". Daraus entstand die Neue Entwicklungsbank, manchmal auch BRICS-Bank genannt, mit Sitz in Shanghai.

Und das ist nur eine der Institutionen, die die Finanzszene tatsächlich verändern. Es gibt die Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB), die ihren Sitz in Beijing hat.

Wie Präsident Lula auch im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg sagte, findet eine Abkehr vom Dollar statt, von dem die Vereinigten Staaten bisher dachten: "Das ist unser Trumpf. Das ist unser letztes "Ass im Ärmel", denn wir können Sanktionen verhängen und unsere finanzielle Kontrolle ausüben, um andere Länder in Schach zu halten."

Aber andere Länder sagen nun: "Kein Problem. Wir werden in Renminbi handeln. Wir werden in Rubel handeln. Wir werden in Rupien handeln. Wir werden in unseren eigenen nationalen Währungen handeln." Und sie haben es schnell geschafft, alternative Institutionen zu schaffen, um genau das zu tun.

Die Vereinigten Staaten legten nach: "Wir werden eure Reserven konfiszieren. Das werden wir tun, wenn ihr nicht mitmacht." Und die anderen Länder sagen: "Wisst ihr, wenn ihr über die UN geht und wirklich multilaterale Regeln aufstellen wollt, sind wir auf eurer Seite. Aber wenn ihr die Regeln einfach durchsetzen wollt, werden wir nicht mitmachen."

Wir haben den merkwürdigen Ausdruck, der sich "regelbasierte internationale Ordnung" nennt. Die US-Regierung benutzt ihn jeden Tag. Aber was bedeutet er? Wer bestimmt die Regeln?

Die meisten Menschen der Welt wollen Regeln, die in einem multipolaren oder multilateralen Rahmen aufgestellt werden, und nicht Regeln, die von den Vereinigten Staaten und einigen ihrer Freunde und Verbündeten aufgestellt werden.