John Mearsheimer über den Ukraine-Krieg: Die Zukunft sieht düster aus
- John Mearsheimer über den Ukraine-Krieg: Die Zukunft sieht düster aus
- Die Bedrohung aus Sicht der Ukraine und ds Westens
- Die militärische Lage
- Die Aussichten auf ein Friedensabkommen?
- Szenarien, falls ein tragfähiges Friedensabkommen ausbleibt
- Fazit: Die Rolle des Westens
- Kommentar
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Die Hauptakteure halten an maximalistischen Zielen fest, weswegen ein praktikabler Friedensvertrag unmöglich erscheint – die jüngste Veröffentlichung des US-Politikwissenschaftlers und ein Kommentar.
Für den Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer erscheint ein sinnvolles Friedensabkommen in der nächsten Zeit fast unmöglich; das beste Ergebnis wäre ein eingefrorener Konflikt, das schlimmste ein Atomkrieg. In seinen weiter unten folgenden Ausführungen begründet er, warum er glaubt, dass Russland den Krieg letztlich gewinnen wird.
Nationalismus auf beiden Seiten und das fehlende Vertrauen erschweren seiner Auffassung nach mögliche Friedensverhandlungen, sodass der Krieg weitergehen und die Ukraine noch mehr zerstören wird. Für Mearsheimer ist diese Katastrophe von der unverantwortlichen US-Politik der Nato-Erweiterung mitverursacht worden und hätte leicht vermieden werden können.
Seit Beginn des Ukraine-Krieges habe ich mehrfach auf die klarsichtigen und mutigen Analysen über den Ukraine-Krieg des renommierten US-Politikwissenschaftlers hingewiesen. Seit vielen Jahren versucht er, in Video-Interviews und mit wissenschaftlichen Fachartikeln dem Mainstream in den USA und dem Westen eine realistische Einschätzung der Ukrainekrise entgegenzusetzen.
Beispiele aus 2022 habe ich hier angeführt.1
Jetzt ist von ihm ein weiterer "Augenöffner" erschienen, bei dem es sich um einen Text handelt, der am 23.06.2023 unter dem Titel "The darkness ahead: Where the Ukraine war is headed" (zu Deutsch: "Die Dunkelheit, die vor uns liegt: Wohin der Ukraine-Krieg steuert") auf der US-Website Substack veröffentlicht worden ist.2
Es lohnt sich, diesen umfangreichen Text zu lesen, der hier Leserinnen und Lesern von Telepolis möglichst vollständig vorgestellt wird. Anschließend werde ich auf eine wichtige inhaltliche Ergänzung hinweisen und einige Einschätzungen von Mearsheimer kurz kommentieren.
Der Artikel von John J. Mearsheimer wurde mit seiner ausdrücklicher Erlaubnis ins Deutsche übertragen, wobei der Autor dieses Beitrags mehrere Zwischenüberschriften ergänzt hat. Im Original finden sich umfangreiche Verweise auf den zugehörigen Anhang am Schluss.
Weiterhin hat sich der Autor dieses Beitrags erlaubt, den Text Mearsheimers um einen längeren Abschnitt zu kürzen, in dem es um spezielle militärische Aspekte des Ukraine-Krieges geht. Wo diese Kürzung erfolgt ist, ist in der Übersetzung markiert. (Der gekürzte Abschnitt kann im Original im Bereich der Hinweis-Ziffern 33 bis 41 leicht aufgefunden werden.)
John J. Mearsheimer: "Die Dunkelheit, die vor uns liegt: Wohin der Ukraine-Krieg steuert"
In diesem Beitrag wird untersucht, wie sich der Ukraine-Krieg voraussichtlich entwickeln wird. Ich werde mich mit zwei Hauptfragen befassen.
Erstens: Ist ein sinnvolles Friedensabkommen möglich? Meine Antwort ist nein. Wir befinden uns jetzt in einem Krieg, in dem sich beide Seiten – die Ukraine und der Westen auf der einen Seite und Russland auf der anderen Seite – gegenseitig als existentielle Bedrohung sehen, die es zu besiegen gilt. Angesichts der allseitig maximalistischen Ziele ist es fast unmöglich, einen praktikablen Friedensvertrag zu erreichen.
