zurück zum Artikel

"Keine Minute, in der du nicht auf einem Bildschirm bist"

Der Journalist Christoph Giesen über Smartphones, regionale Corona-Apps und den kommunistischen Kapitalismus in China

Christoph Giesen, Journalist und China-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, ist Surveillance-Studies-Preisträger 2021. Der Preis wird vom Surveillance-Studies-Forschungsnetzwerk [1] vergeben, das Preisgeld von Telepolis gestiftet. Mit seinem Text "Wir können Dich sehen" [2] zur Überwachung in China hat er die Jury überzeugen können.

Nils Zurawski hat mit Christoph Giesen über die Hintergründe des Textes, die Überwachung in China und seine Arbeit als ausländischer Journalist in Peking gesprochen.

Bei dem Interview handelt es sich um eine gekürzte Version des Gespräches, die ausführliche Version können Sie im Podcast Berichte aus Panoptopia [3] nachhören.

Was Sie in Ihrem Artikel schildern, klingt so, als wenn man in China keine Fußfessel am Bein hat, aber dafür eine in der Tasche, in Form eines Smartphones.
Christoph Giesen: Genau. Dazu mal ein Beispiel, was uns passiert ist. Als wir im letzten Jahr unsere Visa verlängert haben, haben wir für unseren älteren Sohn den Pass erneuert, weil das Bild bereits veraltet war und die verbleibende Laufzeit zu kurz war. Kinderpässe werden hier in der Botschaft ausgestellt. Mit dem neuen Pass wollten wir dann ein neues Visum beantragen. Bei der ganzen Familie außer unserem älteren Sohn war das kein Problem.
Bei ihm sagten die Behörden, dass er mit seinem Pass nicht im System sei. Ich entgegnete, das sei kein Problem, ich würde einfach nochmal zur Polizei gehen, ihn erneut anmelden und käme in ein paar Stunden wieder. Ich hatte dann von der Polizei ein Dokument, auf dem geschrieben stand, dass er angemeldet sei. Die Visumsbehörde fand ihn dennoch nicht in ihrem System.
Sie schlugen dann folgende Praxis vor: "Geht in ein Hotel und checkt ein, dann nehmen die euch automatisch in das System." Wenn Ausländer in Hotels einchecken, werden ihre Pässe gescannt, automatisch an die Polizei weitergeleitet und im Polizeicomputer gespeichert. Meine Frau hat das dann tatsächlich versucht, bevor das Visum ablaufen würde.
Im Hotel sagten sie allerdings, dass sie das nicht machen könnten, da der Fünfjährige keine Gesundheitsapp habe. Meine Frau erwiderte, er sei fünf Jahre alt sei und habe eben kein Handy. Das Hotel entgegnete, dass er dann nicht übernachten könnte. Im nächsten Hotel haben sie das Gleiche erzählt und irgendwann ist sie dann wieder zur Visumsbehörde zurück und hat denen gesagt, das sei dann jetzt deren Problem.
Fünfzehn Minuten bevor die Behörde schloss, haben sie eine Ausnahme gemacht. Es war klar deren Fehler, dann aber kommen sie mit so einer unpraktischen Idee, wie mit dem Hotel und erwarten von einem Fünfjährigen eine solche App. Jeder hat nun mal so eine App.
Als Wuhan wieder öffnete, konnte man sich ohne die Apps gar nicht bewegen. Ohne Apps keine Taxis oder U-Bahnen. Meine Peking-App funktionierte in Wuhan aber nicht. Die Apps sind regional organisiert. Und in Wuhan erkannten sie keine ausländischen Pässe in den Apps.
Was dazu geführt hat, dass ich nur mit meiner chinesischen Mitarbeiterin Taxi fahren konnte, U-Bahn ging gar nicht. Nachdem sie vorzeitig abreisen musste, saß ich fünf Tage da und konnte Wuhan nur auf zwei Wegen erkunden: Zum einen mit dem Team vom ZDF, das in meinem Hotel saß, oder mit einem Leihfahrrad, weil ich ja weder U-Bahn noch Taxi nutzen konnte. Und Wuhan ist so groß, dass man da nicht die ganze Zeit laufen kann. Aber ich hatte meine Recherchen abgeschlossen und das mit Humor genommen.
Das System ist da radikal. Für ältere Leute war das besonders hart. Leute, die bis dahin keine Smartphones hatten, brauchten jetzt so ein Ding. Und man musste denen erklären, welche Tasten zu drücken waren, was man wo scannen musste und was zu tun war, um ganz normal mit dem Bus zu fahren.
Da habe ich herzzerreißende Szenen gesehen mit Rentnern, die gerade aus dem Lockdown kamen und plötzlich vom Busfahrer nicht mehr mitgenommen, dafür von ihm angeschnauzt wurden. Da ist über Nacht ein System über das Land gekommen, was mit einer totalen Selbstverständlichkeit umgesetzt wird. Jeder scannt ständig irgendwelche QR-Codes und weiß gar nicht mehr, wofür die eigentlich stehen.

