Jubel über Gerichtsurteil: Justiz als Waffe für Mensch und Umwelt?
Haushaltsurteil vs. Klima-Urteil: Umweltverbände setzen verstärkt auf den Rechtsweg statt auf Straßenproteste. Reaktionen zeigen, warum das falsch ist. Ein Kommentar.
Wieder streitet die Bundesregierung über ein Gerichtsurteil. Dieses Mal dreht sich die Auseinandersetzung um die Frage, ob sie Revision gegen das Klima-Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg einlegen soll, statt – wie darin verlangt – Sofortmaßnahmen zum Klimaschutz in den Sektoren Gebäude und Verkehr zu beschließen.
Das Gericht hatte damit einer Klage von Umweltverbänden stattgegeben. Im Kern hat der 11. Senat festgestellt, "dass die Bundesregierung aufgrund der festgestellten Überschreitungen an zulässigen Treibhausgas-Emissionen in den Sektoren Gebäude und Verkehr zu einem Beschluss über ein Sofortprogramm nach § 8 Klimaschutzgesetz verpflichtet ist".
Das nunmehr beschlossene Klimaschutzprogramm 2023 erfülle nach Auffassung des Senats "nicht die Anforderungen an ein Sofortprogramm". Es überprüfe nur anhand einer sektorübergreifenden und mehrjährigen Gesamtberechnung, ob die Klimaschutzziele bis 2030 erreicht werden können.
Ein Sofortprogramm muss dem gegenüber kurzfristig wirksame Maßnahmen enthalten, die die Einhaltung der im Klimaschutzgesetz ausgewiesenen Jahresemissionsmengen für die folgenden Jahre im jeweiligen Sektor sicherstellen.
Aus der Pressemitteilung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg
Neuer Streit in der Koalition
Nun könnte beispielsweise ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen als Sofortprogramm auf den Weg gebracht werden. Damit würden nicht nur schnell umweltschädliche Emissionen gesenkt. Auch die Zahl der Unfälle ginge zurück. Es gibt also viele gute Gründe dafür.
Doch die Autolobby ist weiterhin massiv dagegen – und ein Mann, der viel Verständnis für sie hat, führt das Bundesverkehrsministerium: Volker Wissing. Der FDP-Politiker will nun Revision gegen die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts einlegen und damit wirksame Sofortmaßnahmen zumindest hinauszögern.
Dass bringt die Grünen wieder einmal in Gewissensnöte, denn die wollten sich ja eigentlich als Klimaschützer auf der Regierungsbank profilieren und wurden oft genug von der Autolobby um Wissing überstimmt.
Jetzt könnten sie natürlich mit dem Berliner Urteil im Rücken auf die Einführung des Tempolimits drängen. Doch die Grünen haben sich mit ihren Koalitionspartnern ein Gesetz auf den Weg gebracht, das keine Sektorziele für die Begrenzung der klimaschädlichen Emissionen mehr kennt. Mit viel umweltpolitischer Rhetorik wird aber betont, dass deswegen insgesamt keine zusätzliche Tonne CO2 mehr ausgestoßen werden darf.
Im Kern geht es darum, dass nur noch die mehrjährige sektorenübergreifende Gesamtrechnung ausschlaggebend ist. Das ist ganz im Sinne der Autolobby, weil dann eben bestimmte Sektoren mehr umweltschädliche Stoffe ausstoßen können.
Dieses neue Gesetz würde dann auch das Urteil obsolet werden lassen. Nun könnten die Grünen mit dem Verweis auf dieses Urteil aber die Zustimmung zu der ohnehin bei der Klimabewegung kritisierten Neufassung ablehnen. Damit würden sie allerdings noch mehr Streit in der Koalition provozieren. Nun drängen Wissing und sein Stab zu einer Revision des Gesetzes, weil dann der Druck für sofortiges Verhandeln gemindert wird.
Juristische Klagen statt politisches Handeln
Unter dem Strich muss bilanziert werden, dass auch hier wieder viele Diskussionen um ein Urteil geführt werden, das möglicherweise gar keinen Bestand hat. Auch hier ist wieder festzustellen, dass auch immer mehr zivilgesellschaftliche Organisationen den juristischen Weg gehen, statt auf außerparlamentarischen Druck zu setzen.
So jubelt einer der beteiligten Umweltverbände: "Deutschland nicht auf Klimakurs – Wir haben geklagt". So wird die Hoffnung in die Justiz weiter vorangetrieben. Das aber führt zu einer weiteren Entpolitisierung der außerparlamentarischen Bewegungen.
Wenn sie beispielsweise eine Massenkampagne für eine Geschwindigkeitsbegrenzung initiieren würden, könnten sie auf ein Repertoire öffentlichkeitswirksamer Aktionsformen zurückgreifen. Ein Beispiel wäre ein Aufruf an die Autofahrer, demonstrativ nur noch noch Tempo 100 auf den Autobahnen zu fahren.
Würde eine solche Massenbewegung entstehen, würde das auch die juristischen Entscheidungen beeinflussen. Dafür gibt es viele Beispiele aus den 1970er und 1980er Jahren, als eine starke Anti-AKW-Bewegung auf die Straße gegangen und nicht in erster Linie den Rechtsweg bestritten hat.