Darüber hinaus haben beide Seiten unüberbrückbare Differenzen in Bezug auf das Territorium und das Verhältnis der Ukraine zum Westen. Das bestmögliche Ergebnis wäre ein eingefrorener Konflikt, der sich jedoch jederzeit wieder leicht in einen heißen Krieg verwandeln könnte. Das schlimmstmögliche Ergebnis wäre ein Atomkrieg, der zwar nicht wahrscheinlich ist, aber auch nicht ausgeschlossen werden kann.
Zweitens: Welche Seite wird den Krieg wahrscheinlich gewinnen? Russland wird den Krieg letztlich gewinnen, auch wenn es die Ukraine nicht entscheidend besiegen wird.
Mit anderen Worten, Russland wird nicht die gesamte Ukraine erobern, was notwendig wäre, um drei von Moskaus Zielen zu erreichen: den Sturz des Regimes, die Entmilitarisierung des Landes und den Abbruch der Sicherheitsbeziehungen Kiews mit dem Westen.
Aber am Ende wird es einen großen Teil des ukrainischen Territoriums annektieren und die Ukraine in einen dysfunktionalen Rumpfstaat verwandeln. Mit anderen Worten, Russland wird einen hässlichen Sieg erringen.
Drei Vorbemerkungen
Bevor ich diese Fragen direkt anspreche, sind drei Vorbemerkungen angebracht.
Zunächst einmal: Ich versuche vorherzusagen, was in der Zukunft geschehen wird. Das ist angesichts der Tatsache, dass wir in einer unsicheren Welt leben, nicht einfach. Ich behaupte also nicht, dass ich die Wahrheit gefunden habe. In der Tat können sich einige meiner Einschätzungen als falsch erweisen.
Außerdem sage ich nicht, was ich gerne sehen würde. Ich drücke nicht die Daumen für die eine oder andere Seite. Ich sage Ihnen lediglich, was meiner Meinung nach passieren wird, wenn der Krieg voranschreitet.
Schließlich rechtfertige ich weder das russische Verhalten noch die Handlungen eines der am Konflikt beteiligten Staaten. Ich erkläre nur ihre Handlungen.
Lassen Sie mich nun zur Substanz meiner Ausführungen kommen.
Wo wir heute stehen
Um zu verstehen, wohin sich der Ukraine-Krieg entwickeln wird, ist es notwendig, zunächst die aktuelle Situation zu bewerten. Es ist wichtig zu wissen, wie die drei Hauptakteure – Russland, Ukraine und der Westen – über ihr Bedrohungsumfeld denken und ihre Ziele konzipieren.
Wenn wir über den Westen sprechen, sprechen wir jedoch hauptsächlich über die Vereinigten Staaten, da ihre europäischen Verbündeten ihre Befehle aus Washington erhalten, wenn es um die Ukraine geht.
Es ist auch wichtig, die aktuelle Situation auf dem Schlachtfeld zu verstehen. Lassen Sie mich also mit dem Bedrohungsumfeld Russlands und seinen Zielen beginnen.
Russlands Bedrohungslage
Seit April 2008 ist klar, dass die russische Führung die Bemühungen des Westens, die Ukraine in die Nato aufzunehmen und sie zu einem westlichen Bollwerk an den Grenzen Russlands zu machen, allseits als eine existentielle Bedrohung betrachtet.
In der Tat haben Präsident Putin und seine Gefolgsleute diesen Punkt in den Monaten vor der russischen Invasion wiederholt betont, als ihnen klar wurde, dass die Ukraine fast de facto Mitglied der Nato ist. Seit Beginn des Krieges am 24. Februar 2022 hat der Westen dieser existentiellen Bedrohung eine weitere Ebene hinzugefügt, indem er eine neue Reihe von Zielen verabschiedet hat, die die russische Führung als äußerst bedrohlich empfinden muss.
Ich werde weiter unten mehr über die Ziele des Westens sagen, aber es genügt hier zu sagen, dass der Westen entschlossen ist, Russland zu besiegen und es aus der Reihe der Großmächte zu verdrängen, wenn nicht einen Regimewechsel herbeizuführen oder sogar ein Auseinanderbrechen Russlands auszulösen, wie es bei der Sowjetunion 1991 der Fall war.