Datenschutz nur bei Konzernen

In Deutschland gäbe es da Protest oder zumindest Kritik an einem so umfassenden System. Ist es für die Chinesen nicht wichtig, dass sie wissen, wofür so ein QR-Code steht?
Christoph Giesen: Nein. Es gibt momentan zwar eine Bewegung für Datenschutz, aber da geht es nur um Firmen und den möglichen Missbrauch der Daten durch andere Firmen. Gerade geht die Regierung gegen Alibaba und solche Internetkonzerne vor, was allerdings eher ein Machtkampf ist, der da stattfinden, denn in diesem Land soll keine Organisation so mächtig werden wie die Kommunistische Partei Chinas.
Und was ihnen gerade aufgeht, ist, dass sie mit den vielen Apps, auch diesen Gesundheitsapps, aber auch aufgrund der universellen Einsetzbarkeit anderer Apps, zum Beispiel von Alipay oder Wechat – dass damit digitale Ökosysteme geschaffen worden sind, deren Besitzer sehr viel Macht über die Chinesen haben.
So kann man über Alipay risikofrei Kredite abschließen. Wirkliche Sicherheiten werden nicht benötigt. Wenn du zu einer Bank gehst und denen sagst, dass du deinen Kredit nicht zurückzahlen kannst, dann bekämst du in Deutschland einen Schufa-Eintrag und dein Leben ginge weiter. Was die beiden Konzerne Alibaba mit Alipay sowie Tencent mit WeChat haben, ist ein Machtinstrument, mit dem sie dich in die soziale Verbannung schicken, in dem sie dich für die jeweiligen Apps sperren.
Wenn du aber bei WeChat raus bist, dann zahlst Du nur noch per Bargeld und die Leute schauen dich komisch an, als seist du aus dem 20. Jahrhundert. Du kannst nicht mehr mit deinen Freunden kommunizieren, du kannst auch nicht mehr in viele Einrichtungen gehen, weil Du diesen Code nicht mehr vorzeigen kannst. Und dieser Code wird gerade ausgebaut, da werden Covid-Tests eingetragen und neuerdings Impfzertifikate. Der Code wird nur dann grün gefärbt, wenn du geimpft bist. Wenn er nicht grün ist, kannst Du weder Bahn fahren noch fliegen.
Ist das bereits mit dem Sozialkreditsystem verbunden?
Christoph Giesen: Nein, ist er nicht, aber das ist jederzeit denkbar. Diese Gesundheits-Apps sind, wie in meinem Text beschrieben, zeitnah nach Wuhan entstanden. Die erste Funktionalität der Apps war, herauszufinden, wer sich in Wuhan nach Ausbruch von Corona wann wo aufgehalten hat. Und das ist ausgebaut worden.
Mit der interessanten Konsequenz, dass es erst mal einen Flickenteppich gegeben hat, denn jede Stadt und Provinz hat ihre eigenen Apps programmiert. In vielen Provinzen funktioniert das nicht, weil du dich als Ausländer nicht registrieren kannst. Da reicht es zu sagen, ich habe die Pekinger App und das wird dann akzeptiert.
Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski sprechen in ihrem 2021 mit dem Surveillace-Studies-Publikationspreis prämierten Text von einer "programmierten Alternativlosigkeit", von elektronischer Weltaneignung und letztlich ist das auch das, was Sie in Ihrem Text beschreiben, oder?
Christoph Giesen: Mein Punkt ist diese totale Überwachung. Es gibt keine Minute, in der du nicht auf irgendeinem Bildschirm bist. Da hängt an jeder Ecke eine Kamera. Wenn ich bei mir aus der Tür rauslaufe, ist auf meine Tür eine Kamera gerichtet, sie können also sehen, wenn ich das Haus verlasse oder ankomme. Unser Wohnkomplex ist komplett überwacht. Es sind 100.000, wenn nicht Millionen Kameras angebracht und ich frage mich, wer das alles auswertet …
Was bedeutet das für Ihre Arbeit, Ihre Kontakte als Journalist?
Christoph Giesen: Wir gehen davon aus, dass ausgewertet wird, mit wem ich mich treffe. Die allererste Frage deshalb ist, wie man es mit der Kontaktanbahnung mit Leuten macht, die man noch nicht kennt. Das ist momentan der schwierige Akt. Wenn man eine Quelle hast, mit der man reden will, schrieb man Nachrichten auf Signal: "Kaffee?" Und dann kommst du erst mit dem Thema. Das ist der Weg, wenn die Leute Dir vertrauen sollen.
