John Mearsheimer über den Ukraine-Krieg: Die Zukunft sieht düster aus

Seite 6: Fazit: Die Rolle des Westens

Es sollte inzwischen klar sein, dass der Ukraine-Krieg eine enorme Katastrophe ist, die wahrscheinlich nicht schnell enden wird, und wenn dies trotzdem der Fall sein sollte, wird das Ergebnis kein dauerhafter Frieden sein.

Nun ein paar Worte darüber, wie der Westen in diese schreckliche Situation geraten ist.

Die gängige Meinung über die Ursprünge des Krieges ist, dass Putin am 24. Februar 2022 einen unprovozierten Angriff startete, der durch seinen großen Plan motiviert war, ein größeres Russland zu schaffen. Die Ukraine, so heißt es, war das erste Land, das er erobern und annektieren will, aber würde nicht das letzte sein.

Wie ich bereits mehrfach gesagt habe, gibt es keine Beweise, die diese Argumentation stützen, und es gibt sogar starke Hinweise, die dieser Sichtweise direkt widersprechen.

Es steht außer Frage, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist, aber die letztendliche Ursache des Krieges war die Entscheidung des Westens – und hier sprechen wir hauptsächlich von den Vereinigten Staaten –, die Ukraine zu einem westlichen Bollwerk an der Grenze zu Russland zu machen.

Das Schlüsselelement dieser Strategie war der Plan, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, ein Schritt, den nicht nur Putin, sondern das gesamte russische außenpolitische Establishment als existentielle Bedrohung ansah, die beseitigt werden musste.

Es wird oft vergessen, dass zahlreiche amerikanische und europäische Politiker und Strategen von Anfang an gegen die Nato-Erweiterung waren, weil sie verstanden, dass die Russen sie als Bedrohung ansehen würden und dass diese Politik schließlich zu einer Katastrophe führen würde.

Auf der Liste der Gegner der Nato-Erweiterung stehen Namen wie George Kennan, ebenso Präsident Clintons Verteidigungsminister William Perry wie auch sein Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff, General John Shalikashvili, weiterhin Paul Nitze, Robert Gates, Robert McNamara, Richard Pipes und Jack Matlock, um nur einige zu nennen.

Auf dem Nato-Gipfel in Bukarest Im April 2008 stellten sich sowohl der französische Präsident Nicolas Sarkozy als auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel gegen den Plan von Präsident George W. Bush, die Ukraine in das Bündnis aufzunehmen. Merkel sagte später, ihre Ablehnung beruhe auf ihrer Überzeugung, dass Putin dies als "Kriegserklärung" interpretieren würde.

Natürlich hatten die Gegner der Nato-Erweiterung Recht, aber sie verloren den Kampf und die Nato dehnte sich schrittweise nach Osten aus, was die Russen schließlich dazu veranlasste, einen Präventivkrieg zu beginnen.

Hätten die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten nicht im April 2008 damit begonnen, die Ukraine in die Nato aufzunehmen oder wären sie bereit gewesen, Moskaus Sicherheitsbedenken nach dem Ausbruch der Ukraine-Krise im Februar 2014 Rechnung zu tragen, gäbe es heute wahrscheinlich keinen Krieg in der Ukraine und die Grenzen der Ukraine sähen so aus wie bei der Unabhängigkeit 1991.

Der Westen hat einen kolossalen Fehler gemacht, für den er und viele andere noch lange einen hohen Preis werden zahlen müssen.

Ende der Übersetzung des Artikels von John Mearsheimer vom 23.06.2023

Eine aktuelle Ergänzung

Hingewiesen sei noch auf ein Video-Interview mit John Mearsheimer, das ins Deutsche übersetzt worden ist und vor einigen Wochen auf Actvism Munich veröffentlicht wurde. Interviewer ist der Journalist Glenn Greenwald.4

Dieses Gespräch über den Ukraine-Krieg ist eine vertiefende kritische Analyse der Positionen von John Mearsheimer, die er in seinem Artikel vom 23.06.2023 dargestellt hat.