Kauf dich krank – Wie der Materialismus unser Wohlbefinden zerstört

KI-generierte Illustration zeigt einen sichtlich kranken Mann mit aufgehäuften Waren

KI-generierte Illustration

Reich zu sein, war für die Boomer-Generation kein wichtiges Ziel, für die Gen Y hingegen schon. Das hat aber Nebenwirkungen, von denen man wenig ahnt. Wie wird sich Gen Z verhalten? Essay.

"Die Grundbedürfnisse des Menschen sind unbegrenzt", lernt man bei der Einführung in die Volkswirtschaftslehre und in die Betriebswirtschaftslehre. Entsprechend führen die unbegrenzten Bedürfnisse der Menschen und die Existenz begrenzter Güter zum Spannungsfeld der Güterknappheit.

Das Knappheitsproblem gilt als ökonomisches Grundproblem und seine Lösung als Kern der Wirtschaftswissenschaft.

Ein bisschen Werbung

Die Grundannahme der unbegrenzten Bedürfnisse des Menschen korrespondiert geradezu perfekt mit der Produktionsweise des Kapitalismus, der sich anschickt, möglichst jedes nur erdenkliche Bedürfnis zu befriedigen, wenn man nur das nötige Kleingeld mitbringt.

Entsprechend verbreitet ist auch die Annahme, der Kapitalismus sei die natürliche Wirtschaftsform, weil er schlicht der Natur des Menschen entspricht, die seinerseits von Egoismus und unbegrenzten Bedürfnissen gekennzeichnet ist.

Ein erster Hinweis, dass die unbegrenzten Bedürfnisse des Menschen, die der Kapitalismus fleißig befriedigen kann, nicht ganz so natürlich sind, offenbart einen Blick auf das Werbe-Budget.

Eine aktuelle Studie berechnet, dass sich die Ausgaben für Werbung weltweit im kommenden Jahr über eine Billion US-Dollar belaufen werden und sich bis 2028 im Vergleich zu 2020 verdoppeln.

Zum Vergleich zu der zarten Summe von einer Billion Euro: Gemäß den Berechnungen von Oxfam sind 37 Milliarden Euro pro Jahr nötig, um in wenigen Jahren den Hunger weltweit zu beenden. Nicht einmal vier Prozent des Werbe-Budgets.

Es gibt aber auch eine Reihe sehr offener Aussagen von Menschen, die es aus erster Hand wissen müssen, inwiefern sich der Kapitalismus auf die unbegrenzten Bedürfnisse des Menschen verlassen kann oder Sorgen über Absatzmärkte angesagt sind.

Der Soziologe Don Slater betont ausdrücklich: "Die Bedürfnisse dürfen kein Ende haben."

Wohlgemerkt: Menschliche Bedürfnisse sind nicht per Definition unbegrenzt, weil dies schlicht die Natur des Menschen ist, sondern sie "dürfen kein Ende haben." Slater schlussfolgert: "(Das) setzt voraus, dass unsere Bedürfnisse einerseits unstillbar sind, dass wir aber stets erwarten, sie durch Waren befriedigt zu bekommen."

Edward Bernays, Erfinder der Public Relation und Neffe, Autor des Klassikers "Propaganda" und Neffe von Sigmund Freud, forderte:

Während in der durch kleine Produktionseinheiten und Handarbeit geprägten Ökonomie, die für das letzte Jahrhundert typisch war, die Nachfrage das Angebot schuf, muss für das Angebot heute aktiv die nötige Nachfrage geschaffen werden. (…)

Wir müssen Amerika von einer Kultur der Notwendigkeiten zu einer der Wünsche verändern. Den Menschen muß beigebracht werden, etwas zu begehren, neue Dinge haben zu wollen, noch bevor die alten vollständig verbraucht sind. Wir müssen eine neue Mentalität in Amerika formen, in der die Wünsche der Menschen ihre Notwendigkeiten überlagern.

Auch der amerikanische Marketingguru Victor Lebow nahm kein Blatt vor den Mund:

Unsere außerordentlich produktive Wirtschaft erfordert, dass wir den Konsum zu einem Lebensstil machen, dass wir Kauf und Nutzung von Waren und Ritualen umformen, dass wir spirituelle und Ich-Bedürfnisse im Konsum ausleben. Wir müssen konsumieren, verbrauchen, abtragen und ersetzen, und das in ständig wachsendem Maß.