Aber dann brauchst du wieder Orte, an denen du dich treffen kannst, wo du sicher sein kannst, dass du nicht gefilmt wirst. Was sich anbietet, sind Situation, wo es laut ist: Partys in Botschaften oder in einem Auto mit getönten Scheiben, in dem laute Musik läuft. Der klassische Spaziergang im Park kann hier aufgenommen und dokumentiert werden, davon muss ich einfach ausgehen.
Die Frage ist vorwiegend die der Kontaktanbahnung, denn viele der Apps funktionieren nicht mehr. Signal ist seit Februar gesperrt. VPN funktioniert, aber dann kannst du nicht mehr neue Nummern registrieren, da Du die SMS zur Bestätigung nicht mehr bekommst. Das gilt auch für Whatsapp. Alles, was eine End-zu-Ende-Verschlüsselung hat, funktioniert nicht mehr.
Es wird viel über Wechat kommunizieren. Aber dann liest der Staat mit. Und bei Wechat musst du höllisch aufpassen, was du selbst postest. Wenn man allzu kritisches Zeug reinschreibt, dann besteht die Chance, dass sie dich sperren und löschen.
Und damit verlierst du deinen Draht zu vielen chinesischen Kontakten oder aber du schließt dich von der Bezahlfunktion oder im schlimmsten Fall auch von der Möglichkeit aus, dass du deine Corona-App laufen lassen kannst. Da gibt es unterschiedliche Abstufen, aber im schlimmsten Fall bist du komplett raus. Und dann ist man einfach sozial isoliert.
Das klingt wie eine Spirale, die sich immer schneller dreht. Ist so etwas umkehrbar oder ist das jenseits eines kritischen Punktes?
Christoph Giesen: Es ist jenseits des kritischen Punktes. Die Chinesen sind der festen Überzeugung, dass sie die Geister, die sie riefen, wieder eingefangen haben. So um die Jahre 2010, 2011 herum gab es eine plötzliche neue Onlinefreiheit, die das Land so nicht kannte
Man sperrte Facebook einfach, Twitter wurde erst gar nicht zugelassen. Die Idee der chinesischen Regierung dahinter war, eigene Klone zu bauen, um notfalls dazwischen gehen und das zensieren zu können.
Und damit haben sie sich um 2010, 2011 wahnsinnig verhoben. Was passierte, war, dass ein Dienst namens Weibo aufkam, ein Mix aus Facebook und Twitter, der hervorragend funktionierte.
Die chinesische Zensur ging nun so vor, dass sie bestimmte Worte suchte, um sie zu zensieren. Die chinesische Sprache ist jedoch wahnsinnig geeignet, um das zu umschiffen. Es werden Homonyme genutzt – ähnlich klingende Worte mit anderen Bedeutungen. So wurden sie letztlich dem Ansturm nicht mehr Herr.
Deutlich wurde das nach dem Unfall eines Schnellzuges auf der Strecke Shanghai-Peking. Da gab es innerhalb von 24 Stunden bis zu 20 Millionen Kommentare und eine herrliche offene Debatte auf Weibo.
Es wurde danach versucht, so etwas sehr drakonisch in den Griff zu bekommen. Eine der Ideen war, jeden User mit mehr als 5.000 Lesern seiner Posts oder Interaktionen als offizielle Publikation einzustufen. Der muss sich dann für Gerüchte verantworten. So haben sie das am Anfang geregelt.
Die zweite Entwicklung war der Erfolg von Wechat, wo Kommunikation nur noch innerhalb von Freundeskreisen stattfindet, und man nur sehen kann, was die Freunde kommentieren.
Diese Zeit des Ausprobierens und der freien Debatte in China, wo vieles möglich war, wurde komplett und erfolgreich zurückgedrängt. Jetzt glauben sie, dass sie die perfekte Zensur gefunden haben. Sie haben aber auch Schwachstellen. Eine davon ist, dass sie viele dieser Internetkonzerne völlig unreguliert groß haben werden lassen, gerade was den Finanzmarkt angeht.
Da waren sie so regelrecht stolz, dass der Westen mit seinen Banken so langsam ist und sie Leapfrogging betrieben, überall digitales Bezahlen hatten und man in einer App gleich noch eine Lebensversicherung und ein Konsumkredit mit abschließen kann.
Niemand hat daran gedacht, was passiert, wenn es zu massiven finanziellen Ausfällen kommt. Das kommt erst so langsam ins Bewusstsein, weshalb sie jetzt ganz gezielt gegen die Marktmacht der großen Konzerne vorgehen – auch weil sie sehen, wie groß Facebook, Apple oder Google im Westen werden und welche Konsequenzen das mit sich bringt.