In seiner großen Rede, die Putin im vergangenen Februar (2023) hielt, betonte er, dass der Westen eine tödliche Bedrohung für Russland sei.
"In den Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion", sagte er, "hat der Westen nie aufgehört zu versuchen, die postsowjetischen Staaten in Brand zu stecken und vor allem Russland als den größten überlebenden Teil der historischen Gebiete unseres Staates zu vernichten. Sie ermutigten internationale Terroristen, uns anzugreifen, provozierten regionale Konflikte entlang unserer Grenzen, ignorierten unsere Interessen und versuchten, unsere Wirtschaft einzudämmen und zu behindern."
Er betonte weiter: "Die westliche Elite macht keinen Hehl aus ihrem Ziel, nämlich, ich zitiere, 'Russlands strategische Niederlage'. Was bedeutet das für uns? Das bedeutet, dass sie planen, uns ein für alle Mal zu erledigen." Putin fuhr fort: "Das stellt eine existentielle Bedrohung für unser Land dar."
Die russische Führung sieht das Regime in Kiew auch als Bedrohung für Russland, nicht nur, weil es eng mit dem Westen verbündet ist, sondern auch, weil dieses Regime als Nachkomme der faschistischen Streitkräfte der Ukraine angesehen wird, die im 2. Weltkrieg an der Seite Nazideutschlands gegen die Sowjetunion gekämpft haben.
Russlands Ziele
Russland muss diesen Krieg gewinnen, da es glaubt, dass sein Überleben bedroht ist. Aber wie wird dieser Sieg wahrscheinlich ausehen?
Das ideale Ergebnis vor Beginn des Krieges im Februar 2022 bestand darin, die Ukraine in einen neutralen Staat zu verwandeln und den Bürgerkrieg im Donbass beizulegen, in dem die ukrainische Regierung gegen ethnische Russen und russischsprachige Menschen antrat, die eine größere Autonomie, wenn nicht sogar eine Unabhängigkeit für ihre Region wollten.
Es scheint, dass diese Ziele im ersten Monat des Krieges noch realistisch waren und tatsächlich die Grundlage für die Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau im März 2022 in Istanbul bildeten. Hätten die Russen diese Ziele damals erreicht, wäre der jetzige Krieg entweder verhindert oder schnell beendet worden.
Aber ein Deal, der Russlands Ziele befriedigt, ist jetzt nicht mehr in Sicht. Die Ukraine und die Nato sind auf absehbare Zeit eng miteinander verbunden, und keiner von beiden ist bereit, die ukrainische Neutralität zu akzeptieren.
Darüber hinaus ist das Regime in Kiew ein Gräuel für die russische Führung, die es loswerden will. Sie sprechen nicht nur von einer "Entnazifizierung", sondern auch von einer "Entmilitarisierung" der Ukraine, zwei Ziele, die vermutlich die Eroberung der gesamten Ukraine, die Erzwingung einer Kapitulation ihrer Streitkräfte und die Installation eines russlandfreundlichen Regimes in Kiew erfordern würden.
Ein solcher entscheidender Sieg wird aus verschiedenen Gründen wahrscheinlich nicht eintreten.
Die russische Armee ist nicht groß genug für eine solche Aufgabe, die wahrscheinlich mindestens zwei Millionen Mann erfordern würde. Tatsächlich hat die bestehende russische Armee Schwierigkeiten, den gesamten Donbass zu erobern.
Darüber hinaus würde der Westen enorme Anstrengungen unternehmen, um zu verhindern, dass Russland die gesamte Ukraine überrennt. Schließlich würden die Russen am Ende riesige Teile des Territoriums besetzen, das stark von ethnischen Ukrainern bevölkert ist, die die Russen hassen und sich der Besatzung erbittert widersetzen würden. Der Versuch, die gesamte Ukraine zu erobern und sie dem Willen Moskaus zu unterwerfen, würde mit Sicherheit in einer Katastrophe enden.
