Jens Spahn attestiert der Ampelkoalition ein Penis-Problem
CDU geht in den Kulturkampf: Sie will weniger Wokeness und mehr Normalität. Vorbild sind Republikaner in den USA? Warum das ein gefährliches Manöver ist.
Welcher Weg führt die Christdemokraten zurück zur Macht? Von der Unzufriedenheit mit der Bundesregierung profitiert die AfD, nicht die CDU.
Die Rolle als bürgerliche Opposition macht ihr die FDP streitig, die dazu über die besseren Mittel verfügt: Die Liberalen besetzen das Finanz- und Verkehrsressort und bremsen von dort wichtige Regierungsprojekte aus. Die Ampel zeigt dauerhaft rot und grün gleichzeitig, nichts geht voran – und dennoch kommt die CDU in den Meinungsumfragen nicht nach oben.
"Strategie Rechtspopulismus"
Da liegt die "Strategie Rechtspopulismus" nahe. Ein Politiker nimmt die Pose als Verteidiger der kleinen Leute ein, appelliert an Ressentiments, vermeidet aber tunlichst die inhaltliche Auseinandersetzung (so gibt er sich keine Blöße).
Wie das geht, führt Jens Spahn in einem Interview mit der Welt am Sonntag vor. Der ehemalige Gesundheitsminister wirft der Regierung vor, einen "Kulturkampf" zu führen und die "Lebensentwürfe" der Deutschen nicht zu respektieren:
Den Leuten wird gesagt: Ihr fahrt das falsche Auto. Ihr habt das falsche Haus, die falsche Heizung! Ja, Ihr habt überhaupt noch ein Haus! Ihr esst das falsche Essen. Ihr habt die falsche Einstellung. … Das ist eine Herabsetzung ihrer Lebensentwürfe, ihrer Lebensleistungen und ihres Blickes auf die Welt.
Jens Spahn, Welt am Sonntag
Soweit nichts Neues. Zwei Passagen in dem sorgfältig ausformulierten Interview müssen aufhorchen lassen.
Selbst die Ansicht, ein Mann hat einen Penis und eine Frau nicht, gilt inzwischen in Teilen der Ampel-Koalition als problematisch (…) Millionen Menschen bekommen von einer großstädtisch geprägten Elite vermittelt, dass sie falsch leben.
Jens Spahn, Welt am Sonntag
Was haben "Frauen mit Penis" mit Viehhaltung, Fleischpreisen, Individualverkehr und Energiegewinnung zu tun? Spahn verrät es nicht. Aber er offenbart seine Bereitschaft, selbst Politik als "Kulturkampf" zu führen und dabei die Kritik an der "Wokeness" zum Leitmotiv zu machen.
Gegen die sogenannte Wokeness
"Wokeness" ist ein Sammelbegriff für die (mehr oder weniger erfolgversprechenden) Versuche, die Gleichberechtigung aller Menschen trotz ihrer unterschiedlichen geschlechtlichen, sexuellen, ethnischen und sonstigen Eigenschaften zu gewährleisten.
"Woke" ist in gewissen Kreisen in den USA geradezu zu einem Schimpfwort geworden – und die Republikanische Partei nutzt das Thema zur Polarisierung.
Kein Politiker spielt auf dieser Klaviatur so wie Ron deSantis, Gouverneur von Florida. "Florida is where woke goes to die!", rief er kürzlich pathetisch bei einem öffentlichen Auftritt. DeSantis verwendet den größeren Teil seiner Zeit darauf, gegen akzeptierende Darstellungen queerer Sexualität in Schulbüchern und Freizeitparks vorzugehen.
Gleichzeitig lebt in dem Bundesstaat jeder achte Bewohner und jedes fünfte Kind in Armut (nach offizieller, beschönigender Definition). Jeder fünfte hat keine Krankenversicherung, noch viel mehr keinen ausreichenden Versicherungsschutz.
Die Arbeits- und Gewerkschaftsrechte sind selbst nach US-Standards erbärmlich. Dennoch inszeniert sich der Gouverneur als Kämpfer für den kleinen Mann – sofern sich dieser von Frauen mit Penis belästigt fühlt.
Politik auf Kosten einer Minderheit
Die Diskriminierung von Transsexualität ist zu einem Kernanliegen der Republikaner geworden. Travestie-Shows werden gesetzlich verboten, und seit Anfang des Jahres wurden mindestens 417 Gesetze in 30 von 50 Staaten verabschiedet, die geschlechtsangleichende Therapien und Behandlungen (gender-affirming care) untersagen.
Dazu zählen unter anderem Pronomensänderungen, medikamentöse Pubertätsblocker, Hormonersatztherapie, Stimmtherapie oder Operationen. In Florida und Texas kann Eltern, die ihre Kinder geschlechtsangleichend behandeln, sogar das Sorgerecht entzogen werden.
Um diese Kampagne von Republikanern und anderen rechten Gruppierungen zu beurteilen, ist ein Blick auf die Zahlen nicht unwichtig. Im Jahr 2021 erhielten in den USA 1.390 Teenager Pubertätsblocker, 4.231 eine Hormonbehandlung. 282 wurde wegen der Diagnose Genderdisphorie die Brust entfernt.
Kurz, das Verbot geschlechtsangleichender Therapien betrifft eine winzige Minderheit – für viele von ihnen sind die Folgen allerdings brutal.