Machtfrage zwischen Konzernen und KP China

China könnte diese Konzerne doch mit ganz anderen Mitteln zerschlagen als es der Westen kann. Die KP hätte da doch andere Durchgriffsmöglichkeiten!
Christoph Giesen: Sie haben andere Durchgriffsmöglichkeiten, weil bisher der Markt von Alibaba und Tencent fast ausschließlich auf China beschränkt gewesen ist. Die einzige Ausnahme ist Tiktok.
Die neueste Maßnahme ist, dass man bei mehr als einer Million Kundendaten, womit man in China ein Winzling ist, nach den neuesten Plänen der Regierung im Ausland nicht an die Börse gehen darf. Einige Unternehmen wie Alibaba sind in den USA an der Börse, aber das wird gerade massiv zurückgedreht.
Offiziell heißt es, man möchte die Kundendaten chinesischer Nutzer schützen, wobei diese Kundendaten nirgendwo so gut geschützt sind wie außerhalb Chinas. In Wahrheit will man nicht die Kontrolle über diese Konzerne verlieren, weil sie gemerkt haben, welche Macht die am Ende haben. Ob Du in diesem Land ein- oder auschecken kannst, entscheidet momentan nicht die KP Chinas, sondern einer der beiden großen Digitalkonzerne.
Sie hören zwar auf das, was die KP sagt, aber wenn man diese Machtfrage in ein paar Jahren stellt, könnte das womöglich anders sein.
Das sind sehr interessante Einblicke und mehr als Orwell sich hätte ausdenken können. Mir scheint, es ist vordergründig deshalb so effektiv, weil das System so perfekt in eine kunterbunte Konsum- und Lebenswelt eingebettet ist. Ein Überwachungsstaat, der seine Absichten hervorragend verpackt, nicht unbedingt versteckt, und bei dem man gern mitmachen möchte. Dazu haben sie eine Konsumideologie westlicher Prägung kopiert. Das ist Kapitalismus pur, geleitet von einer Kommunistischen Partei. Ist das noch ein kommunistisches Land?
Christoph Giesen: Nein. Der einzige Kommunismus, der hier noch existiert, ist das Design der Kommunistischen Partei, die aufgebaut ist wie eine leninistische Kaderorganisation. Sie organisiert ihre Macht nach dem Vorbild, aber ideologisch ist es unklar, was Xi Jinping denkt.
Um es mal auf eine sehr prägnante Formel zu bringen, dann könnte man am besten bei Donald Trump fündig werden, der sagte: "Make Amerika great again".
Und das ist Xis Plan: ein knallharter Nationalismus. Das hat eine gewisse Logik. Seit Tien‘anmen 1989 gibt es in Peking einen unausgesprochenen Pakt mit der Bevölkerung, der ungefähr so lautet: Ihr sorgt dafür, dass die Wirtschaft brummt und wir halten dafür die Klappe.
Dieser Pakt hat viele Jahre gut funktioniert, so bis 2008 vielleicht. Die Wirtschaft wuchs und das Wachstum war relativ gesund. Seitdem ist das Wachstum völlig aus den Fugen geraten.
China wächst, weil China wachsen muss. Ein Großteil des Wachstums wird durch Infrastrukturprojekte befördert. In den vergangenen Jahren ist China jedes Jahr um sieben Prozent gewachsen, weil sie unter jede Stadt eine U-Bahnlinie gebohrt und dem Land ein Schnellbahnsystem verpasst haben.
Aufkommen dafür müssen die chinesischen Sparer. China hat eine Rekordverschuldung angehäuft, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Das funktioniert aber noch, weil China sehr strikte Kapitalausfuhrkontrollen hat. Das Geld bleibt im Land. Und weil es im Land bleibt, können die Banken es an Staatskonzerne verleihen und die bauen damit irgendwelche Stahlwerke; mit dem Stahl wird die soundsovielte Brücke über den Gelben Fluss gebaut.
Ökonomen sprechen von abnehmenden Grenznutzen. Und die sind längst erreicht. Da werden Projekte und Immobilien in die Höhe gezogen, für die man keine neuen Mieter findet. Die Leerstandsquote in Peking ist gigantisch, die Preise sind trotzdem massiv hoch, weil die Leute keine andere Investitionsmöglichkeit haben als den Immobilienmarkt.
Xi weiß, dass das Wachstum endlich ist und erhält es momentan künstlich am Leben. Deshalb braucht er für seine KP eine zweite Säule der Legitimation, um irgendwie begründen zu können, warum diese Partei noch an der Macht ist, wenn das Land nicht mehr wächst, sondern die Wirtschaft mal eine Delle bekommt. Und die Antwort ist der Nationalismus. Dann heißt es, andere sind schuld, wenn es China schlecht geht.

