Katerstimmung nach Lockdown-Parties: Boris Johnson in der Klemme
Für den britischen Premier könnte es eng werden. Mehrere Abgeordnete seiner Partei wollen ihm das Vertrauen entziehen, enge Mitarbeiter werfen reihenweise das Handtuch
Sie haben ihn geliebt, die Menschen in England. Vom ganzen Herzen waren sie vernarrt in den bübischen Charme des Boris Johnson. Geglaubt hat man ihm wenig, aber das war nicht so wichtig. Es sei eben, so die etwas verquere Logik, von Vorteil, einen selbstverliebten Egomanen, der sich aber offenkundig gut durchsetzen kann, auf der eigenen Seite zu haben.
Im Laufe seiner Zeit als Premierminister hat es Johnson allerdings mit atemberaubender Treffsicherheit geschafft, so ziemlich jede Bevölkerungsgruppe gegen sich aufzubringen. Sein längst eindeutig dokumentiertes Party-Verhalten während der verschiedenen Corona-Lockdowns, die übrigens er selbst über das Land verhängt hat, dürfte als sein "Meisterstück" gelten.
Vielen werden die Bilder in Erinnerung sein, der einsam im Chorgestühl von Westminster Abbey sitzenden Queen, die aufgrund der Eindämmungsmaßnahmen allein von ihrem verstorbenen Ehemann Abschied nehmen musste. Nun, Boris Johnson schmiss am Vorabend der Beisetzung von Prinz Philip eine Party. Das wäre möglicherweise selbst den Sex Pistols zu pietätlos erschienen.
Aber Johnson lieferte Skandal um Skandälchen. Ganz Großbritannien befand sich im Lockdown. Kinder die ihren sterbenden Eltern nicht die Hand halten durften. Trauernde, die zur Beerdigung allein am offenen Grab stehen mussten, weil schlicht keine Begegnungen erlaubt waren. Derweil erklang aus Downing Street 10 Abbas 1980er-Jahre Hit, "The Winner Takes It All". Boris Johnson versteht es in jedem Detail, geschmacklos zu sein.
Soweit die Lüge trägt
Immer noch tauchen nahezu täglich Berichte von neuen Festivitäten auf. Partys, von denen Johnson meist nicht bemerkt haben will, dass es Partys waren. An seinem Geburtstag geriet er angeblich in einen "Tortenhinterhalt", den ihm seine feierwütigen Mitarbeiter aufgenötigt haben sollen. Und überhaupt scheint es Johnson sehr schwer zu fallen, soziale Situationen einzuschätzen.
Angetrunkene Menschen mit Prosecco- und Weinflaschen, auf den Tischen Fingerfood und Käse? Ganz klar, hier wird gearbeitet in Downing Street. Dass weit und breit kein Laptop oder Notizblock herumliegt, spricht einfach für die enormen Gedächtnisleistungen des Personals.
Sue Gray, die ehemalige Bardame und Pubbesitzerin, die mittlerweile einflussreiche Spitzenbeamtin ist, wurde mit der Untersuchung der Gelage des Premierministers beauftragt und viele glaubten, dass mit dem Bericht das Fass zum Überlaufen gebracht werden würde.
In der letzten Woche rettete Johnson entweder eine geschickte Finte oder pures Glück (zwei Phänomene die ihn Johnsons Karriere schwer zu unterscheiden sind). Entgegen ihren früheren Beteuerungen aufgrund von vergangenen Covid-Übertretungen niemals Ermittlungen aufzunehmen, begann nun doch die Metropolitan Police mit ihren Untersuchungen.
Sue Grays Report musste somit – weil polizeiliche Ermittlungen betreffend – weitgehend geheim bleiben und damit wäre Johnsons Gegnern tüchtig der Wind aus den Segeln genommen. Die realistische Hoffnung war, die Polizei würde monatelang suchen, nichts rechtes finden und dann vielleicht eine kleine Verwaltungsstrafe zu einem Zeitpunkt aussprechen, wenn alle Welt schon längst wieder andere Sorgen hat.
Mehr noch. Boris Johnson wich im Vorfeld beharrlich der Frage aus, ob denn die Öffentlichkeit jemals den vollständigen Polizeireport zu Gesicht bekommen werden würde. Das seien alles komplizierte Rechtsfragen, womit der Premier ziemlich unumwunden und zum Zorn der Opposition die Frage mit "Nein" beantwortet hatte.
Lediglich ein "Update"
Johnson ergriff seine vielleicht letzte Chance am Schopfe und versuchte so viele Abgeordnete der eigenen Partei wie möglich durch Versprechungen in verschiedenen Politikbereichen gefügig zu machen und damit zumindest den Unmut in den eigenen Reihen zu dämpfen.
Die mit allen Wassern gewaschene Sue Gray durchschaute dies natürlich und das Publikum darf annehmen, ihr gefiel nicht, was sie sah. Deswegen entschied sie sich am 31. Januar, keinen Bericht abzugeben, sondern lediglich ein "Update". Dieses umfasst gerade mal zwölf Seiten, wobei die erste absichtlich leer gelassen wurde.
Der von Gray gelieferte Vorgeschmack bezieht sich auch weniger auf Fakten (die er ohnehin nicht vermitteln darf), sondern konzentriert sich auf Einschätzungen. Es müsse dringend weiter untersucht werden, was bereits vorliegt, liefere ein Bild "schwerwiegender Fehler in der Führung" und ließe mangelnde "Urteilskraft" erkennen.