Veränderte materialistische Lebenseinstellung

Die Notwendigkeit für die Konsumproduktion des Kapitalismus von Bedürfnissen, die "kein Ende haben dürfen", spiegelt sich in einer materialistischen Lebenseinstellung. Die Psychologen Ed Diener und Robert Biswas-Diener definieren:

Materialismus bedeutet einfach ausgedrückt, dass man sich mehr nach Geld und materiellen Gütern sehnt als nach anderen Dingen, wie Liebe oder Freizeit.

Eine ganze Reihe von Studien deutet darauf hin, dass eine materialistische Lebenseinstellung zunehmend verbreitet ist. Reich zu sein, war für weniger als die Hälfte der Babyboomer ein wichtiges Lebensziel. Aber für 70 Prozent der in der Generation X (geboren zwischen 1965 und 1980) und sogar für drei Viertel der Generation Y (geboren zwischen 1980 und 1990).

In Deutschland ist im Jahr 2014 das Ziel "sich schöne Dinge leisten können" für knapp drei Viertel eine Hauptmotivation für das Studium. Im Jahr 1995 war dies nicht einmal einem Drittel wichtig. Aktuelle Studien zur Generation Z fallen diesbezüglich allerdings widersprüchlich aus.

Gesundheit und Wohlbefinden

Gegenwärtig ist die Sprache voll von Redewendungen, die einen scheinbaren positiven Zusammenhang zwischen Konsum und Wohlbefinden herstellen: "Kauflaune der Deutschen hellt sich weiter auf", "Konsumklima wird besser: Vor allem Jüngere wieder optimistischer" oder das "Konsumklima (ist) eingetrübt".

Es ist offensichtlich: Geht es Menschen gut, so gehen sie erst mal shoppen und demonstrieren ihren Lebensoptimismus mit einem offenen Portemonnaie.

Einen Zusammenhang zwischen einer materialistischen Lebenseinstellung und Wohlbefinden kann die Wissenschaft aber keineswegs belegen. Im Gegenteil. Zahlreiche Studien kommen zum gegenteiligen Ergebnis. Hier ein Gesamtüberblick.

Eine materialistische Lebenseinstellung:

Das ist ein recht langer Beipackzettel möglicher Nebenwirkungen einer Lebenseinstellung, die oft leichthin als natürlich verkündet wird. Oder verkündet werden muss, damit der Absatzmarkt stimmt.

Gene mit Risiko

Ein Grund für den Einfluss der Lebenseinstellung auf die Gesundheit findet sich in der Epigenetik. 53 Gene, die bei chronischen, langfristigen Entzündungen mitwirken, werden als sogenannte Risikogene bezeichnet. Das Besondere und Gefährliche: Die durch sie verursachten Entzündungsreaktionen bleiben oft unbemerkt, bis sie sich in Form von Krebsleiden, Herzinfarkten, Schlaganfällen und Demenz manifestieren.

Bekanntlich ungesunde Verhaltensweisen wie Rauchen, Alkohol und Stress aktivieren diese Risikogene. Das dürfte kaum etwas Überraschendes sein.

Neuerdings wurde aber auch entdeckt, dass die Lebenseinstellung ebenfalls Einfluss auf die Aktivität der Risikogene hat. (Der neue Forschungszweig, der die Auswirkungen unseres Denkens und Handelns auf die Gene untersucht, wird als "Social Genomics" bezeichnet.)

Der Arzt und Psychiater Joachim Bauer schreibt hierzu:

Die Entdeckung, dass die innere Grundeinstellung, die ein Mensch gegenüber seinem Leben und seinen Mitmenschen einnimmt, die Aktivität von Genen beeinflusst und sich auf das Erkrankungsrisiko auswirkt, war ein Durchbruch und eine echte Sensation.

Eine Lebenseinstellung, die materialistische Ziele verfolgt, aktiviert die Risikogene und hat damit direkt negative Folgen für die Gesundheit. Daher darf man mit Fug und Recht sagen, dass der Psychoanalytiker und Philosoph Erich Fromm schon vor vielen Jahrzehnten im Hinblick auf den Kapitalismus aus gutem Grunde warnte, "eine gesunde Wirtschaft (ist) nur um den Preis kranker Menschen möglich".