China sucht neue Absatzmärkte

Ist die Neue Seidenstraße oder das Engagement in Afrika nicht die andere Seite der Medaille, eine neue Art von Kolonialismus?
Christoph Giesen: Ich würde das gar nicht als Kolonialismus auslegen. Die Seidenstraße ist eigentlich ein Exportieren des chinesischen Ansatzes. Eine sehr beeindruckende Zahl zeigt das Dilemma. In den Jahren 2011 und 2012 hat China so viel Zement hergestellt hat, wie die USA im gesamten 20. Jahrhundert. Und die Überkapazitäten bei Stahl und Aluminium sind noch viel gewaltiger. Das muss ja irgendwie verbaut werden.
Das gilt etwa für die Schnellzug-Hersteller. Die stellten in ihrer besten Zeit bis zu 60 Schnellzüge pro Monat her. Das führt dazu, dass du eine riesige Workforce und sehr viel Material rund um die Uhr im Einsatz hast. Aber was macht man, wenn man feststellt, dass man alle Schnellzüge gebaut hat?
Dann braucht man diese Arbeiter nicht mehr oder man braucht einen neuen Markt, den Weltmarkt. Und der Weltmarkt des chinesischen Modells heißt hier Expansion. Wir gehen nach Afrika, nach Zentralamerika, nach Südostasien.
Da wird es dann unsportlich im Wettbewerb mit anderen Konzernen. Wenn du sagst, wir können eine Schnellbahn zwischen Nairobi und Lagos bauen, quer durch Afrika, dann hast Du nicht nur jemanden, der dir eine Schnellbahn verkauft, sondern du hast auch den Staatskonzern, der dir die Gleise legt, der die Arbeiter einfliegen lässt, und auch noch eine Im- und Exportbank, die dir den Kredit dafür besorgt.
Wie will man als europäischer Zughersteller – sei es Bombardier, Siemens oder Allstom – damit konkurrieren? Die haben keine Chance. Das wird als Komplettlösung verkauft und am Ende gibt es die Züge geschenkt obendrauf.
Für die Chinesen ist die Seidenstraße eine riesengroße Verkaufsmesse und ein Verschnaufen beim Umbau der eigenen Wirtschaft. Dahinter steckt die Frage, wie China seine Überkapazitäten abbauen kann, ohne gigantische soziale Probleme auszulösen.
Diese Darstellung zeigt sehr die Vernetzung zwischen allem und warum die Kontrolle gebraucht wird. Damit muss Xi sein Volk für die Idee begeistern und das Volk unter Kontrolle halten. Xi Jinping muss so zum Helden werden, ist das der Plan?
Christoph Giesen: Ja, aber man muss man sich auch die Typen anschauen, die da gerade von Big Data beseelt sind und auch deren Biografien anschauen. Es gibt da den Chefideologen Wang Huning, der ist ganz nah dran an Xi Jinping, schreibt ihm viele Reden, ist in der Parteihierarchie unter den Top 5 zu finden.
Der Mann ist ganz tief im Herzen und immer schon Kommunist gewesen. Der glaubt, dass die Planwirtschaft die richtige Form gewesen ist. Was den Sowjets gefehlt habe, seien vernünftige Daten gewesen, mit denen man das hätte steuern können.
Leute wie er sehen diese kapitalistische Episode als Zwischenstufe hin zu dem, was sie sich ideologisch vorgestellt hatten, indem sie alles bis auf den letzten Zentimeter ausmessen. Dann, so die Logik, wüssten sie, was wie wo und wann benötigt wird.
Der Staat ist in der Wahrnehmung der allermeisten Chinesen immer allmächtig gewesen. Das ist nichts Neues. Kritik hat es in der Form nie gegeben. Kritik am Datenschutz, wie wir sie kennen oder das Misstrauen, dass wir auch gerade in Deutschland dem Staat gegenüber haben, ist weltweit eher die Ausnahme, denn die Regel.
Deutsche haben viel aus dem Scheitern und Pervertieren der Systeme gelernt und wissen, dass so etwas umschlagen kann und man da eine gewisse Grundskepsis haben sollte. In China gibt es noch nicht einmal diese Form der Reflexion.
Sobald das Potenzial besteht, dass sich Protest formieren könnte, hast du den mächtigsten Gegner im Land, die KP Chinas, die zweitgrößte Massenorganisation nach der katholischen Kirche.
Auch, weil sie kraftstrotzend ist…
Christoph Giesen: Kraftstrotzend, aber ohne Humor. Das ist eine ganz interessante Konstruktion. Das zeigt auf der anderen Seite eigentlich wie ängstlich sie sind. Wie unecht das Selbstbewusstsein ist, das sie zur Schau tragen.