So notwendig eine sorgfältige Abwägung dieser Interventionen ist, es geht mit Sicherheit nicht um ein Kernproblem der US-Gesellschaft. Allerdings eignet es sich wie wenig andere zur Polarisierung und dazu, Volkstümlichkeit darzustellen.
"Ich will so bleiben, wie ich bin … Du darfst!"
Bei dieser Sorte Kulturkampf handelt es sich um "Identitätspolitik": Im Zentrum stehen Wortwahl, Umgangsformen, Symbole.
Die angeblich angegriffene, angeblich schutzbedürftige Identität ist die von eingeborenen, heterosexuellen Kulturchristen, die Familien gründen, ihrer Arbeit nachgehen. Kurz, die ihr Leben weiterführen wollen wie bisher, obwohl die Welt sich gerade tiefgreifend und ziemlich abrupt verändert – eben "Deutschland, aber normal", wie es die AfD formulierte.
Bei dieser Standard-Identität handelt es sich selbstredend um eine Konstruktion – eine Art Anrufung, die das gewünschte politische Subjekt erst herstellt, indem sie materielle Interessengegensätze beschweigt und unterschiedliche kulturelle Eigenheiten zusammenzieht.
Mustergültig führte am 11. Juni das die Kabarettistin Monika Gruber vor, als sie auf der von ihr mitorganisierten Demo gegen das geplante Gebäude-Energie-Gesetz (GEG) eine kurze Rede hielt.
Die Mehrheit will kein Elektroauto, die Mehrheit will auch nicht gendern, die wollen auch nicht gesagt bekommen, dass sie nur zehn Gramm Fleisch pro Tag essen dürfen.
Monika Gruber
Vegane oder nicht-binäre SUV-Fahrer:innen sind da nicht vorgesehen, auch keine homophoben Ökos oder Arbeitslose, keine kinderlose Vegetarier etc.
Identitätspolitik für eine fiktive Mehrheitsgesellschaft
Noch genauer definierte der amtierende bayrische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (FW) den "Normalbürger".
Er beklagte, Bündnis 90 / Die Grünen wollten "Deutschland vernichten", im gleichen Atemzug aber auch den "linksgrünen Gender-Gaga" und "dass man nicht mehr Papa und Mama sagen soll, wo man sich für Kinder rechtfertigen muss".
Unsere Jugend muss weiterhin in der Früh zur Arbeit gehen, anstatt sich auf die Straße zu kleben, muss Häuser bauen, muss Kinder kriegen, muss an die Zukunft glauben dürfen, muss für die Arbeit ordentlich entlohnt werden und nicht am Ende Steuern abführen für diejenigen, die Bürgergeld kriegen, obwohl sie arbeiten könnten.
Hubert Aiwanger
Rechte Identitätspolitik: Vom Interesse zur Kultur
Der Normalbürger protestiert nicht, scheint's, er arbeitet, bekommt Kinder und zieht mit ihnen ins Eigenheim. Um von einer Bevölkerung aus solchen Bürgern und einer "schweigenden Mehrheit" (Gruber) sprechen zu können, ist Homogenisierung nötig.
Deswegen tauchten naheliegende Fragen auf der bemerkenswerten Veranstaltung nicht auf. Zum Beispiel: Wie bekomme ich meine Bude warm (und verursache trotzdem weniger Treibhausgase)? Wie komme ich möglichst schnell zur Arbeit und zurück? Warum kosten Wurst und Fleisch so viel? Wie gewinnen wir nachhaltig Energie, die sich die ganze Bevölkerung leisten kann?
Wer Probleme zu kulturellen Frage erklärt, wechselt das Thema. Der Rechtspopulismus zieht rhetorisch unterschiedliche Interessen zu einer homogenen "schweigenden Mehrheit" zusammen und stellt ihr eine Elite gegenüber, deren Charakter diffus bleibt.
Angeblich dominiert sie Staat, Kultur und Wissenschaft, sie hat komische Ideen und Vorlieben. Aber sie definiert sich gerade nicht über Vermögen oder Kapital. Jens Spahn, der im Frühjahr eine Immobilie in Berlin für immerhin 5,3 Millionen Euro veräußerte, fiele es ansonsten wohl schwer, mit ihr so hart ins Gericht zu gehen.
Von Florida lernen, heißt siegen lernen?
Von Florida lernen heißt siegen lernen, mögen sich CDU-Politiker wie er denken. Vielleicht soll der Flirt mit dem Rechtspopulismus Jens Spahn doch noch zur CDU-Spitzenkandidatur verhelfen, denn Friedrich Merz macht als Oppositionsführer gerade eine schwache Figur. Gefährlich sind solche Manöver allemal – denn der "Kulturkampf von rechts" hat eine Tendenz zur Eskalation.
Er blockiert alle umwelt- und sozialpolitische Initiativen, die den neoliberalen Status quo gefährden könnten. Gleichzeitig schürt er Ressentiments gegen Minderheiten und eine vermeintlich liberale Elite. Angehörige von Funktionseliten nennen andere Angehörige der Funktionselite elitär, weil sie wissen, dass die Bevölkerung die Nase voll hat. Gerade weil aber diese Identitätspolitik deren materiellen Bedürfnisse nicht berührt, muss die Dosis gesteigert werden – siehe Florida.
Einmal an die Macht gelangt haben die Kulturkämpfer Mittel in der Hand, ihrerseits die Bevölkerung "umzuerziehen", bestimmte Gruppen zu drangsalieren – und unter die Räder kommen potenziell alle, die keine "Normalbürger" sind.