Der "allgegenwärtige" Alkoholkonsum sei dringend zu überdenken und die Gesamtorganisation des Amtssitzes der Premierminister müsse überarbeitet werden, weil Mitarbeiter nicht wagten, die Missstände anzusprechen. Gray betont ihrerseits die großen Entbehrungen, die der britischen Bevölkerung abverlangt worden waren.
Johnson hatte wohl mit einem Report gerechnet, der aufgrund der (rechtlich nötigen) weitgehenden Geheimhaltung mit nur schwer zu interpretierenden Fakten reichlich gefüllt ist. Stattdessen bekam er eine Moralkeule übergezogen.
Was hilft jetzt noch?
Somit blieben ihm in der folgenden Parlamentsdebatte am 1. und 2. Februar nur zwei Kniffe. Einerseits wiederholte er im Stakkato die Bitte doch auf das Ende der Untersuchungen zu warten. Nur glaubt niemand, dass diese Johnson von schwerwiegendem Fehlverhalten freisprechen wird. Der andere Trick war die versuchte Ablenkung der Debatte auf "wichtigere Politikfelder".
Längst erleben die Tory-Abgeordneten in ihren Wahlkreisen den großen Unmut. Die oppositionelle Labour-Fraktion hat mit dem Spruch "One rule for us, another for the Tories" (beziehungsweise "for Boris Johnson") den größten Wirkungstreffen der letzten Dekade gegen die Konservativen platzieren können.
Der farblose Labour-Vorsitzende Keir Starmer, der mit seriöser Politik gegen Johnsons Bombast-Theater nicht ankam, sitzt nun auf dem hohen Ross. Johnson spürt dies und konterte mit "das Land brauche einen Leader" und keinen "Lawyer", also einen Anführer und keinen Anwalt. Worauf Starmer nur antworten musste, ein "Lawyer" sei allemal besser als ein "Liar", also ein Lügner.
Es wird somit langsam auch rhetorisch eng für Johnson. Als er am Mittwoch vor den traditionellen "Prime Minister’s Questions" die anstehenden Feierlichkeiten zum 70-jährigen Kronjubiläum der Queen im Parlament ankündigte, rief ein Abgeordneter dazwischen "Let’s have a party!". Auch Johnson konnte sich des Lachens kaum mehr erwehren. Es ist zuweilen witzig, eine Witzfigur zu sein, nur passt es auf die Dauer wenig zum Amt des Premierministers.
Händeringend sucht Johnson nach anderen Themen und versucht sich im angeblich drohenden Krieg mit Russland zu profilieren. Die "Global Britain"-Strategie verfängt aber kaum. Es zeigt sich eher, dass die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien allein kaum mehr als bedeutender Machtblock wahrgenommen wird.
Brexit anyone?
Somit verbleibt ein letzter Pfeil im Köcher des Premiers: Brexit. Diesen "Erfolg" hat er sich allerdings schon zu lange auf die Fahnen geschrieben. Labour und der Rest der Insel beginnt allmählich mit dem Schulterzucken.
Zu deutlich zeichnet sich ab, dass die Brexit-Kämpfe mit einem klaren Unentschieden geendet sind. Weder entstand das versprochene "freie" Land, in dem Milch und Honig fließen, noch versank die Insel in einer Jauchegrube. Es lassen sich kaum positive Effekte des Austritts ausmachen, aber ebenso keine gewaltigen Einbrüche. Die Unternehmen haben sich recht gut an die neuen administrativen Schwierigkeiten gewöhnt, wenn auch einige Geschäftsbereiche, wie kleinere Exporteure im Lebensmittelgeschäft, auf der Strecke blieben.
Johnson behauptet dennoch beharrlich den großen Erfolg. Den spüren die Menschen aber nicht und das geschickte Interpretieren von Zahlen wird sie kaum überzeugen. Es lässt sich nämlich sowohl argumentieren, dass Großbritannien die schlechtesten Wachstumsraten der G7 habe – denn die Erholung nach Covid-19 ist langsamer –, als auch die besten (da Großbritannien früher aufsperren konnte, liegt man im Moment noch vorne).
Gerne betont Johnson in diesem Zusammenhang seinen erfolgreichen Kampf gegen das Virus und die gut verlaufene Impfkampagne und verheimlicht dabei, dass die Opferzahlen im Vereinigten Königreich höher als in der EU sind. Auch so ein "Unentschieden", das Boris Johnson nicht die erwünschte Ablenkung liefern kann.
Der Kampfesmut ist Johnson nicht abzusprechen. Er versprach bereits bei den nächsten Parlamentswahlen wieder als Spitzenkandidat antreten zu wollen. Das entscheidet er aber nicht allein und für seine Partei ist er längst eine Last geworden. Die Operation "Saving Big Dog", die dem politischen Gegner nicht den Erfolg einräumen will, den ehemals sehr beliebten Premier abgesägt zu haben, ist bald vielleicht eine "One-Man-Show".
Am Freitag jedenfalls berichteten mehrere Medien, Johnson habe mit der Beraterin Elena Narozanski eine weitere enge Mitarbeiterin verloren. Narozanski, bisher zuständig für Frauenpolitik, Kulturpolitik und Extremismus, habe als fünftes Mitglied der unmittelbaren Regierungsadministrative gekündigt, hieß es unter Berufung auf den Blog Conservative Home. Zuvor hatten bereits vier andere Vertraute die Segel gestrichen.
Wie das Büro des Premierministers in der Londoner Downing Street mitteilte, hatten sowohl Stabschef Dan Rosenfield als auch Johnsons privater Sekretär Martin Reynolds am Mittwoch ihre Kündigung eingereicht. Wiederum zuvor hatten schon die Beraterin Munira Mirza und Kommunikationschef Jack Doyle gekündigt, wie der Spectator und die Daily Mail berichteten.