Als wenn sie ahnen würden, wie brüchig ist, was sie da veranstalten.
Christoph Giesen: Eines der großen Probleme ist, dass die KP Chinas auf dem Papier die Macht innehält – nur, in Wahrheit Xi Jinping diesen Einparteienstaat längst in einen Einpersonenstaat umgebaut hat oder noch dabei, ihn umzubauen. Seit Mao hatte keiner so viel Macht inne wie er.
Es ist auch inzwischen so, dass viele Debatten innerhalb des Apparats nicht mehr stattfinden, und im Apparat Angst herrscht, Entscheidungen zu treffen, weil niemand genau weiß, was der große Mann gerade denkt oder tut oder will, das man es tut.
Er hat die Regierung praktisch abgemeldet, indem er sehr viel mit Komitees und Arbeitsgruppen arbeitet und diesen Komitees und AGs dann vorsitzt. Die einzige AG, die er anfänglich nicht leitete, sondern seinem Premierminister übergab, war die, die sich mit dem Coronavirus beschäftigen sollte – nach dem Motto: Wenn das hier in die Hose geht, ist der Schuld, nicht ich. Als sich Mitte Februar 2020 abzeichnete, dass sie das hinbekommen, wurde er Chef dieser Gruppe.
Es gibt zwei Erklärungsansätze, warum er diese Macht an sich reißt. Die eine ist, dass er ein Narziss ist, der glaubt, dass er der einzige ist, der das Land retten kann und alle anderen Dilettanten sind, denen man das nicht überlassen kann. Ich glaube aber, diese Erklärung ist zu einfach.
Die andere ist die, dass er eventuell gar keine andere Chance hat, als so viel Macht wie möglich zu akkumulieren, weil er es innerhalb des Systems an bestimmten Stellen schon längst überzogen hat.
So hat die Antikorruptionskampagne, die er am Anfang eingesetzt hat, weil China vor seiner Regierungsübernahme ein sehr offen korruptes Land gewesen ist, dazu geführt, dass er 100.000 Kader in Gefängnisse geschickt hat und Millionen Leute aus der Partei geflogen sind. Da sind etliche drunter, die ihm an liebsten ein Messer in den Rücken rammen würden.
Seine einzige Überlebenschance ist es, nur noch mächtiger zu werden, um sich vor deren Groll und Rache zu schützen. Und das Problem an dieser Sache ist, wie so oft bei den Alleingängen von mächtigen Männern, dass das nicht zu Ende gedacht ist. Das einzige Beispiel, wo eine Machttransformation von einem Diktator zum nächsten erfolgreich geklappt hat, ist Nordkorea, und das kann eigentlich nicht das Vorbild für China sein.
Alles, was komplett abgedreht und auf einen Personenkult zugelaufen ist, welcher mit sehr großer Machtfülle einherging, ist grandios gescheitert. Ich will nicht sagen, dass wir schon an diesem Punkt angelangt sind, aber es gibt die Gefahr, dass wir dahin kommen und dass er an der Spitze Fehler macht und der Apparat ihm zujubelt, aber keiner den Mut hat zu sagen: "Nein, das lassen wir besser, das ist eine dumme Entscheidung."
Dabei laufen wir auf einen offenen Konflikt mit den USA zu. Die Chinesen haben gerade durch die Digitalisierung darauf gehofft, dass sie ihre Firmen globalisiert bekommen, dass sie nicht nur den chinesischen Markt haben, sondern wirklich den Weltmarkt, und gerade bei den Fragen der Standardisierungen wollten sie mitspielen.
Wie schafft man es bei neuen Technologien – 5G oder auch irgendwann 6G –, die anderen Wettbewerber aus dem Markt zu drängen? China will das weniger, um sagen zu können, wir können euch das Licht ausschalten, sondern hier geht es um Fragen der Standardisierung.
Auf welchen Datenautobahnen fließen in Zukunft die Informationen für etwa das autonome Fahren. Gerade was den Autobau angeht, haben die Chinesen kapiert, dass die Zukunft nicht das Biegen von Blech sein wird, sondern die Kontrolle der Software und auf wessen Servern das ganze Zeug laufen wird.
Wenn die Deutschen Stahlkarosserien entwerfen wollen, sollen sie doch. Solange die Batterie und das Computernetzwerk dahinter aus China kommen, machen sie den Goldenen Schnitt bei der Sache.