Perfides Produktionsziel

Ein Grund für die negative Auswirkung einer materialistischen Lebenseinstellung auf das menschliche Wohlbefinden dürfte in der Produktionsweise des Kapitalismus und der damit einhergehenden Konsumkultur liegen.

So erklärte der Erfinder und Unternehmer Charles Kettering auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise 1929:

Der Schlüssel zum wirtschaftlichen Wohlstand ist die organisierte Schaffung von Unzufriedenheit. (...) Wenn alle zufrieden wären, würde niemand das neue Produkt kaufen wollen.

Daher sein wohlmeinender Ratschlag: "Halten Sie den Kunden unzufrieden."

Geraint Anderson, Ex-Trader und Insider der Londoner City, der unter dem Namen "Cityboy" längere Zeit eine anonyme Kolumne über das Leben der Finanzwelt verfasste und sich dann mit dem Erscheinen seines Buches "Cityboy" zu Erkennnen gab, bestätigt, dass Ketterings Forderung, die sehr deutlich mit den eingangs beschriebenen Motivationen der Produktionsweise im Kapitalismus übereinstimmt, auch heute noch gilt:

Der Trick an der Sache ist, die Menschen so unzufrieden wie möglich zu machen, denn nur dann geben sie ihr Geld dafür aus, wieder glücklicher und attraktiver zu werden. Das Letzte, was wir wollen, ist, dass die Leute rundum zufrieden sind, denn dann behalten sie ihr altes Auto und das ganze System bricht in sich zusammen.

Erfolg und Unzufriedenheit

Studien belegen, dass diese Motivation des Kapitalismus offenbar sehr erfolgreich ist. Die Menschen mit einer materialistischen Lebenseinstellung, die also besonders empfänglich für die schöne bunte Welt des Kapitalismus sind, leiden tatsächlich unter einer hohen Unzufriedenheit und fehlendem Wohlbefinden.

Die Grundannahme über die Natur des Menschen in VWL und BWL, dass die menschlichen Bedürfnisse unbegrenzt seien, kann getrost in das Reich der Märchen verfrachtet werden. Richard David Precht betont daher:

Wir leben in einer Bedarfserweckungsgesellschaft anstatt einer Bedarfsdeckungsgesellschaft.

Hedonistische Anpassung

Der zentrale Grund, warum eine materialistische Lebenseinstellung, die der Kapitalismus zum Leben und Überleben braucht, mit Frustration, Unzufriedenheit und mangelndem Wohlbefinden einhergeht, ist eine besondere Fähigkeit des Menschen.

Wir haben eine ausgeprägte Anpassungsfähigkeit. Wir glauben, eine heftige Krankheit senke dauerhaft unser Wohlbefinden, aber wir gewöhnen uns an sie. Die sogenannte "hedonistische Anpassung" setzt aber auch bei positiven Dingen ein.

Auch das Traumhaus macht nur vorübergehend glücklich. Die Publizistin Celeste Headlee resümiert den Forschungsstand:

Wenn eine unglaublich glückliche Veränderung in unserem Leben eintritt, entwickeln wir uns nicht als glücklichere Menschen weiter. Stattdessen bringt uns die hedonistische Tretmühle wieder in den Zustand zurück, in dem wir uns vor der Gehaltserhöhung, dem neuen Haus oder dem Gewichtsverlust befanden. Für viele von uns bedeutet das, dass wir nie zufrieden sind.

Nicht empfehlenswert

Wenn der Kapitalismus eine Produktionsweise erfordert, die einen unzufriedenen Menschen benötigt, in seinem Wirken zur Unzufriedenheit führt und gesundheitsschädlich ist, drängt sich die Frage auf, ob vielleicht unser Wirtschaftssystem alles andere als der Natur des Menschen entspricht, sondern schlicht auf die Liste der dringend zu vermeidenden Dinge gehört, wenn uns Gesundheit und Wohlbefinden lieb sind.

Und wenn eine materialistische Lebenseinstellung in jeder Hinsicht keine gute Idee ist: Welche Lebenseinstellung fördert unser Wohlbefinden, stärkt die Gesundheit und verlängert das Leben? Der zweite Teil wird dieser Frage auf den Grund gehen.

Lesetipp: Andreas von Westphalen: Die Wiederentdeckung des Menschen.