Abgesehen von der Rhetorik über die Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine besteht Russlands konkretes Ziel darin, einen großen Teil des ukrainischen Territoriums zu erobern und zu annektieren und gleichzeitig die Ukraine in einen dysfunktionalen Rumpfstaat zu verwandeln.
Damit wäre die Fähigkeit der Ukraine, Krieg gegen Russland zu führen, stark eingeschränkt und es wäre unwahrscheinlich, dass sie sich für eine Mitgliedschaft in der EU oder der Nato qualifizieren würde. Darüber hinaus wäre eine zerbrochene Ukraine besonders anfällig für russische Einmischung in ihre Innenpolitik. Kurz gesagt, die Ukraine wäre keine westliche Bastion an der Grenze zu Russland mehr.
Wie würde dieser dysfunktionale Rumpfstaat aussehen? Moskau hat die Krim und vier weitere ukrainische Oblaste – Donezk, Cherson, Luhansk und Saporoschje – offiziell annektiert, die zusammen etwa 23 Prozent des gesamten ukrainischen Territoriums ausmachen, bevor die Krise im Februar 2014 ausbrach.
Die russische Führung hat betont, dass sie nicht die Absicht hat, diese Gebiete aufzugeben, von denen Russland ja auch einige noch nicht ganz kontrolliert. Tatsächlich gibt es Grund zu der Annahme, dass Russland zusätzliches ukrainisches Territorium annektieren wird, wenn es über die militärischen Fähigkeiten verfügt, dies zu angemessenen Kosten zu tun.
Es ist jedoch schwer zu sagen, wie viel zusätzliches ukrainisches Territorium Moskau annektieren will, wie Putin selbst deutlich macht.
Das russische Denken dürfte von drei Berechnungen beeinflusst werden.
Moskau hat einen starken Anreiz, ukrainisches Territorium, das stark von ethnischen Russen und russischsprachigen Menschen bevölkert ist, zu erobern und dauerhaft zu annektieren.
Es wird diese vor der ukrainischen Regierung schützen wollen, die allem Russischen gegenüber feindlich gesinnt ist, und sicherstellen, dass es nirgendwo in der Ukraine wieder einen Bürgerkrieg gibt, wie er zwischen Februar 2014 und Februar 2022 im Donbass stattfand.
Gleichzeitig wird Russland die Kontrolle über Gebiete vermeiden wollen, die größtenteils von feindlichen ethnischen Ukrainern bevölkert sind, was die weitere russische Expansion erheblich einschränkt.
Um die Ukraine in einen dysfunktionalen Rumpfstaat zu verwandeln, muss Moskau schließlich erhebliche Teile des ukrainischen Territoriums einnehmen, damit es gut positioniert ist, um dessen Wirtschaft erheblichen Schaden zuzufügen. Die Kontrolle der gesamten ukrainischen Küste entlang des Schwarzen Meeres würde Moskau beispielsweise einen erheblichen wirtschaftlichen Einfluss auf Kiew verschaffen.
Diese drei Überlegungen deuten darauf hin, dass Russland wahrscheinlich versuchen wird, die vier Oblaste – Dnipropetrowsk, Charkiw, Mykolajiw und Odessa – zu annektieren, die unmittelbar westlich der vier bereits annektierten Oblaste Donezk, Cherson, Luhansk und Saporoschje liegen. In diesem Fall würde Russland etwa 43 Prozent des ukrainischen Territoriums aus der Zeit vor 2014 kontrollieren.
Dmitri Trenin, ein führender russischer Stratege, schätzt, dass die russische Führung versuchen würde, noch mehr ukrainisches Territorium zu erobern – in der Nordukraine könnte Russland nach Westen bis zum Fluss Dnjepr vorzudringen und den Teil von Kiew einzunehmen, der am Ostufer dieses Flusses liegt.
Er schreibt, dass "ein logischer nächster Schritt" nach der Eroberung der gesamten Ukraine von Charkiw bis Odessa "darin bestünde, die russische Kontrolle auf die gesamte Ukraine östlich des Flusses Dnjepr auszudehnen, einschließlich des Teils von Kiew, der am Ostufer dieses Flusses liegt.
In diesem Fall würde der ukrainische Staat auf die zentralen und westlichen Regionen des Landes schrumpfen."