Möglichkeiten und Grenzen eines Journalisten in China

Ist es Ihr Traumjob, Journalist in Peking zu sein?
Christoph Giesen: Ja, ich kann mich nicht beschweren, dass es mir an Themen mangelt. Es gibt nur ein, zwei frustrierende Sachen an dem Job. Du merkst, dass immer weniger Leute mit dir reden wollen. Du merkst, dass bei Sachen, bei denen deine Kollegen zu Hause zwei Anrufe brauchen, das hier in China bis zu zwei Wochen Arbeit kostest. Es dauert, bis du irgendeinen Gesprächspartner hast, der mit dir redet. Es ist quälend, weil alles hochpolitisch ist und keiner sich äußern möchte.
Und ich merke, dass dieses Land sich stärker verschließt und dass auch die Propaganda, die rund um die Uhr in die chinesischen Ohren träufelt, immer mehr verfängt. Der Umgang mit Ausländern wird unfreundlicher, ja nachgerade xenophob.
Das ist für mich als Journalisten, der ich eine Rolle als teilnehmender Beobachter habe, in Ordnung. Aber wenn man mich fragen würde, ob ich die nächsten 30 Jahre in China bleiben möchte, dann würde ich das verneinen.
Aber es ist interessant und auch ein Geschenk, das beobachten zu können. Ich habe dabei viele Freiheiten durch meine Sonderposition in dem System. Ich kann es beobachten, ich kann es beschreiben und ich kann es völlig offenherzig kritisieren – im Unterschied zu vielen Chinesen, die in einer Welt und einem System leben müssen, dass sehr autokratisch, sehr reguliert, ja teilweise fast langweilig ist.
Die Wunschvorstellung der führenden Kaste von einer Zukunft Chinas wäre deshalb auch so eine Art Singapur: eine riesige Shopping-Mall mit sehr strikten Regeln, in der du, wenn du artig warst, in der Stadt mit der Sonne leben und dein Geld in der Shopping-Mall ausgeben darfst.
Diese geordneten singapurischen Verhältnisse sind ganz schön, wenn man mal eine Auszeit braucht aus dem wuseligen Südostasien, ein geordneter Hub, in dem alles funktioniert und wo du deine Kinder zur Schule schicken kannst. Aber eigentlich ist das nichts, was man anstreben möchte, weil es eine geordnete und uniforme Langeweile ist, aus der niemand ausbrechen soll. Das ist das, was denen hier als Idealbild vorschwebt. Das sind alles geistige Schrebergärtner.
Es ist ein Traumjob in dem Sinne, all das beobachten zu können und das Gefühl zu haben, am Puls der Zeit zu sein, wenn die großen Konfliktlinien zwischen Amerika und China aufbrechen.
Und du hast als China-Korrespondent natürlich einen Vorteil gegenüber einem USA-Korrespondenten: Ich recherchiere hier so, als wäre ich Korrespondent der SZ in München oder Berlin, das heißt, ich suche mir meine Quellen selbst, es ist Material, das vorher noch nicht geschrieben worden ist, es ist mit Aufwand verbunden, es steckt eine gewissen investigative Leistung dahinter.