Ihre Handlungen hatten allerdings durchaus Einfluss auf die Rechtssprechung. Linke Juristen sagten, dass dich auch Aktionen der außerparlamentarischen Bewegung in die Rechtssprechung einschreiben, weil eben die Justiz den gesamtgesellschaftlichen Diskurs nicht ignorieren kann. Ein gutes Beispiel ist das Brokdorf-Urteil mit dem Mitte der 1980er-Jahre das Demonstrationsrecht gestärkt wurde.
Zuvor hatten aber Tausende dieses Recht in Anspruch genommen und waren eingekesselt worden. Danach bestritten sie den Rechtsweg und schreiben Rechtsgeschichte.
Welche Macht hat die Justiz?
Heute aber setzen manche Umweltverbände Handeln mit juristischen Klagen gleich. Dabei wird der Justiz immer mehr Macht zugesprochen. Während das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg mit seiner Entscheidung zumindest vordergründig den Klimaschutz stärkt, hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil zu den Nachtragshaushaltsgesetz auch viele Maßnahmen des Klimaschutzes zumindest vorerst blockiert.
Nun könnte man wie fast alle Oppositionspolitiker sagen, dass haben sich die Regierungsparteien selber zuzuschreiben mit ihren Versuch, die Schuldenbremse kreativ auszugestalten. Doch hier wird dann so getan, als hätte das Urteil von Vornherein festgestanden. Tatsächlich aber kursieren auch im juristischen Bereich unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten der Schuldenbremse.
Der Ausweg, den die Bundesregierung gewählt hatte, war also längst nicht von vornherein als rechtswidrig zu erkennen. Vielmehr hat sich das Bundesverfassungsgericht zum besonders strikten Gralshüter der Umsetzung der Schuldenbremse aufgeschwungen. Natürlich muss dabei kritisiert werden, dass sich die Politik mit der Einführung der Schuldenbremse wissentlich dieses Korsett übergezogen hat.
Doch ebenso ist eine Justiz zu kritisieren, die immer mehr politische Entscheidungen übernehmen will. Es galt über Jahrhunderte in der bürgerlichen Welt der Spruch, dass Fragen des Fiskalrechts in den Aufgabenbereich der Parlamente fallen. Das war damals ein Abwehrrecht gegen Feudalkräfte, die nach eigenen Gutdünken über Steuern und Finanzen entscheiden wollten.
Müsste heute ein Parlament, dass aus im bürgerlichen Sinne freien Wahlen hervorgegangen ist, nicht auch gegen die Anmaßungen einer Justiz ankämpfen, die selbst in die Auslegung des Budgetrechts eingreift? In vielen Ländern gibt es heute Auseinandersetzungen um die Frage, wie viel Macht eine Justiz über die Politik haben soll.
Vor dem Pogrom der Hamas am 7. Oktober bestimmte genau diese Frage beispielsweise die israelische Innenpolitik. Viele Menschen verteidigten die Justiz in dieser Auseinandersetzung gegen das Bestreben einer rechten Regierung, der Politik mehr Befugnisse zu verschaffen. Aber es waren durchaus nicht nur Anhänger der rechten Regierung, die in den Grundzügen mit der Einschränkung der Macht der Justiz einverstanden waren. Manche warfen jedoch der Regierung mit Recht Eigeninteressen vor.
Wo bleiben außerparlamentarische Stimmen zum Haushaltsurteil?
Wo bleiben aber solche Diskussionen in Deutschland? Es fragt sich, warum vor allem das Urteil zum Nachtragshaushalt mit seinen gravierenden Folgen viel Streit in der Regierungskoalition ausgelöst hat, aber kaum Aktivitäten einer außerparlamentarischen Bewegung. Die müssten sich nun nicht auf eine Kritik an der Macht der Justiz beschränken.
Es könnte eine Bewegung zur Rücknahme der Schuldenbremse initiiert werden, an der sich auch die Gewerkschaften beteiligen könnten, die damals gegen die Einführung dieser Maßnahme waren, weil sie erkannt hatten, dass sie sich im Interesse des Kapitals gegen die Lohnabhängigen und die armen Bevölkerungsteile richtet.
Es ist zwar klar, dass eine solche Kampagne beim gegenwärtigen parlamentarischen Kräfteverhältnis keinen unmittelbaren Erfolg hätte. Sie könnte aber dazu beitragen, dass in der Gesellschaft wieder grundsätzlich über soziale Fragen diskutiert wird, statt mit rechtem Framing vor allem über Migration.
Als Sofortprogramm aber sollte gefordert werden, dass nicht in den Bereichen Klima und Soziales gespart wird, sondern beim Militär. Es war schon schwer verständlich, dass die Organisatorinnen der bundesweiten Demonstration für Abrüstung am 25. November in Berlin diese Frage nicht spätestens nach dem Haushaltsurteil stärker in den Mittelpunkt ihrer Kampagne gestellt haben.
Im Interesse der großen Mehrheit und der jungen Generation müsste gerade jetzt gelten: Streichen bei den Reichen und beim Militär.