Kabinett beschließt "Bürgergeld" – scharfe Kritik von zwei Seiten
Können Erwerbslose jetzt ein entspanntes Leben führen? Das denken zumindest gut abgesicherte Medienschaffende und Verbandsfunktionäre. Sozialverbände sehen es anders.
Das Ampel-Bundeskabinett hat heute grünes Licht für das neue "Bürgergeld" gegeben – eine Reform, die außer der Bundesregierung offenbar kaum jemand richtig gut findet. Kritische Stimmen von links sehen darin eher ein Reförmchen bei dringendem Reformbedarf, während Konservative und Neoliberale kritisieren, dass der Sanktionsdruck auf Erwerbslose zumindest teilweise reduziert wird.
Nach Ansicht des Paritätischen Gesamtverbandes liegt der Regelsatz des Hartz-IV-Nachfolgemodells immer noch um mehr als 150 Euro unter einer armutsfesten Grundsicherung. Alleinstehende sollen ab dem 1. Januar 502 Euro im Monat erhalten – statt wie bisher 449 Euro. Nach Berechnungen des Paritätischen müsste eine armutsfeste Grundsicherung mindestens 678 Euro betragen.
Alles unter 678 Euro "bleibt Hartz IV"
Außerdem fordert Verbandsgeschäftsführer Ulrich Schneider den generellen Verzicht auf Sanktionen gegen Erwerbslose: "Hartz IV wird erst überwunden sein, wenn die Sanktionen weg sind und wenn die Regelsätze keine Armutssätze mehr sind. Alles darunter bleibt Hartz IV – egal, wie man es nennt", sagte er laut einem Bericht des Tagesspiegels.
Ähnlich äußert sich der Armuts- und Reichtumsforscher Christoph Butterwegge. Wenn Hartz IV tatsächlich überwunden werden solle, wie SPD und Grüne seit Jahren behaupten, müsse das bestehende Grundsicherungssystem durch ein anderes ersetzt werden, meint er. "Also Strukturen verändern, statt nur äußerst rigide Detailregelungen zu lockern."
Ja, Sanktionen gibt es noch
Andere nehmen dagegen gar nicht zur Kenntnis, dass es weiterhin Sanktionen geben soll – nur im ersten halben Jahr soll darauf verzichtet werden, wenn Betroffene beispielsweise ein Jobangebot ablehnen. Erst danach darf der Regelsatz um bis zu 30 Prozent gekürzt werden. Mehr Spielraum hatte die Ampel-Regierung hierfür auch nicht: Kürzungen um mehr als 30 Prozent hat das Bundesverfassungsgericht 2019 einen Riegel vorgeschoben.
Der Leiter des RTL-Ressorts "Politik und Gesellschaft", Nikolaus Blome, sieht im Bürgergeld das "Ende der Malocher-Ehre", wie er heute in einem Kommentar schrieb. Unter dieser Ehre versteht er nichts anderes als Schuften für wenig Geld und notfalls auch zu schlechten Bedingungen.
Der Wegfall von Druck und Kürzungen beim Bezug der Lohnersatzleistung werte "besonders die Arbeitsplätze mit einfachen Tätigkeiten ab" und sei "die Abkehr von der alten Malocher-Ehre, wonach nahezu jede Arbeit besser ist als keine Arbeit", so Blome. Wie ein "Malocher" beweisen soll, dass ihm die schlecht bezahlte Plackerei tatsächlich eine Ehre ist, wenn er die Stelle nur unter Druck angenommen hat, bleibt Blomes Geheimnis.
Zwei Millionen offene Stellen – aber mit welchem Profil?
Die Regierung habe sich, "wie es scheint, mit dem grotesken Missverhältnis zwischen der Arbeitslosenzahl und den knapp zwei Millionen offenen Stellen abgefunden", twitterte er. Dass Gastronomen, die während der Pandemie junge Kellnerinnen dauerhaft verloren haben, weil denen die Branche zu unsicher war, nicht unbedingt mit Kusshand 58-jährige Ex-Bauarbeiter mit kaputtem Rücken einstellen, hat sich scheinbar noch nicht bis zur RTL-Redaktion herumgesprochen.
Zuvor hatte sich der Zentralverband des Deutschen Handwerks ähnlich geäußert: Das "Bürgergeld" werde dazu führen, "dass sich für mehr Menschen als bisher das Nicht-Arbeiten mehr lohnt als das Arbeiten", erklärte kürzlich dessen Präsident Hans Peter Wollseifer. Aber selbst Blome räumt angesichts der Inflation ein, dass die 50 Euro Erhöhung beim Regelsatz "bestimmt nicht zu viel" seien.
CDU-Chef Friedrich Merz hatte bereits im Juli die Koalitionspläne zum "Bürgergeld" kritisiert und ebenfalls Erwerbslose der Faulheit verdächtigt: "Ich bin sehr gespannt, ob es überhaupt noch irgendwelche Anreize gibt, in den Arbeitsmarkt zurückzukehren", hatte er am Rande einer Klausurtagung der CSU-Landesgruppe im Bundestag erklärt.
Mit dem Kabinettsbeschluss ist der Weg für die parlamentarischen Beratungen zu der Neuregelung frei.