Wenn ich in Washington sitze, dann betreibe ich sehr viel Nacherzählung dessen, was in dem Land gerade passiert. Ich muss nicht anfangen, als ausländischer Korrespondent in New York oder Washington die großen Skandale Amerikas zu recherchieren – es gibt die New York Times, die Washington Post und das Wall Street Journal. Wenn ich hier die Staatszeitung aufschlage, weiß ich nicht genug, was Xi Jinping gerade denkt.
Das ist das, was mir sehr viel Spaß macht. Geschichten gibt es an jeder Straßenecke in einem Land mit 1,4 Milliarden Menschen und einem so ausgebauten Polizeistaat.
Sie sagen, dass das alles auf Gesetzen basiert, aber was sind denn die Gesetze wert und wie schützen die auch möglicherweise die Menschen?
Christoph Giesen: Wenn wir uns die chinesischen Gesetze angucken, dann würden wir sagen: Gott, sind die schlecht. Und die sind handwerklich wirklich schlecht, weil sie völlig unpräzise sind.
Es sind keine Strafmaße eingeführt, es wird nicht klar umrissen, was genau zu sanktionieren ist, wann und unter welchen Bedingungen. Es wird alles sehr schwammig formuliert, das aber ist kein Fehler, sondern Design. Damit will man ständig den Eindruck bei den Leuten hinterlassen, gegen ein Gesetz verstoßen zu haben.
Mit solchen Gummiparagrafen können sie immer nachweisen, dass etwas doch vom Gesetz abgedeckt sei. Es gibt zum, Beispiel ein völlig irres Anti-Spionage-Gesetz, 2017 verabschiedet, das vorsieht, dass jede Organisation in China und jeder Chinese vom Staat angesprochen, zur Mithilfe verpflichtet werden kann, wenn es um die nationale Sicherheit geht, und er dann darüber schweigen muss.
Das klingt nach so etwas wie einer kodifizierten Willkür.
Christoph Giesen: Ja. Diese Sicherheitsgesetze sind so ab 2015 bis 2017 eingeführt worden. Völlig irres Zeug. Das ist einer der Gründe, warum man Huawei auf keinen Fall ins System lassen sollte. Es geht nicht um die Frage, ob dahinter die KP steht ist oder ob die Daten sicher sind. Allein dieses Counterintelligence-Gesetz lässt Huawei in dem Moment einknicken, in dem die KP an die Tür klopft und sagt: "Eure Businesslizenz oder ihr redet mit uns".
Sie hätten keine andere Wahl. Sie hätten und haben keine Chance. Und man muss sich daher genau überlegen, mit wem man es zu tun hat. Man hat es halt mit einer Organisation zu tun, die das große Interesse hat, sehr, sehr viel zu kontrollieren, weil sie panisch ist, dass ihnen alles um die Ohren fliegt.

URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6321567

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.surveillance-studies.org
[2] https://www.heise.de/tp/features/Wir-koennen-dich-sehen-6147775.html
[3] http://www.panoptopia.de